Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 15

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Erst jetzt, als das Dia groß an der Wand erschien, bemerkte Trautmar, welche Ähnlichkeit die Frau, die von ihr bedient wurde, mit seiner Mutter hatte. Die Brille und die zurückgekämmten strohigen Haare. Er hörte sie sprechen. Im Krankenhaus habe man ihr übel mitgespielt, sie durch ein langes Rohr gejagt. Auf den Gängen standen sie und klatschten, als sie nackt auf allen Vieren aus der Röhre kroch. Wollten ihr die unmöglichsten Krankheiten einreden, keiner habe erkannt, dass es ein Magengeschwür sei. Aber jetzt würde alles anders. Jetzt sei Schluss mit seinen Touren. Er amüsiere sich, und sie bekomme Magengeschwüre.

Seit Tagen nannte sie Trautmar nur noch mit dem Namen ihres Schwagers, der seit Jahren tot war. Als er abends kam, begrüßte sie ihn überschwänglich als ihren Retter. Er nahm ihre Hand, und sie stöhnte:

Oh, ist dat scheun Franz, wenn du miene Hand hölst.

Am nächsten Morgen fragte sie, warum sie denn nicht sterben könne, und weinte ohne Tränen. Kurze Zeit später sprach sie wieder leise, ganz weit entfernt, mit ihrer Schwester Meta und deren Mann, war tief in ihre Vergangenheit versunken, bei Spielfreunden und Schulfreundinnen, rief nach Hans, Georg und Charlotte. Er legte sich neben sie und lebte bis zum hell werden mit in ihrer Kindheit. Mittags griff sie seine Hand, zog sie an sich:

Meta, jetzt ist es zu Ende. Nun sind doch die anderen nicht mehr gekommen. Aber ich wollt es ja auch nicht. Ihr solltet mich anders in Erinnerung behalten. Und jetzt ist es zu spät. Jetzt hab ich abgeschlossen. Nun ist alles in Ordnung.

Sie begann zu singen.

Alles in Ordnung, alles vorbei. Sprach mit ihrem Vater, der vor dreißig Jahren starb, sang: Pa-pa, Papa, Pa-pa, zog seine Hand zu sich, weinte, drückte sie an ihre Wange. Eine Träne für dich Meta, und eine für mich, und denk dran, anonym, hörst du, Meta. Und jetzt tschüß Lisa, tschüß Meta, tschüß Hanna. Sie drehte sich auf die Seite und verstummte, hörte nach längerer Zeit ein Geräusch, erwachte, wollte zur Toilette. Als sie sie von der Pfanne wieder hochheben wollten, weigerte sie sich, schimpfte laut über die Eile, hatte nicht gespürt, dass sie bereits Wasser gelassen hatte. Plötzlich griff sie seine Hand, zog ihn zu sich, entschuldigte sich weinend, was sie doch für eine alte Meckerziege sei, aber sie könne wirklich nicht auf Kommando.

Kurze Zeit später saß sie im Bett:

Jetzt steht mir was bevor. Der Tod ist nur noch so ein kleines Stück entfernt. Sie zeigte es mit Daumen und Zeigefinger, legte sich hin, hob die Hand, als wolle sie winkend verschwinden.

Er weinte. Sie drehte sich um und sagte böse:

Und du lachst noch darüber! Nur Trautmar, der weint mit mir, der einzige, der mit mir weint.

Sie fand keine Ruhe zum Sterben, schlief, bis ihr Mann spät abends erstaunt im Türrahmen stand, mit schwerer Zunge sagte:

Dass ein Mensch, der so lange nichts isst, so lang leben kann.

Sie erwachte, sprach verwirrt mit ihren Schwestern. Ihr Mann widersprach ihr aus Gewohnheit. Mit dem Blick zum Fernseher zählte er seine Krankheiten auf. Jede Nacht müsse er hoch, käme nicht mehr zum Schlafen. Nach fünfundvierzig Jahren verließ er das Ehebett, an das sie sich schon früh als letzten Halt gekettet hatten und mit dem sie immer tiefer in die Kälte fuhren.

Er hörte sie laut reden.

Der erste DDR-Bürger, der ohne Ausreisegenehmigung einen Grenzübergang in Berlin passiert hatte, konnte es kaum fassen. Die Mauer war durchbrochen. Im Laufe des Abends wurde der Schneeball größer. Der Beginn einer Lawine, die alles unter sich begrub.

Sie schaffte es nicht mehr, die Tablette hinunterzuschlucken. Sie klebte an ihrer Zunge. Das Wasser, das sie ihr mit dem Teelöffel zwischen die trocknen, spröden Lippen in ihren zahnlosen Mund flößten, war zu wenig, um die Tablette hinunterzuspülen. Sie redete leise und unverständlich, zuckte und hantierte ohne Unterbrechung mit Händen und Armen. Bei der kleinsten Drehung des Körpers stöhnte sie auf und schrie. Die letzten Reste Morphium zeigten keine Wirkung mehr. Sie rief, fauchte ihn an, dass sie etwas Anständiges essen müsse, pulte sich die Reste der Tablette aus dem Mund und bewarf ihn damit. Schrie dabei vor Schmerz und giftete ihn an:

Und du feixt dir noch eins darüber.

Erst die Spritzen des Notarztes am nächsten Morgen beruhigten sie.

Sie saß nackt auf der Bettkante. Die Gemeindeschwester wusch vorsichtig ihre Arme.

Ist das schön?

Ja, das ist schön, flüsterte sie ihr zu.

Haut und Knochen, der Bauch wie aufgeblasen, klein und welk die Brust. Überall dunkle, wunde Flecken. Die Gemeindeschwester badet ihr die Füße. Ein angenehmer Seifenduft verbreitet sich im Zimmer. Er legt seine Arme unter ihre Achseln, zieht sie vorsichtig hoch. Sie stöhnt auf, vor Angst, er könne sie fallen lassen. Er riecht ihr Haar, atmet tief ein, hält seine Mutter nach vielen Jahren das erste und letzte Mal in seinen Armen, setzt sie vorsichtig wieder aufs Bett. Sie ziehen ihr Unterhemd und Nachthemd an. Im Liegen erhält sie eine neue Windel. Drei Tage später wird sie unter furchtbaren Schreien das letzte Mal gewaschen, nachdem der Körper den nahen Tod mit seiner völligen Entleerung angekündigt hatte.

Zwei Tage vor ihrem Tod war er zurückgefahren, stand abends in seiner Wohnung und fand keine Ruhe, rief seine Schwester an. Es hatte sich nichts verändert. Warum war er nicht geblieben? Er konnte nicht vier Wochen neben ihrem Bett sitzen. Niemand wusste, wie lange es noch dauern würde. Die letzten Jahre hatte er sie zwei oder drei Mal im Jahr besucht, warum jetzt plötzlich dieser Wunsch, bis zu ihrem Tod unbedingt bei ihr sein zu wollen. Sie bis zu ihrem Tod zu begleiten. Die Zeit, die er ihr früher nicht gewidmet hatte, war nicht nachzuholen. Sie wusste wenig von ihm. Seine Trennung von Greta kam völlig überraschend für sie. Zu der Zeit zog er sich noch mehr zurück. Sonntags telefonierten sie aus fünfzehnjähriger Gewohnheit weiterhin miteinander und hielten sich auf Distanz. Sie hielt zu Greta. Mit seiner Hilflosigkeit machte er die Frauen zu intimen Freundinnen, die sich alles anvertrauten. Greta erfuhr das von ihr, was er von seiner Mutter immer wissen wollte, sich aber nie traute zu fragen. War er wirklich ein unerwünschtes Kind gewesen damals? Hatte seine Mutter mit sich gerungen, die Schwangerschaft abzubrechen? Jetzt konnte er nur noch etwas von seinem Vater erfahren. Und von dem wusste er fast gar nichts. Sobald er damals von früher erzählt hatte, unterbrach die Mutter es mit ironischen und spitzen Bemerkungen, bis er sich immer mehr zurückzog und schwieg.

Als das Telefon klingelte, zuckte Trautmar zusammen. Falsch verbunden. Eine Frauenstimme. War sie es? Er stellte sich im Dunkeln in der Küche ans Fenster.

In ihrer Wohnung ging das Licht an und erhellte den Hinterhof. Er sah sie ans Fenster kommen, hielt den Atem an. Sie sah ihm direkt ins Gesicht, ging wieder und schaltete das Licht aus. Er hielt es nicht aus, allein in der Wohnung zu sein. Warum ging er nicht zu ihr? Er könnte klingeln, fragen, ob sie ihm mit etwas Tee aushelfen könne, sie fragen, ob er sie zu einer Tasse Tee einladen dürfe, er brauche ein bisschen Gesellschaft, die letzten Tage seien sehr anstrengend für ihn gewesen, seine Mutter hätte lange im Sterben gelegen und sei erst vor kurzem gestorben. Vielleicht hatte sie auch schon einen Elternteil verloren und würde ihm von ihren Erfahrungen erzählen. Wieder ging das Licht an, und jetzt drückte sie die Nase ans Fenster, sah in den Hinterhof, hinunter zu den Fahrrädern. Vielleicht hatte sie vergessen ihr Rad abzuschließen und würde hinuntergehen. Dort könnte er sie zufällig treffen. Er ging zur Wohnungstür, hörte Schritte im Treppenhaus. Sie poltern die Treppe hoch, Vater und Tochter tragen eine Liege ins Schlafzimmer. Die junge Frau wird das Bestattungsunternehmen weiterführen. Der Mann sieht Trautmars Vater an. Sie kennen sich von früher. Er fragt, deine Frau? Und blickt aufs Bett. Nee, deine Frau hätt ich auch nicht wiedererkannt. Nee, ganz bestimmt nicht. Nebenan eine Sondersendung aus Berlin. An der Mauer wird gefeiert. Noch immer können die Menschen es nicht glauben, dass sie ungehindert von einem Stadtteil in den anderen laufen können. Sie klappen die Liege neben dem Bett auseinander, falten eine weiße Plastikdecke auf. Die Bettdecke wird zur Seite geschlagen. Ein warmer Geruch kommt Trautmar entgegen. Es ist viel zu früh. Es ist doch noch viel zu früh. Die junge Frau nimmt die Beine. Der Alte fasst sie unter die Achseln, versucht den Kopf nicht nach hinten fallen zu lassen. Die Arme schlenkern. Ein letztes Mal ihr Gesicht, verzerrt und fremd. Verlassen. Plastiktuch über Kopf und Beine, links und rechts zugeklappt, darüber die schweren Gummilaken der Trage, alles fest vergurtet. So, dann wollen wir mal. Der Leichenwagen steht vor der Tür. Sie schieben sie hinein, verschließen die Klappe.

Die Nacht verbrachte Trautmar mit ihr. Er war eine halbe Stunde zu spät gekommen, ging in ihr Zimmer. Sie lag auf der Seite, die Augen geschlossen. Mit den Fingern streichelte er ihre Wange, ihren dünnen Hals, setzte sich neben sie, wie so oft in den letzten Wochen. Kurz vor dem letzten Atemzug hatte sie sich erbrochen. Ein rotes Handtuch lag unter ihrem Kinn. Sie atmete noch einige Male, dann war es zu Ende. Sie drückten ihr die Augen zu. Nur kurz saß er an ihrem Bett. Dann kam der Arzt. Hoffentlich bleibt sie noch hier. Der Arzt sagt, sie erledigen ihre Arbeit lieber im Dunkeln. Morgen hätten wir unseren fünfzigsten Hochzeitstag gehabt, schluchzt der Vater. Trautmar spürt einen kalten Schauer. Sie hatte auf seinem Sofa gelegen. Er musste die Tür abschließen. Kurz vorher war er von ihren Hilferufen wach geworden, saß wie erstarrt im Bett. Sie rief ihn, schrie nach dem Nachbarn. Er lief hinunter. Der Vater schlug auf sie ein, beschimpfte sie. Hilf mir Trautmar, flehte sie. Ja, jetzt schreist du um Hilfe, du verdammtes Luder, schrie er mit bebender Stimme, als er seinen Sohn sah. Trautmar stieß ihn zurück, sagte mit tränenerstickter Stimme:

Ich schlag dich zusammen, wenn du sie noch einmal anfasst.

Wenn du wüsstest, was sie getan hat, schluchzte der Vater. Keine Angst, ich mach nichts mehr, keine Angst, Trautmar, geh wieder hoch, geh ins Bett.

Zitternd ging er die Treppe hinauf. Die Mutter lag auf dem Sofa und wimmerte. Schließ ab, schließ schnell ab, der bringt mich sonst um, der bringt mich um, schließ ab, hörst du, schließ schnell ab.

Trautmar fror und weinte, hörte immer wieder seine Stimme, mit der er seinem Vater Schläge angedroht hatte.

Zum letzten Mal standen alle an ihrem Bett. Ein letzter Blick. Der Mund leicht geöffnet. Das halbverschlossene linke Auge blickt ihn trübe an, nachdem der Arzt hineingeleuchtet hat. Die rechte Lippe von der Zunge zu einer Wölbung nach vorn geschoben. Er setzt sich noch einmal zu ihr, steht auf, hat keine Ruhe. Alles geht zu schnell, viel zu schnell. Schon klingelt es an der Tür.

Auf der Fahrt zu ihr der Mond. Lüstern, ein gelber Magnet über schwarzen Tannenkronen mit verstohlenen Gebirgsaugen. In der Ferne die letzten Schreie aus dunkler Haut. Er war zu spät, tastete mit den Fingern über ihre fahlen Wangen. Aber sie war schon fort gegangen aus warmer Haut. Auf dem Fell lag verlassen das Kampfgesicht. Totenträger öffneten im Gleichklang die Verpackung, streiften über die Gummihaut. Ein fremder Körper baumelt starr in ihrem Hemd, verpackt in weißer Plaste, gegurtet zum Transport. Wie lange ist es her? Zu zweit im nahen Wald, bewundern wir Goldhähnchen im Tannengeäst, schweigen beim Anblick strahlend gelber Buchenblätter.

In den Spätnachrichten wieder Bilder von Menschen, die sich in die Arme fallen, in die Mikrofone sprechen: Ik kann es nicht globen. Ik kann es enfach noch nicht globen. Auf der Mauer stehen Jugendliche und schwenken eine große bundesrepublikanische Fahne. Was hat sie denn für ein Leben gehabt? Aber keiner von beiden schaffte es, den ersten Schritt zu tun. Sie richteten sich langsam zugrunde. Einmal mit dem Flugzeug nach Berlin. Das war immer ihr Wunsch gewesen. Jetzt könnten sie es doch tun. Den historischen Augenblick miterleben. Durch die Mauer gehen. Unter den Linden und später ins Café Keese. Sie würde sich die Hand vor den Mund halten, wenn sie durch die Tür ginge und kichernd nach unten blicken. Von einem Tisch am Fenster aus würden sie gleichzeitig die Besucher und die Menschen auf dem Kudamm beobachten. Sie könnte noch zwanzig Jahre leben, reisen, die Tage genießen.

Sie ist doch nicht runtergegangen. Wieder drückt sie ihre Nase ans Fenster. Wartet sie auf seine Bilder?

Ferne Berührung

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