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2.2 Das Wort im Spannungsfeld zwischen Alltagsbegriff und wissenschaftlichem Terminus
Оглавление‚Wort‘ als Alltagsbegriff
Ein denkbarer Ausweg aus dieser Aporie läge in der Entwicklung eines Wortbegriffs, der sich konsequent von dem Alltagskonzept lossagt. ‚Wort‘ – oder welchen terminologischen Ersatz auch immer man dann wählt – wäre dann eine bloße Setzung, ein wissenschaftlicher Kunstbegriff. Dieser Weg wird allerdings, soweit zu sehen ist, von keinem Lexikologen konsequent beschritten, und dies mit Recht: Immerhin gibt es ein gesellschaftliches Interesse an Wörtern, und zwar ein deutlich größeres als an Lauten, Morphemen oder Sätzen. Über Wörter, Fremdwörter, ‚Unwörter‘ lässt sich privat und öffentlich trefflich streiten: Ist ein Anglizismus wie Laptop, chillen oder abturnen schädlich für das Deutsche und deshalb durch Klapprechner, entspannen, ernüchtern oder ähnliche Bildungen zu ersetzen? Wie stelle ich mich als Sprecher dar, wenn ich statt aktiv das Wort proaktiv benutze? Darf ich noch Zigeunerschnitzel sagen? Inwiefern enthalten Ausdrücke wie Rentnerschwemme, Herdprämie oder einen Arbeitnehmer freisetzen (für ‚entlassen‘) möglicherweise eine Diskriminierung der Betroffenen?
Nicht nur in Diskussionen über angemessenen Sprachgebrauch, auch im alltäglichen Leben sind Wörter omnipräsent: Man muss ‚Vokabeln pauken‘, wenn man eine Fremdsprache erlernen will, man weiß oft nicht, wie ein Wort geschrieben wird oder was es bedeutet, und schlägt es im Wörterbuch nach, man kann auch nach einem treffenden Wort suchen oder sogar unter Wortfindungsstörungen leiden. Wenn die Lexikologie sich einen Wortbegriff zurechtlegt, der gegenüber der alltäglichen Relevanz von Wörtern und dem gesellschaftlichen Interesse an Wörtern blind wäre, riskiert sie zum einen, dass sie dann auch nicht mehr von Sprechern nach Dingen befragt werden kann, die diese interessieren. Eine Wissenschaft aber, die keine Fragen beantworten kann oder will, manövriert sich ins Abseits. Zum anderen würde die Lexikologie auch auf einen überaus interessanten Forschungsgegenstand verzichten; denn wie Sprecher Wortgebrauch reflektieren und diskutieren, ist mindestens ebenso der Untersuchung wert wie die Beschreibung sprachlicher Einheiten von einem vermeintlich objektiven wissenschaftlichen Standpunkt aus.
‚Wort‘ als Konzept mit unscharfen Rändern
Daher sollte noch ein anderer Ausweg aus dieser Aporie vorstellbar sein: Aus dem Scheitern der Definitionsversuche kann auch der Schluss gezogen werden, dass es schlichtweg keinen trennscharfen Wortbegriff gibt, sondern dass ‚Wort‘ als Konzept mit unscharfen Rändern aufzufassen ist. Dies hatte im Grunde bereits Bloomfield erkannt, der zugab: „[m]any forms lie on the border-line between bound forms and words, or between words and phrases; it is impossible to make a rigid distinction“ (Bloomfield 1933: 181). Starke Indizien dafür, dass es sich beim Wort um eine Kategorie mit unscharfen Rändern („fuzzy category“, vgl. Lakoff 1987: 454; Taylor 1995: 72) handelt, ergeben sich auch aus dem oben vorgestellten Kriterienkatalog: Die Tests geben zwar keine klare Antwort auf die Frage, ob zu oder der Wörter sind, aber im Hinblick auf Einheiten wie schlafen, gut oder Geist fallen die Ergebnisse wesentlich besser aus. Die zuletzt genannten Einheiten dürften damit als prototypische, zentrale Vertreter der Kategorie ‚Wort‘ aufzufassen sein, während Präpositionen und Artikelwörter eher an der Peripherie der Kategorie anzusiedeln wären. Wenn man als Lexikologe grundsätzlich akzeptiert, dass es sich beim Wort um eine Kategorie mit unscharfen Rändern handelt, ist man auch wieder ganz nah an dem Alltagskonzept ‚Wort‘, denn Alltagskonzepte sind ja im Unterschied zu wissenschaftlichen Begriffen nicht exakt nach notwendigen und hinreichenden Definitionsmerkmalen bestimmt, sondern als Kategorien mit prototypischen und weniger prototypischen Eigenschaften bzw. Vertretern aufzufassen (Taylor 1995: 68–74, s. auch Kap. 4.5.3).
Dass mit dem Fehlen, ja der Unmöglichkeit einer rigiden Definition des lexikologischen Grundbegriffes ‚Wort‘ nicht gleich die gesamte Disziplin Lexikologie ins Wanken gerät, zeigt nicht zuletzt auch ein Blick auf andere Teilfächer der Sprachwissenschaft: Es dürfte ähnlich schwer sein, die Größen ‚Satz‘ oder ‚Text‘ definitorisch zu fassen, und trotzdem wird sowohl Syntax als auch Textlinguistik mit Erfolg betrieben. Für die Lexikologie sollte uns dies zuversichtlich stimmen.