Читать книгу Einführung in die Lexikologie - Volker Harm - Страница 7
2. Das Wort als Gegenstand der Lexikologie 2.1 Was ist ein Wort?
ОглавлениеTestverfahren und ihre Probleme
Wenn das Wort der zentrale Gegenstand der Lexikologie ist, kommt man um eine Klärung der Frage, was unter ‚Wort‘ denn eigentlich zu verstehen sei, nicht herum. Schlägt man in einem Wörterbuch des Deutschen nach, so erhält man unter dem Eintrag Wort dahingehend Aufschluss, dass es sich um eine irgendwie abgrenzbare Einheit handelt, die etwas bedeutet – ein Wort ist eine „selbständige sprachliche Einheit mit einem bestimmten Bedeutungsgehalt“ (WDG 6, 4391). Damit ist annähernd beschrieben, was ein durchschnittlicher Sprecher des Deutschen wohl unter einem Wort versteht. Für eine wissenschaftliche Definition reicht das natürlich nicht aus. Hier wäre zu klären, was genau „selbständige Einheit“ meint und was genau unter „Bedeutungsgehalt“ zu verstehen ist, und beides erweist sich, wie im Weiteren zu zeigen sein wird, als überaus schwierig.
das Schriftbild
Was die Selbstständigkeit der Einheit Wort angeht, ihre Abgrenzbarkeit von anderen gleichartigen Einheiten, so ist für das Alltagsverständnis vor allem das Schriftbild maßgeblich: Wörter sind von anderen Wörtern durch Spatien abgegrenzt. Dass orthographische Worttrennungsregeln indes keine Grundlage für einen linguistischen Wortbegriff bieten, liegt auf der Hand. Die Orthographie besteht aus Vorschriften, wie etwas nach Auffassung einer Institution (etwa eines Kultusministeriums) oder einer Autorität (etwa einer Akademie) geschrieben werden soll. Sprachliche Vorschriften sagen aber nichts darüber aus, wie die Sprache selbst beschaffen ist. Da Normen im Prinzip bloße Setzungen sind, können sie sich auch leicht verändern: Vor der Rechtschreibreform von 1996 wurden Verben wie leerstehen und vollmachen, aber auch radfahren im Infinitiv zusammengeschrieben, seit Inkrafttreten der Reform hat man hingegen leer stehen, voll machen und Rad fahren zu schreiben. Ginge es allein nach der Orthographie, müsste man daher absurderweise annehmen, dass leerstehen bis 1996 als ein Wort zu betrachten sei, während danach zwei Wörter vorlägen. Überdies sind orthographische Regeln alles andere als einheitlich und widerspruchsfrei: So wäre der Infinitivmarker zu im Fall von zu laufen eine eigenständige, im Fall von wegzulaufen aber eine unselbständige Einheit, das Partikelverb aufstehen wäre im Infinitiv bzw. Nebensatz ein Wort, im Hauptsatz lägen dagegen zwei Wörter vor (Sie steht auf vs. weil sie aufsteht).
Distributionstests
Die Identifikation einer abgrenzbaren Einheit ‚Wort‘ muss also auf andere Weise erfolgen als mit Hilfe der Spatiensetzung. Bei der Suche nach einer tragfähigen Begriffsbestimmung hat die Sprachwissenschaft ihr Heil vorwiegend in Testverfahren gesucht, die in irgendeiner Weise auf die Stellung sprachlicher Einheiten in einer Äußerungskette, auf deren sog. Distribution abzielen. In diese Richtung geht auch die berühmte und einflussreiche Definition, die Leonard Bloomfield aufgestellt hat: „a word is a minimum free form“ (1933: 178). Bloomfield hatte mit dieser Definition Wörter als die kleinsten Formen zu bestimmen versucht, die selbständig als Satz vorkommen können. So kann man sich im Sinne dieser Definition einzelne Wörter als elliptische Sätze vorstellen, die auf hypothetische Fragen antworten oder sich anderweitig auf einen vorangehenden Satz beziehen:
Wörter als elliptische Sätze
(1) | a. Was fehlt ihm? – Geist. b. Was hat sie die ganze Zeit gemacht? – Geschlafen. c. Wer war es? – Er. d. Ich habe gestern meine Prüfung geschafft. – Und? |
Für eine ganze Reihe von Wörtern mag dieses Kriterium zu dem erwarteten Ergebnis führen, und insofern trifft diese Definition sicher einen wesentlichen Punkt der zu bestimmenden Größe ‚Wort‘. Allerdings gibt es auch Einheiten, die man intuitiv zwar als Wörter klassifizieren würde, die aber kaum in elliptischen Sätzen vorkommen können. So sind Fragen, die ein, auf, oder in als Antwort ergeben, kaum konstruierbar. Probleme bereiten hier letztlich aber auch geläufige Substantive wie Haus oder Auto, die in der Regel nur mit Artikel (ein/das Haus) als Antworten auf denkbare Fragen auftreten können:
(2) | Was hast Du gesehen? – Ein Haus/das Haus/∗Haus |
fehlende Unter-brechbarkeit
Die Forschung hat diese Wortdefinition daher um weitere distributionelle Kriterien zu ergänzen versucht. So wird auch die fehlende Unterbrechbarkeit der Äußerungskette als wichtiges Kriterium für den Wortstatus einer sprachlichen Einheit angesehen. Ein Wort wäre demzufolge eine Einheit, in die keine andere Einheit eingefügt werden kann, vgl. die Wörter Haus oder Prüfung gegenüber einem nichtexistenten ∗Hau-flur-s oder ∗Prüf-bestehung.
So einleuchtend es auf der einen Seite ist, dass Wörter nicht unterbrochen werden können, stellen sich doch auch hier Fragen: In er fängt gleich an oder anzufangen können die Partikel an und das Verb fangen durch ein anderes Wort unterbrochen werden; folglich wäre anfangen/fängt an kein Wort. Außerdem kann bei Komposita – auch diese würden wir ja als Wörter klassifizieren wollen – zumindest in einzelnen Fällen durchaus ein Einschub gemacht werden (Hausschlüssel – Haustürschlüssel).
Festigkeit der Konstituentenfolge
Als weitere distributionelle Eigenschaft, mit deren Hilfe man ‚Wort‘ zu bestimmen sucht, gilt die Festigkeit der Konstituentenfolge bei komplexen Bildungen. Die Abfolge der Elemente in Silbermedaillengewinnerin oder Männlichkeitswahn ist festgelegt (∗Silber-gewinnerin-medaillen, ∗Männlich-wahn-keit), während eine Folge wie zu Abend essen umstellbar ist (aß zu Abend/zu Abend aß). Im ersten Fall handelt es sich daher jeweils um ein Wort, im zweiten nicht. Dass aber auch dieses Kriterium nicht ganz leicht zu handhaben ist, zeigt sich an Komposita wie Arztkinder vs. Kinderarzt, Märchenerzähler vs. Erzählermärchen, die dann streng genommen keine Wörter wären. Auch die Folge zu Abend ist festlegt (∗Abend zu), weshalb dieses Kriterium hier die etwas problematische Vorhersage macht, dass zu Abend ein Wort sei.
Umstellbarkeit im Satz
Gewissermaßen das Gegenstück zum Kriterium der internen Festigkeit ist die externe Beweglichkeit, die Umstellbarkeit im Satz: Das Nomen Männlichkeitswahn duldet keine internen Umstellungen, ist aber als Ganzes im Satz frei bewegbar und insofern als ein Wort zu betrachten. Aber auch hier bereiten Komposita des Typs Kinderarzt/Arztkinder Schwierigkeiten. Spielverderber‘ sind ferner Elemente wie zu, sehr oder der/ein, deren Beweglichkeit durch syntaktische Regeln stark eingeschränkt ist, wie die Beispiele in (3) zeigen.
(3) | a. nach Hause zu gehen vs. ∗zu nach Hause gehen, b. sehr schön vs. ∗ schön sehr, c. ein armer Vater vs. ∗ armer Vater ein. |
Ersatzprobe
Während die beiden zuletzt angesprochenen Tests sich auf die Abfolge sprachlicher Einheiten in der Äußerungskette beziehen – die sog. syntagmatische Achse –, liegt mit der Ersatzprobe ein Testverfahren vor, das der paradigmatischen Achse zuzuordnen ist. Als Wort wäre demnach diejenige Einheit zu klassifizieren, die durch andere gleichwertige Einheiten substituiert werden kann, ohne dass eine sinnlose Äußerung entsteht:
(4) | Ein armer/glücklicher/zufriedener/gestresster… Vater |
Die Ersatzprobe hat allerdings den großen Nachteil, dass sie sich nicht nur auf Wörter, sondern genau so gut auch auf die Bestandteile von Wörtern anwenden lässt. So sind auch die Erstglieder in Bildungen wie bestehen/entstehen/erstehen/verstehen untereinander austauschbar, obwohl es sich bei be-, ent- usw. eindeutig nicht um Wörter handelt. Die Ersatzprobe ist als Test somit in gewisser Weise zu ‚stark‘.
Wörter als Sinneinheiten
Insgesamt ergibt die Anwendung der vorgestellten Distributionstests keine vollständig zufriedenstellende Antwort auf die Frage, welche Einheiten innerhalb der Äußerungskette als Wörter voneinander abgegrenzt werden können. Dass es sich bei Wörtern um isolierbare, selbständige Einheiten innerhalb der Rede handelt, ist jedoch nur ein Aspekt des eingangs erwähnten Alltagskonzepts ‚Wort‘. Ein anderer Aspekt betrifft die Inhaltsseite: Wörter sind immer auch Sinneinheiten, ein Wort wird immer dazu genutzt, jemandem etwas über die Welt mitzuteilen. Man könnte demnach Wörter als die kleinsten in der Rede abgrenzbaren Sinneinheiten definieren (so etwa Reichmann 1976: 9: „ein Wort ist die kleinste signifikative (…) Einheit der Sprache“). Was eine Sinneinheit darstellt, ist jedoch schwer dingfest zu machen: Haus stellt zwar ohne Zweifel eine Sinneinheit dar, was ist aber mit das Haus und zu Hause? Ist nicht auch eine aus mehreren Wörtern bestehende Verbindung wie Weißes Haus als Sinneinheit zu verstehen, da sie doch auf genau einen Referenten bzw. genau eine Klasse von Referenten verweist? Auch von einem Idiom wie ins Gras beißen ‚sterben‘ lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass es eine Sinneinheit darstellt, die nicht weiter in jeweils kleinere Sinneinheiten auflösbar ist. Eine besondere Schwierigkeit besteht hier aber auch darin, dass gar nicht klar ist, ob nicht eher Sätze als Wörter die kleinsten Sinneinheiten der Sprache darstellen. So hatte Bühler (1934: 359; zitiert nach Bauer 2000: 249) mit der Feststellung „Sätze sind die (kleinsten selbständigen) Einheiten der Rede“ sicher nicht Unrecht. Immerhin kommunizieren wir – unbeschadet der etwas gesuchten Beispiele in (1) – in der Regel nicht mittels abgehackter Einzelwörter, sondern in Sätzen.
Es zeigt sich somit in aller Deutlichkeit, dass von der Inhaltsseite her ebenso wenig eine klare Definition des Wortes erreicht werden kann wie von einer ausdrucksseitigen Distributionsanalyse. Ein wissenschaftlicher Wortbegriff, der sich mit unserem Alltagskonzept Wort einigermaßen zur Deckung bringen ließe, scheint – so muss unser erstes Fazit lauten – ein Ding der Unmöglichkeit zu sein. Dies ist misslich, nicht zuletzt auch im Hinblick auf den in Kap. 6 näher zu bestimmenden Begriff des Wortschatzes. Denn schließlich setzt der Begriff des Wortschatzes als der Gesamtheit der einzelnen Wörter den Begriff des Wortes voraus. Ist der Lexikologie als der sprachwissenschaftlichen Disziplin, die sich mit dem Wort und dem Wortschatz befasst, damit schon der zentrale Gegenstand abhanden gekommen, den sie eigentlich zu untersuchen hätte?