Читать книгу Einführung in die Lexikologie - Volker Harm - Страница 20
3.2.2 Die Ableitung
ОглавлениеDie Zusammenfügung zweier oder mehrerer lexikalischer Stämme bildet die eine wichtige Art der Wortbildung. Sie ist gerade für das Deutsche kennzeichnend, im Gegensatz etwa zum Französischen oder Italienischen, die sich bei der Schaffung komplexer Ausdrücke eher syntaktischer Mittel bedienen (vgl. dt. Geschäftsmann vs. frz. homme d’affaires, ital. uomo d’affari). Die andere wichtige Art der Wortbildung ist die Ableitung (häufig auch ‚Derivation‘ genannt). Bei der Ableitung wird ein neues Wort mit Hilfe von grammatischen Morphemen (schön > unschön, Fleisch > fleischlich, fleischlos) oder mittels einer Änderung der Basis gebildet (trinken > Trunk, werfen > Wurf), wobei das zuletzt genannte Muster nicht mehr produktiv ist. Auch Fälle, in denen nur die Wortart wechselt, ohne dass dies besonders gekennzeichnet wird, werden von manchen Sprachwissenschaftlern zur Ableitung gerechnet. Ableitungen mit Hilfe eines segmentierbaren grammatischen Morphems nennt man explizite Ableitungen. Hier gibt es:
explizite Ableitungen
– Präfigierungen wie in missverstehen, unschön, erblühen, belabern; die Präfigierung dient meistens der semantischen Modifikation der Basis. Diese kann u.a. negiert werden (miss-, un-), es kann eine Differenzierung im Ereignisablauf (erblühen) oder auch ein anderes syntaktisches Verhalten ausgedrückt werden (transitives belabern gegenüber intransitivem labern).
– Suffigierungen wie in Arbeiter, Freundschaft, tragbar, blödeln, sinnlos; die Suffigierung ist mit einem Wechsel der Inhaltskategorie verbunden: ‚Handlung‘ (arbeiten) > ‚handelnde Person‘ (Arbeiter), ‚Individuum‘ (Freund) > Abstraktum (Freundschaft). Daher geht sie häufig mit einem Wechsel der Wortart einher. Es gibt aber auch Suffixableitungen, die innerhalb derselben Wortart verbleiben und eine semantische Modifikation der Basis enthalten: blau > bläulich.
– Zirkumfigierungen wie in Absicht > be-absicht-igen, Aufsicht > be-aufsicht-igen, laufen > Ge-lauf-e.
implizite Ableitung
Die implizite Ableitung wird ohne segmentierbares grammatisches Morphem gebildet und beinhaltet stets einen Wechsel der Wortart. Man unterscheidet
– Ablautbildungen: springen > Sprung, binden > Band, werfen > Wurf, beißen > Biss (hierbei handelt es sich um ein heute unproduktives Muster),
– Konversionen: treffen > Treff, Lärm > lärmen, weit > weiten, Feind > feind,
– Transpositionen: treffen > das Treffen, hoch > das Hoch, auf und ab > das Auf und Ab.
zwischen Ableitung und Komposition
Es gibt einige umstrittene, aber auch sehr interessante Wortbildungstypen, die im Übergangsbereich zwischen Komposition und Ableitung anzusiedeln sind. Es handelt sich dabei um die Zusammenbildung, die Affixoidbildung sowie das Partikelverb:
– Die Zusammenbildung umfasst Fälle wie Machthaber, Dickhäuter, blauäugig oder linkshändig. Im Unterschied zu den Determinativkomposita liegt hier eine Fügung vor, deren Letztglied kein Wort darstellt, das auch außerhalb der Bildung vorkommt (∗Haber, ∗Häuter, ∗äugig, ∗händig). Daher kann es sich auch nicht um die Letztglieder eines Kompositums handeln. Eher ist von einer Art Ableitung auszugehen, in den genannten Fällen mit den Suffixen -er und -ig. Grundlage der Ableitung ist indes nicht, wie sonst üblich, ein Wort, sondern eine Gruppe von Wörtern, die in Sätzen häufig gemeinsam vorkommen und somit ein Syntagma bilden: Macht haben, blaue Augen usw. Zusammenbildungen treten allerdings nicht nur mit Suffixen auf. Teilweise kann auch eine lexikalische Basis die Zusammenbildung der Wortgruppe bewirken: Zahnputzglas, Minenräumboot, Mehrkornbrot.
– Als Affixoide werden Erstglieder wie Riesen-, Bomben- oder sau- bzw. Letztglieder wie -werk bezeichnet, wenn sie reihenhaft vorkommen und nur eine relativ abstrakte Bedeutung tragen. So drückt Riesen-in Riesenspaß, -sauerei, -gewinn, -ärger lediglich eine Steigerung, ein hohes Maß aus; es hat nichts mehr mit dem Riesen aus dem Märchen zu tun. Das Element -werk in Astwerk, Buschwerk, Flechtwerk bedeutet lediglich ‚eine große Menge‘ und ist mit -werk in Autowerk oder Bühnenwerk nicht vergleichbar (zur Forschungsdiskussion s. Fleischer/Barz 2012: 59–64).
– Die Partikelverben umfassen Bildungen mit einem trennbaren Erstglied: aufblühen – sie blüht auf, anreichen – er reicht an. Neben den präpositionalen Partikeln kommen auch Substantive (teilnehmen, hohnsprechen) und Adjektive (schönreden, krankschreiben) als trennbare Elemente vor. Die präpositionalen Partikelverben leisten semantisch teilweise etwas Ähnliches wie Präfixableitungen (vgl. aufblühen und erblühen). Das Muster kann aber auch als spezielle Ausprägung der Determinativkomposition beschrieben werden, in diesem Fall mit einem verbalen Kopf: aufblühen wäre dann als ‚eine Art zu blühen‘ zu deuten, ähnlich wie Haustür ‚eine Art Tür‘ ist.