Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 7
ОглавлениеNachdem Trautmar vor einigen Monaten gehört hatte, dass nebenan die gleiche Musik gespielt wurde und sogar im Gleichklang mit der seinen, war er sicher: sie sieht meine Bilder. Seine Hände begannen vor Aufregung zu zittern, als er den Schalter in die Hand nahm, um das nächste Dia folgen zu lassen. Auf Zehenspitzen ging er zur Wand, legte seine feuchtgewordenen Handflächen auf die Tapete und lauschte den Geräuschen von nebenan.
Na mach schon weiter, hörte er leise, schlich zum Projektor zurück und kam ihrer Aufforderung nach. Jetzt bekamen seine Dias einen Sinn.
Er hörte sie morgens aus dem Haus gehen und abends um sieben Uhr heimkehren. Montags hatte sie frei. Von jetzt an hielt er sich an feste Zeiten. Er wollte ihr zeigen, was sie tagsüber nicht sehen konnte. Fotografierte Nachbarn, begleitete sie mit dem Fotoapparat in Geschäfte, zum Markt, auf Ämter und in den Park, sogar zu manchem Arbeitsplatz. Die wöchentlichen Lebensläufe schickte er samstags zum Fotolabor, um sie ihr in der nächsten Woche zeigen zu können. Eröffnet wurde jeder Abend mit der Aufnahme eines Gemäldes, das ihn auf die Idee gebracht hatte, die Dias auf die gegenüberliegende Hauswand zu projizieren. Ein Mann steht vor einer weißen gekachelten Fläche, vielleicht Überbleibsel einer Küche an der hohen, braunen Wand des Nachbarhauses. Wenn er lange auf die helle Fläche sah, wurde aus ihr ein weißes, tiefes Loch.
Drei Wochen war er fort gewesen, hatte bei seiner Schwester gewohnt, um am Totenbett seiner Mutter wachen zu können. Bevor er fuhr, war er der Nachbarin eine Woche lang morgens heimlich gefolgt. Ein paar Tage, nachdem sie sich im Schwimmbad unerwartet gegenübergestanden hatten. Er wollte ihren Arbeitsplatz kennenlernen. Er lieh sich Geld, kaufte ein neues Objektiv für den Fotoapparat, mit dem er näher herankam. Fotografierte durchs Schaufenster, folgte ihrer Chefin und ihren Kolleginnen. Auch die Gesichter der Nachbarn konnte er jetzt ungestörter fotografieren und die Linse in Ruhe einstellen. Er kannte ihre Gewohnheiten, ihre Wege, musste nur ein wenig Geduld aufbringen, um ihnen immer näher zu kommen. Heute Morgen hatte er sich einen neuen Projektor gekauft.
Noch zwei Dias, dann kam das erste Foto von dem Haus und der Straße, wo er aufgewachsen war. Er stand auf und drehte die Musik lauter.
Luft! Luft! / Mir erstickt das Herz! /
Öffne! Öffne dort weit!
Frisch weht der Wind der Heimat zu.
Was mag sie für eine Frau sein? In den ersten Wochen nach seinem Einzug hatte er sich abends oft in die dunkle Küche ans Fenster gesetzt, um sie im Spiegel der gegenüberliegenden Fensterscheiben zu beobachten. Einmal stand sie lange am Fenster und blickte in die Dunkelheit. Er wagte sich kaum zu bewegen. Warum lebt sie allein? Hat sie sich auch vor kurzer Zeit getrennt? Ende dreißig mag sie sein. Auch sie hat ein volles Gesicht. Sie trug ihre Haare sehr kurz. Im Schwimmbad hatte er gesehen, dass sie kastanienbraun gefärbt waren. Greta hatte er jahrelang überreden müssen, die Haare nicht abzuschneiden. Als er ihr sagte, dass er nicht mehr mit ihr zusammenleben könne, ging sie am nächsten Tag zum Friseur. Es machte ihn wütend. Sie stritten sich. Er sah sie nicht an mit ihren kurzen Haaren. Warum sie es nicht eher getan hätte, wenn es für sie schon immer so wichtig gewesen sei. Sie grinste gequält, drehte sich um, damit er sie nicht weinen sah. Ihre Schultern zuckten. Er entdeckte das erste Mal ihren langen Hals, fühlte sich davon angezogen, fasste sie an die Schultern. Sie drehte sich, umarmte ihn, drückte sich fest an seinen Körper.
Hast du alles vergessen, was gewesen ist, was wir zusammen erlebt haben. Soll ich dir Briefe zeigen, die du mir noch vor einem halben Jahr geschrieben hast. Dass du dir wünschst, immer bei mir zu sein. Hat diese Frau dich völlig kalt werden lassen. Ich weiß, man kann sich verlieben. Aber deshalb kannst du doch nicht innerhalb von zwei Wochen alles aufgeben. Die hat dich um den Verstand gebracht, und wenn du frei bist, grabscht sie sich den Nächsten. Komm zur Vernunft! Ich verlange ja nicht, dass du sie nicht mehr siehst, aber geh doch nicht weg, mach nicht alles kaputt zwischen uns.
Er roch ihre frisch geschnittenen Haare, streichelte ihren Hals, drückte ihren Kopf an sich, um die aufsteigenden, langsam größer werdenden Wellen der Erschütterung aufzuhalten. Sie ermunterte ihn, es zuzulassen. Mit ihren Worten brach sein Widerstand. Sie trocknete ihm die Tränen. Er drehte den Kopf zur Seite, wollte nicht gesehen werden, legte die Hand über Augen und Stirn, ohne dem Beben seines Körpers Einhalt gebieten zu können. Eine unheimliche Leere und Müdigkeit herrschte in seinem Körper. So musste ein Abschied für immer sein, eine tiefe Ruhe, Lösung aller Bindungen, befreites Einschlafen. Er begann zu reden, leise, ohne Anteilnahme, als berichte er von Gefühlen und Gedanken einer dritten Person. Den ersten Sätzen folgten zwangsläufig andere, die er vor längerer Zeit gedacht und aufgeschrieben, aber nie ausgesprochen hatte. Tagträume, in denen er sich ihren Tod gewünscht hatte, spazierten leicht über seine Zunge. Sie hatten ihn damals erschrocken. Ihr Tod schien ihm gleichgültig gewesen zu sein. Seine Gedanken wandten sich sofort einem möglichen anderen Leben zu. Wünsche wurden verwirklicht, der Beruf aufgegeben und eine lange Reise ohne festen Rückreisetermin geplant. Greta sah ihn liebevoll an, wusste, dass seine völlige Offenheit eine letzte Chance für sie bedeutete. Machte ihm Mut, weiter zu sprechen und gestand ihm, schon Ähnliches gedacht zu haben. Als er vor Müdigkeit nicht mehr weiterreden konnte, streichelte sie ihn aus dem drohenden Schlaf und zog ihn über sich.
Seine Hände waren feucht wie am ersten Abend. Er hatte alles für sie festgehalten, wollte ihr seine Kindheit erzählen. Vielleicht bekommt er demnächst auch heraus, wo sie aufgewachsen ist.
Er könnte ihr schreiben, dass er ein paar Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, als die Menschen sich friedlichere Zeiten wünschten, ein Dach über den Kopf, einen Arbeitsplatz und genug zu essen. Überall war der Krieg noch sichtbar, die Kriegsverletzungen nicht verheilt. Aus Russland kamen die letzten Kriegsgefangenen und wurden auf den Bahnhöfen stürmisch begrüßt. Am Heldengedenktag, wie viele den Volkstrauertag immer noch nannten, spielte der Schützenverein einen Trauermarsch vor dem gerade errichteten Kriegerdenkmal, in das die Namen der Schützenbrüder in ein Steinkreuz gemeißelt worden waren. Es ging bergauf. Die ersten Zeichen des später gepriesenen Wirtschaftswunders waren zu spüren. Die Vertriebenen aus den Ostgebieten Deutschlands erhielten billige Kredite, schlossen sich zu Siedlergemeinschaften zusammen und bauten gemeinsam ihre Häuser. Auf dem Siedlerfest wurde gefeiert und gelacht.
In der Siedlung, in der er aufgewachsen war, fuhr kaum jemand ein Auto, die Straßen wurden erst Jahre später geteert. Die Kinder spielten Völkerball auf der Straße, zogen Linien für das Spielfeld mit den Hacken in den staubigen Boden, gruben Löcher für das Murmel- und Kibbel-Kabbel Spiel. Wenn es regnete, standen sie um die festgefahrenen Lastwagen herum, die auf einen Traktor warteten, der sie zur nächsten Baustelle zog.
Er drückte auf den Knopf. Da saß sie im Sessel. Nicht der typisch abwehrende Blick wie sonst, wenn er sie fotografiert hatte. Sie versuchte, ein wenig zu lächeln.
Früher wollte ich immer schlank sein, sagte sie und blickte prüfend auf das Foto. Aber doch nicht so. Mein Gott, wie seh ich aus.
Einige Monate später war sie kaum noch zu erkennen.
Hat der Arme endlich bisschen Geld, muss er sterben. Sie schlurfte sehr langsam am Bett vorbei, hielt sich an den Griffen der Schranktür fest. Sie lehnte seine Hilfe ab, sie auf dem Weg zur Toilette zu stützen.
Ich komm schon allein hin.
Sie winselte, schrill wie ein Hund, als sie zur Seite kippte. Er setzte sie aufs Klo und ging hinaus. Durch die Tür sah er, wie sie sich aufs Waschbecken stützte und weinte.
Ich hab so einen Schreck bekommen.
Der Rock hielt nicht mehr, rutschte hinunter vom geschwollenen Leib. Er half ihr ins Wohnzimmer. Sie saß in ihrem Sessel. Er hatte ihr Kaffee hingestellt, einen Aschenbecher, Zigaretten und die dünnrandige Brille dazugelegt. Die andere zum Lesen brauchte sie schon lange nicht mehr. Sie griff sehr vorsichtig nach der Tasse, führte sie langsam zum Mund und stöhnte beim Trinken. Er gab ihr Feuer. Sie sog an der Zigarette, stieß den Rauch aus und suchte den Aschenbecher. Den Kopf in den Nacken gelegt, schloss sie die Augen.
Ich möchte endlich eine Antwort haben, stieß sie hervor und blickte ihn plötzlich mit weitaufgerissenen Augen an. Wo habt ihr mich hingebracht?
Als er ihr antwortete, sie sei zu Hause, weinte sie heftig und schrie: Nein, nein, nein! Auch du steckst mit ihnen unter einer Decke. Ich dachte immer, ich sei verrückt, aber jetzt weiß ich, dass ihr es seid. Wo habt ihr mich bloß hingebracht?
Sie versuchte aufzustehen. Er griff ihre Hand, zog sie hoch.
Nie hev ick dacht, das staven so schwor is. Schworer als alles andere.
Er deckte sie zu. Sie stöhnte, als sie sich auf die Seite drehte.
Kannst du mir nicht sagen, welche Krankheit ich habe? Wie heißt die denn noch? Ich komm einfach nicht auf den Namen. Nicht Krebs. Das war ja vor zwei Jahren. Das ist doch alles vorbei. Wie heißt denn bloß diese Krankheit. Auch der Arzt weiß es nicht. Meinst du, dass man so leben kann. Immer nur liegen und dösen?
Das weißt du besser als ich, antwortete er.
Bring mir einen Schnaps! Schnaps ist Medizin.
Das war früher bei uns auch so. Sie schüttelte sich. Zog die Bettdecke übers Gesicht, rülpste und würgte, suchte nach dem Handtuch.
Wenn ich morgen früh aufwachen würde und wär wieder gesund. Das wär schön.
Ja, das wär wirklich sehr schön.
Das nächste Bild zeigte den Garten, den Apfelbaum, auf dem er die ersten Kletterversuche gemacht hatte. Der Garten war damals voller Gemüse. Buchenhecken grenzten die Grundstücke voneinander ab, kleine Holztüren führten zu den Nachbarn, aber nicht überall, einige ließen die Hecken schon hochwachsen. Im Herbst lasen die Frauen auf den abgeernteten Feldern Kartoffeln nach, die vom Bauern übersehen worden waren. Die Kleider der Kinder rochen nach Qualm, ihre rotglühenden Gesichter waren verrußt vom Kartoffelfeuer, ihre Zähne blitzten, wenn sie in die heißen Kartoffeln bissen.
Die Männer fuhren mit dem Fahrrad oder dem Bus frühmorgens zur Fabrik in die nahegelegene Stadt, die Frauen versorgten die Kinder, den Haushalt und den Garten, trafen sich hin und wieder nachmittags zum Kaffeeklatsch, saßen zusammen, unterhielten sich, sprachen leiser, wenn sie vom Krieg und von der Flucht erzählten, damit die in der Nähe spielenden Kinder es nicht hören konnten. Er schnappte das Wort vergewaltigt auf, sah die Tränen in den Augen der Nachbarin, die sich einige Jahre später an einem Sonntagmorgen im Keller erhängte und von ihrem Sohn gefunden wurde, der Jahre zuvor bereits seine Großmutter so entdeckt hatte. Er sah die entsetzten Gesichter der Frauen und bekam Angst. Wenn die Männer abends mit einer Flasche Bier zusammensaßen und vom Krieg erzählten, wurde laut gesprochen und viel gelacht. Jeder wusste etwas Lustiges aus seiner Militärzeit zu erzählen.
Er hatte eine schöne Kindheit gehabt, es gab mittags nichts Besonderes, aber immer genug zu essen, er spielte mit den Nachbarkindern im nahegelegenen Wald und in den Feldern, half im Garten, wenn er Lust dazu hatte, war Cowboy und Indianer, zündete im Frühling das vertrocknete Gras am Feldrand an, spielte stundenlang Fußball, lief im Winter Schlittschuh auf einem nahegelegenen Teich und rodelte auf dem kleinen Hang neben der Bahnlinie. Er baute mit Freunden Baumhöhlen und später in Schonungen Verstecke, in denen sie sich nachmittags heimlich mit den Mädchen aus der Schule trafen. Sie rauchten Zigaretten, spielten auf Baustellen, Jungen und Mädchen lagen in den noch nicht überdachten Schlafzimmern, kamen mit hochroten Köpfen zum Abendessen nach Hause. Sie streiften mit Pfeil und Bogen durch die Felder, um Hasen und Kaninchen zu jagen, trafen sich in der Abenddämmerung an der Straßenecke, spielten Verstecken, später flirteten sie mit den Mädchen. In der nahegelegenen Kiesgrube zeigten sich die Jungen ihre ersten Schamhaare, schlossen Wetten ab, wem es schon kommen würde und mogelten dabei. Sie gingen auf Partys, tranken heimlich Bier und Schnaps wie die Erwachsenen, freuten sich, wenn sie kaum noch auf den Beinen stehen konnten, tanzten nach den Rhythmen der Beatles und Stones.
Kam er betrunken nach Hause, versuchte er sich die Treppe hochzuschleichen. Mit großer Angst hatte sie auf ihn gewartet, trommelte mit der Faust auf seinem Rücken, rief ihm nach: Werd bloß nicht wie dein Vater.
Er begleitete den Arzt die Treppe hinunter und setzte sich dann wieder zu ihr.
Du guckst so komisch. Hat er was gesagt?
Er schüttelte den Kopf.
Na ja, dann ist es wohl Schluss-Aus-Vorbei! Und denk dran, keine Trauerfeier, nur im engsten Familienkreis. Kein großes Gelage. Und falls Beileidsbriefe kommen, schickt Danksagungen. Die Papiere sind im Nachtschrank, auch das Sparkassenbuch. Viel ist nicht drauf. Reicht aber, um mich unter die Erde zu bringen.
Er machte ihr ein Brot und kochte Tee, stellte alles ans Bett. Sie trank einen Schluck, aß zwei Häppchen, bekam Schluckauf und musste würgen. Er half ihr zur Toilette.
Jetzt geh raus! Sie spuckte ins Waschbecken. Rock und Schlüpfer waren wieder hinuntergeruscht.
Er zog alles hoch, reichte ihr die Hand. Im Bett erbrach sie dicken Schleim ins Handtuch.
Geh raus, du sollst nicht alles mitbekommen.
Er gab ihr ein neues Handtuch. Der Schleim hing ihr in einem langen Faden aus dem Mund. Er wischte Hände und Mund mit dem Waschlappen ab. Im Sommer hatte sie immer im Schatten auf der Treppe vor der Tür gesessen. Mit der weißen Emailleschüssel auf dem Schoß schälte sie Kartoffeln, Wurzeln oder schnitt Bohnen, reichte ihm eine gelbe Möhre, deren süßen pickeligen Innenstengel er freinagte, um ihn zum Schluss wie eine Zuckerstange langsam und genüsslich zu zerkauen. Eine Ameisenkarawane zog aus den Ritzen der Gartenplatten in Richtung des Schuppens, an dessen weißer Mauer sich große blaue Klematisblüten sonnten.
Als er in die Schule kam, gehörte die Bundesrepublik bereits ein Jahr der NATO an, die DDR trat dem Warschauer Pakt bei, die Teilung Deutschlands war endgültig besiegelt. Über Politik wurde wenig gesprochen. Nachbarn schickten Päckchen in die Ostzone, erzählten, nachdem sie Verwandte besucht hatten, dass die Lebensmittel drüben knapp seien und lange Schlangen vor den Geschäften stünden. Als die Mauer in Berlin gebaut wurde, waren seine Eltern und die Nachbarn entsetzt, erzählten von den Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens in letzter Minute aus den Fenstern in die Freiheit gesprungen seien. Die Kommunisten würden aus dem Osten ein Gefängnis machen, sagten sie, die Russen warten nur darauf, dass sie ganz Deutschland in ihre Gewalt bekämen. Der Besuch des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy löste überall Erleichterung aus. Das Attentat auf ihn wurde mit Entsetzen aufgenommen. Die Berichte im Fernseher, den sie seit der Olympiade besaßen, verfolgte die ganze Familie bis in die späten Abendstunden.
An den Geschichtsunterricht in der Schule konnte er sich schon während seiner Lehrzeit nicht mehr erinnern, außer an eine Stunde kurz nach dem Tod des amerikanischen Präsidenten. Der Lehrer schwärmte von Kennedy, erzählte den Schülern von der Kuba- Krise, in der er eiserne Nerven behalten hätte und die Russen klein beigeben mussten. Er bekam einen Schreck, als der Lehrer sagte, ein dritter Weltkrieg wäre noch nie so nahe gewesen. Und seine Mutter sagte, mal bloß den Teufel nicht an die Wand.
Sie war im Badezimmer und kreischte kurz auf.
Kann ich dir helfen?
Die Tür ist verschlossen.
Was willst du mir helfen, fragt sie verächtlich. Koch Kaffee, herrscht sie ihn an. Splitternackt mit einem Handtuch um den Hals, schlurft sie aus dem Bad. Ach, du bist das, sagt sie erstaunt und geht zurück.
Er gibt ihr Unterhemd, Schlüpfer und ein neues Nachthemd. Sie schleppt sich ins Schlafzimmer. Der erste Blick auf ihren nackten Körper. Die ausgezehrte rechte Brust. Auf der linken eine lange Narbe bis unter die Achsel. Beine wie Bambusstöcke. Der geschwollene Bauch zieht die schlaffen Pobacken auseinander zu einem langen Krater. Ein handtellergroßer blauer Fleck an der Hüfte.
Wenn einer fragt, sagt meine hilfsbereite Familie, meine Mutter ist gefallen. Von wegen gefallen! Wer es glaubt wird selig! Warum machen sie das bloß. Kannst du mir das sagen? Ich mag schon nicht mehr aufstehn. Schon haben sie es wieder so gemacht, dass ich hinknalle. Sie schluchzt laut. Sind denn alle Menschen Bestien? Als sie es zu weit getrieben hatten, bekamen sie Skrupel, da haben sie bei meinem Sohn in Amerika angerufen. Dem mussten sie alles erzählen. Jetzt wird er mit ihnen reden. Bestimmt sechs Wochen haben sie mich hier eingesperrt. Die Alte ist ja so dumm, die merkt gar nicht, wenn sie nicht zu Hause ist. Du bist verwirrt, sagen sie, das war schon mal so, das geht wieder weg. Bald erkennst du wieder, dass du zu Hause bist. Ich soll bekloppt sein. Stellen mich als Verrückte hin. Aber ich weiß, was hier vorgeht. Alle stecken unter einer Decke. Papiere, Geld, alles haben sie mir genommen. Mit zwei Tabletten auf der flachen Hand kommen sie immer an. Nur zwei Tabletten, obwohl sie genau wissen, dass ich viel mehr brauche. Sonst krieg ich keinen Schlaf. Seit Tagen jede Nacht wach. Und wie dünn ich bin. Die geben mir seit Wochen nichts zu essen. Jetzt wo du aus Amerika gekommen bist, spielt er wieder den fürsorglichen Ehemann. Zwei Gesichter hat der Schweinehund. Wie die es bloß geschafft haben, die ganze Wohnung zu verrücken. Was du bloß hast, sagen sie. Ich habs aufgegeben. Antworte nicht mehr.
Vom Wohnzimmer aus hört er Hilferufe. Er rennt in ihr Schlafzimmer. Dort steht sie am offenen Fenster.
Trautmar geht zum Kühlschrank, holt sich eine Flasche Bier, drückt mit beiden Daumen gegen die Verschlussbügel. Mit einem dumpfen Plop öffnet sich die Flasche. Erst dann gab er sie früher seinem Vater. Er drückt auf den Knopf der Fernbedienung. Aus der Straße tritt ein Busch hervor, gelegen an einem schmalen Weg, dahinter ein Feld mit Gerste. Am Horizont ein Hügel mit ein paar alten Eichen. Dort standen die Rehe. Er lag mit dem Rücken im Gras, verborgen in einer kleinen Mulde zwischen Kornfeld und Dornbusch. Wolken verschmolzen und zogen auseinander. Er schloss die Augen, schwamm im rosanen Meer, wurde noch leichter beim Gesang der Feldlerche, schwebte davon und wachte erst wieder auf, als die Kühle des Abends das Gras feucht werden ließ. Er dachte an die vergangene Nacht, als seine Eltern laut gestritten hatten. Aufrecht saß er im Bett, seine Zähne schlugen aufeinander.
Er stand auf, nahm sein Fahrrad und fuhr zur nahegelegenen Fabrik, sah, wie seine Mutter sich von den Kolleginnen verabschiedete. Sie winkte und lachte, als sie ihn erkannte. Sie gingen die Straße hoch, warteten vor den Bahnschranken, bis ein Güterzug mit geschälten Baumstämmen und neuen Autos an ihnen vorbeigerollt war. Er zählte zweiundvierzig Waggons. Auch danach blieb die Schranke geschlossen. Er sah seine Mutter mit der Nachbarin auf die Schienen laufen. Kurz nach dem Krieg hatten sie in Einkaufstaschen Kohlen von einem vor dem Haltesignal stehenden Zug geklaut. Eine Rangierlok fuhr vorbei. Sie durchquerten die kleine Siedlung. Auf der Leine im Garten hingen die Arbeitsklamotten seines Vaters. Blaue Hose und kariertes Flanellhemd, daneben die großen Taschentücher mit gelben Schmutzflecken, die sich auch in der Kochwäsche nicht entfernen ließen. Der Schmutz der Gummifabrik setzte sich in den Nasenlöchern der Akkordarbeiter fest und bereitete ihnen Atembeschwerden. Ein leises Pfeifen durch die Nase, das Trautmar besonders beim Essen aggressiv machte. Er schlang hastig den Rest hinunter, um schnell verschwinden zu können.
Sie gingen ins Haus. Seine Mutter kochte Kaffee, schenkte sich einen besonders starken Schluck ein, bevor sie weiter Wasser in den Filter goss. Stöhnte genüsslich: Jetzt bekomm ich wieder Leben in die Knochen. Der Duft nach Kaffee und frischem Brot verbreitete sich in der Küche. Er fing an zu erzählen, machte Witze und lachte, als seine Mutter staunend sein fünftes Marmeladenbrot registrierte: Deinen Appetit möchte ich haben. Sie steckte sich eine Zigarette an. Den ersten Zug blies sie zur Decke. Die Abendsonne schien ins Fenster, rötete die Wand und ließ den Rauch in der Küche tanzen. Seine Schwester, die in Hamburg arbeitete, ging am Fenster vorbei. Abends schlief er erst ein, als er sicher war, dass es im Schlafzimmer seiner Eltern ruhig bleiben würde.