Читать книгу Ferne Berührung - Volker Dittrich - Страница 8

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Aus dem Kornfeld tauchte ein flaches, rotes Backsteingebäude auf, mit einem asphaltierten Hof davor. Ähnlich ihrer Grundschule. Wie alt mochte er sein? Etwas jünger als sie. Wie wird er früher ausgesehen haben, ohne Bart? Seine braunen Augen ähneln denen ihres Bruders. Hinter dem Schulgebäude stehen Reihenhäuser wie sie damals hinter ihrer Schule auch gebaut wurden.

Eine schwere, große Eingangstür aus Holz, im Flur wahrscheinlich gebohnerte Fliesen, an den Wänden Laubsägebilder mit Märchenmotiven und Schattenrisse. Sie stellte sich ihn in abgewetzten Lederhosen vor, die er auftrug. Ich bin in einem ähnlichen Gebäude zur Schule gegangen, könnte sie ihm sagen, wenn sie ihn auf dem Flur treffen würde. Vielleicht wird er sie fragen, warum sie auf dem Flur herumstehen. Kommen Sie doch herein, wir können eine Tasse Kaffee zusammen trinken. Sie lachen über die Streiche, die sie ihren Lehrern gespielt haben. Er erzählt, dass er immer mit einem Mitschüler die Musikinstrumente holen musste, das Tamburin und die Geige des Lehrers, die sie vor der Tür verstimmten. Und wenn er sie unters Kinn legte und über die Seiten strich, die Geige furchtbar quietschte, zog er die Nase kraus, so dass sich seine Nickelbrille hoch über die Augen hob. Und wenn die Schüler nicht aufhörten zu lachen, weil sie wussten, dass er sich nicht gegen sie wehren konnte, schlug er verzweifelt den Geigenstock auf das Pult, und als er einmal zerbrach, traten ihm die Tränen in die Augen und er lief hinaus. Mucksmäuschenstill warteten sie auf den Schulleiter, der nach zehn Minuten in die Klasse kam. Er schrie nicht, schimpfte nicht, schrieb, ohne ein Wort zu sagen, Rechenaufgaben an die Tafel, sagte, schon die Türklinke in der Hand, leise und ruhig: Ihr habt es geschafft, er muss zum Arzt gehen. Und zu den beiden Jungen: Wir sprechen uns noch. Ich werde eure Eltern benachrichtigen. Sie würde ihm von ihrer Kochlehrerin erzählen, mit der sie auf den Feldwegen junge Brennessel pflückte und daraus Spinat kochte. Es war eine dünne, große Frau, die ihre grauen Haare zu einem dünnen Zopf geflochten hatte. Und wenn sie nah an sie herantrat, roch Marleen ihren Kräuteratem. Sie könnte ihn nach dem Kaffee für abends zum Essen einladen, chinesisch kochen, wie sie es vor kurzem gelernt hatte. An der Seite standen ein paar Spielgeräte. Die feuchte, glänzende Fläche schimmerte rötlich. Ein schrilles Klingeln beendete ihr Hüpfspiel. Sie stellten sich zu zweit auf dem Schulhof auf. Rechts vor der Wand kauerte der hellblonde Junge aus ihrer Klasse. Das Gesicht blutverschmiert. Die Kinder schrien durcheinander. Zwei Mädchen zogen den Lehrer am Jackettärmel, zeigten zur Wand. Der Lehrer legte die Finger auf die Lippen. Marleen stand mit ihrer Freundin Hand in Hand in der letzten Reihe. Es war der Junge aus dem Spritzenhäuschen, den einige Kinder wieder wegen seiner Kleidung geärgert hatten. Heute war es eine viel zu große Trainingshose mit einer Kordel um die Taille, damit sie ihm nicht von der Hüfte rutschte. Mit hochrotem Kopf, einen großen Feldstein wurfbereit in der rechten Hand, lief er mit weinend kreischender Stimme hinter drei Jungen her und schrie:

Ich bring euch alle um, ihr gemeinen Schweine!

Er rannte durch die Hüpfkästchen und stieß Marleen zur Seite.

Du Blödmann, rief sie ihm hinterher. Stritt sich danach mit den anderen Mädchen, ob sie noch einmal von vorn beginnen dürfe. Als sie ins Zielkästchen hüpfte, sah sie, wie die drei Jungen plötzlich hinten in der Ecke stehenblieben und er auf sie zuraste. Schnell bildete sich ein Kreis um sie.

Als die freiwillige Feuerwehr ihr neues Haus bekam und ein großes, modernes Löschfahrzeug, stand das Spritzenhäuschen leer. Zwei Bedienstete der Gemeinde hatten der Familie alle Sachen auf einen Anhänger geladen, sie mit dem Traktor zu dem Häuschen gefahren und alles vor der großen Tür abgestellt. Er war der älteste von fünf Kindern.

Der Alte hat alles durchgebracht, sagte Marleens Mutter abends zum Vater. Da siehst du, wo es hinführt. Jetzt sitzt die arme Frau da mit den vielen Kindern. Ohne Heizung in diesem feuchten Loch. Muss noch putzen gehen, weil den Säufer keiner mehr nimmt.

Das Blut tropfte aus seiner Nase. Sie sah den Lehrer fragend an. Er schob sie und ihre Freundin ins Gebäude, folgte ihnen und schloss die Schultür. Die Tafel war eine feuchte, glänzende Fläche. Das Blut floss auf den Schulhof, verwandelte sich in einen roten, flirrenden See, in dem der Junge versank. Die Oberfläche verkrustete sich und bildete eine holprige Kraterlandschaft. Die Kinder stürmten mit kleinen Spitzhacken hinaus, schlugen die Pickel in den dunklen Schorf, brachen kleine Stücke heraus, schlitterten johlend auf der freigelegten glatten, wunden Fläche. Sie zuckte zusammen, als der Lehrer sich von hinten über sie beugte und fragte, warum sie nicht mit der Rechenaufgabe beginnen würde. Seine langen, sehnigen Hände lagen auf ihren Schultern. Sie spürte, wie sich der weiche Flaum auf ihrer Haut aufrichtete und ein Eispickel an ihrem Rückgrat heraufkratzte, ihre Kopfhaut sich zusammenzog.

Er verblutet, presste sie hervor.

Aber der Lehrer hatte sich schon dem nächsten Schüler zugewandt. In seinen Mundwinkeln hingen winzige, weiße Punkte, wie immer nach langen Vorträgen. Sie blickte auf den leeren Platz des Jungen ihr gegenüber. Einmal hatte er drei Tage hintereinander keine Hausaufgaben gemacht. Die Sommersprossen des Lehrers verschwanden in seinem sich schnell rötendem Gesicht. Die Adern an den Schläfen traten hervor. Unter den hageren Backenknochen kündigte der zuckende Muskel das Unheil an. Mit gedämpfter Stimme stieß er hervor:

Komm doch einmal nach vorne.

Der Junge blieb wie erstarrt mit weit aufgerissenen Augen sitzen.

Du sollst nach vorne kommen, zischte der Lehrer.

Nein, nein, nein, flüsterte er mit gesenktem Kopf.

Der Lehrer zerrte ihn am Arm. Der Junge hielt sich an der Bank fest. Der Tisch schleifte mit durch den Raum. Ihr Magen brannte wie Feuer. Der Lehrer riss den Jungen los, legte ihn mit dem Bauch über das Pult, drückte seinen Oberkörper mit der linken Hand nach unten, ließ sich von einem Schüler den Bambus-Zeigestock von der Tafel bringen, hieb drauflos und schrie:

Jetzt – wirst – du – dir – schon – ü – ber – le – gen

Mit jeder Silbe schlug er immer wilder auf die schwarze Turnhose ein, unter der der Junge eine braune Strumpfhose trug. Ihr Mund war wie ausgetrocknet.

– ob – Du – dem – nächst –

Das Gewinsel des Jungen drückte ihr auf die Blase. Der Bambusstock zersplitterte an der Spitze.

– kei – ne – Schul – ar – bei – ten –

Sie spürte, wie ihre Hose feucht wurde. Kalte Tropfen rannen ihren Arm hinunter. Zu den weißen Punkten in den Mundwinkeln des Lehrers war ein dritter auf der Lippe hinzugekommen, der mit jeder Silbe, die er hinausschrie, zu einem langen sämigen Faden wurde.

– mehr – ma – chen – wirst.

Erschöpft blickte die Fratze des Lehrers in den Klassenraum.

Setz dich, sagte er leise und harkte sich mit den Fingern die zur Seite gefallenen Haare nach hinten. Setz dich endlich.

Zwei Mädchen rückten den Tisch wieder an die richtige Stelle. Der Junge schlurfte laut schluchzend zu seinem Platz, legte seine Gesicht auf den Tisch in seine Arme. Sein Körper zuckte gleichmäßig.

Sie wagte nicht zu fragen, ob sie austreten dürfe und roch den Urin zwischen ihren zusammengepressten Beinen.

Marleen ging zur Toilette. Als sie zurückkam, sah sie eine ältere Frau an der Wand. Die grauen, vollen, nach hinten gekämmten Haare bläulich gefärbt und zum Nacken hin zu einem Dutt geflochten. So könnte ihre Chefin in zwanzig Jahren aussehen. Heute Nacht hatte sie wieder von ihr geträumt und war schweißgebadet aufgewacht. Sie errötete, als das Traumbild vor ihr auftauchte. Völlig nackt hatte sie vor ihrem Bett gestanden und so gelächelt wie sie immer lächelte, wenn sie ihr etwas Unangenehmes mitteilen wollte. Ihr Körper war füllig, ihre Haut straff. Sie stieg aufs Bett, ging breitbeinig bis über Marleens Bauch, setzte sich mit ihrem dicken Hintern auf ihre Oberschenkel, grinste breit und flüsterte:

Marleen, Marleen, ich bin da. Hast du schon lange gewartet? Marleen erstarrte. Die schwere Frau beugte sich über sie, zog ihr das Nachthemd bis zu den Schultern hoch. Marleen sah ihren eigenen Körper hinunter bis zu dem wulstige Ring um die Hüfte der Chefin, der Marleens Schamhaare bedeckte. Die Chefin stützte die Hände dicht neben Marleens Schultern auf und ihre großen Brüste hingen über dem Gesicht ihrer Angestellten. Die presste sich ins Kopfkissen, kniff die Pobacken zusammen, schrie lautlos. Blickte plötzlich in das Gesicht ihrer Mutter und spürte wie sie fiel, immer tiefer, ohne anzukommen. So wurde sie wach, knipste das Licht an und wusste, dass sie nicht mehr an ihren Arbeitsplatz zurückkehren würde. Sie spürte ihre Wirbelsäule. Schlief wieder ein. Jetzt saß die Chefin auf ihrem Rücken, wippte auf und ab, dass Marleen fürchtete zu zerbrechen.

Deinen Rücken bekommen wir schon wieder hin, schrie die Chefin. Du brauchst nicht mehr zur Kur. Du weißt, wie wir dich vermissen.

Im Hintergrund hörte Marleen ihre Kollegin schreien:

Die braucht einen Mann, der macht ihr den Rücken schon grade. Ihr wiehernd erstickendes Lachen kam näher und näher. An ihrer Seite stand der Kunde, der immer am ersten Samstag des Monats kam. Er leckte sich über seinen kurzgeschnittenen Schnäuzer. Die Chefin knetete ihr die Schulterblätter, drückte sie zusammen. Es schmerzte bis zu den Knien. Die Starre wich wieder dem Fall und abermals erwachte Marleen. Das Licht brannte noch.

Ich geh nicht mehr hin. Nie wieder. Die machen mich kaputt, murmelte sie. Sechsundzwanzig Jahre. Völlig kaputt. Für so wenig Geld. Sie saugen mich aus. Alle saugen mich aus. Ich gebe, sie nehmen. Rotzen sich aus. Ich erstick in ihrer wöchentlichen Scheiße. Berge von stinkendem jahrelangem Müll. Ich ekel mich, sie zu berühren. Wer bin ich denn? Was kann ich denn? Haare schneiden. Das ganze Leben lang Haare schneiden. Aber da bekommt mich niemand mehr hin.

Ferne Berührung

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