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1.1.2 Das Zeigen

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Auf den ersten Blick scheint »zeigen« ein einfacher, schlichter Ausdruck zu sein, geradezu selbstverständlich. Diese vermeintliche Selbstverständlichkeit rührt daher, dass das Zeigen unseren Alltag auf vielfältige Weise durchzieht, ein erster Hinweis darauf, dass ihm für Kultur und Gesellschaft eine ebenso grundlegende wie vielfach verdeckte Bedeutung zukommt: An einer Kreuzung erscheint eine rote Figur in der Ampel, und wir bleiben stehen. Wir sehen Wahlplakate, und denken uns unseren Teil über den Kandidaten und seine Partei. An der Litfaßsäule sehen wir die Ankündigung eines Konzertes, das unser Interesse erregt, und am Abend gehen wir dorthin. Nach einem Einkauf führen wir stolz die schicke Jacke vor, die wir erworben haben. Wir gehen in ein Museum und werden über die Geschichte des Kieler Hafens belehrt. Bei der Anfertigung eines Referats verwenden wir natürlich »power-point«, und später im Seminarvortrag lenken wir die Aufmerksamkeit des Publikums mit dem Laserpointer auf besonders wichtige Teile der projizierten Graphik. Im Laborpraktikum kommt unter dem Mikroskop plötzlich etwas zum Vorschein, was vorher mit bloßem Auge nicht zu erkennen war. Wir kandidieren für ein Amt im AStA und werden aufgefordert, uns vorzustellen. Wir haben in der Statistikübung eine Regressionsgleichung nicht verstanden und bitten eine Kommilitonin, uns den Zusammenhang genauer zu erklären, so dass auch wir es verstehen und selbst damit weiterarbeiten können. Und wenn beim Segeln im Sturm das eigene Wort nicht mehr zu vernehmen ist, reicht ein Handzeichen, um zu wissen, was zu tun ist.

Die Reihe solcher Beispiele ließe sich leicht fortsetzen. Schaut man sie sich genauer an, dann sieht man, dass das »Zeigen«, so selbstverständlich es uns auch erscheinen mag, so selbstverständlich offenbar nicht ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das »Zeigen« in verschiedenen Wissenschaftsgebieten verstärkt theoretische Aufmerksamkeit gefunden und empirische Forschungen stimuliert hat. »Zeigen« gilt – gerade in jüngster Zeit unter der Formel »iconic« oder »visual turn« – nicht nur in Evolutionstheorie, Anthropologie und Entwicklungspsychologie, sondern auch in den Bildwissenschaften, in Philosophie und vor allem in der Phänomenologie als ein überaus bedeutsames Thema. Die Erziehungswissenschaft befindet sich also durchaus in guter Gesellschaft. Auf dieses weit verzweigte diskursive Netz von Theorien und Befunden kann an dieser Stelle nicht genauer eingegangen werden.3 Hier interessiert zunächst nur die Frage, durch welche gemeinsamen Merkmale sich das »Zeigen« näher bestimmen lässt. Wie die Beispiele deutlich machen, deckt der Ausdruck eine ganze Palette von Verhaltensweisen oder Phänomenen, und er wird offensichtlich in sehr verschiedenen Situationen verwendet. Was ist das Gemeinsame, gibt es einen strukturellen Kern des Zeigens?

Zunächst sieht man, dass das »Zeigen« eine Tätigkeit ist, ein Handeln, ein aktiver Vollzug. Wer zeigt, tut etwas. Dieses Handeln ist auf eine prinzipielle, man kann sogar sagen: auf eine buchstäblich radikale Weise sozial: Jemand zeigt jemandem etwas. Es werden also, anders gesagt, Personen durch Orientierung auf eine Sache miteinander verbunden oder zu verbinden versucht. Damit kommen zunächst drei konstitutive Elemente zum Vorschein: ein »Zeiger«, ein Adressat und ein Sachverhalt. Im Sinne der Logik ist »zeigen« demnach ein »mehrstelliges Prädikat«. Denn es enthält sowohl einen Verweis auf Sachverhalte oder Themen (auf nichts lässt sich nicht zeigen) als auch, damit unmittelbar verbunden oder gleichsam verschmolzen, einen Verweis auf Personen. Die Beispiele verdeutlichen zudem, dass das »Zeigen« auf verschiedene Weisen geschehen kann. Es findet sich ohne oder vor der Sprache, in Sprache eingebettet oder als Sprache allein, durch eine schlichte Geste wird ebenso zu zeigen versucht wie beispielsweise durch diesen Text. Der Zeigeakt selbst lässt sich also als ein weiteres (viertes) konstitutives Element herausstellen. Schließlich, und damit steht und fällt die ganze Figur, ist das »Zeigen« ohne Absicht nicht zu denken, es ist, anders gesagt, prinzipiell intentional: Wer immer einem anderen etwas zeigt, verfolgt dabei eine bestimmte Absicht (was spätestens dann – mit befreiendem Lachen, oft allerdings mit Irritation, Verlegenheit oder gar Beschämung – bemerkt wird, wenn man »unbeabsichtigt« etwas zeigt). Über seine Absicht ist ein »Zeiger« nicht nur mit einem bestimmten Sachverhalt verbunden, sondern unmittelbar auch mit dem Adressaten seiner Bemühungen, denn der Andere muss ja, zumindest der Möglichkeit nach, das, was gezeigt wird, auch verstehen können. Dafür sind nicht nur Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und kognitive Verarbeitung notwendige Voraussetzungen, sondern auch ein gemeinsamer kultureller Horizont: was bei uns als höfliche Geste aufgefasst wird, kann in anderen Teilen der Erde unverzüglich für Entsetzen sorgen. Durch diese fünf konstitutiven Elemente (Zeiger, Adressat, Sachverhalt, Zeigeakt und kultureller Horizont) wird erkennbar, dass dem »Zeigen« eine Struktur zugrunde liegt oder eingeschrieben ist, die auch aus der Rhetorik bekannt ist (vgl. Landweer 2010). Zeigen ist eben immer auch eine Art gestisch verdichteten Sprechens, und es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sich im Prozess der Evolution die Sprache aus dem Zeigen heraus entwickelt hat. Nicht zuletzt in der »Gebärdensprache« kommt eben diese Eigenschaft prägnant zum Vorschein. Der genuine Zusammenhang zwischen Zeigen und Reden macht deutlich, dass es sich offensichtlich um eine anthropologische Universalie handelt, etwas also, das für Menschen typisch ist.

Wer den Umgang mit Haustieren, etwa Hunden oder Katzen, gewohnt ist, weiß, dass das Zeigen im kommunikativen Kontakt mit Tieren nicht auf gewohnte menschliche Weise funktioniert: die geliebten vierbeinigen Gesellen schauen meist beharrlich auf den Arm oder ausgestreckten Finger des Zeigenden, nicht aber oder nur zufällig auf das Gezeigte, denn sie verlängern die Blickachse, die vom Zeiger zum Objekt führt, in aller Regel nicht.

Diese Alltagserfahrung ist mittlerweile durch eine Vielzahl empirischer Studien und daraus entwickelten, differenzierten Theorien wissenschaftlich belegt und bestätigt worden. Die Adresse für dieses Wissenschaftsgebiet ist die »evolutionäre Anthropologie« und seit geraumer Zeit mit dem Namen Michael Tomasello (z. B. 2002; 2009) und einer international weit verzweigten Gruppe von Forscherinnen und Forschern verbunden.4 Um der Menschheitsgeschichte genauer auf die Spur zu kommen, spielt dabei der Vergleich mit unseren nächsten evolutionären Verwandten, den Menschenaffen, eine besondere Rolle. Wie unterscheiden sich hinsichtlich des Zeigens kleine Affen von kleinen Kindern?

Steht man im Zoo vor einem Affen-Gehege, Schimpansen am besten, sorgt der spontane Eindruck frappierender Ähnlichkeit mit menschlichen Wesen unverzüglich für Verwunderung und freudiges Erstaunen. Der Ausdruck ihrer Gesichter kommt uns ebenso bekannt vor wie etliche Gesten, durch die sich die Tiere untereinander (und manchmal auch mit dem Publikum vor dem Zaun) zu verständigen scheinen. Wir bewundern die Geschicklichkeit ihrer Bewegungen, freuen uns, wie sie miteinander spielen oder sich wechselseitig pflegen oder sich »schlau«, manchmal äußerst geschickt herumliegende Gegenstände als Werkzeug benutzend, ihr Futter verschaffen. Diese Eindrücke von Zoobesuchern lassen sich durch die vielfältigen Befunde der Primatenforschung sehr viel genauer fassen, und damit besteht auch die Möglichkeit, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu erkennen und mittlerweile weitestgehend auch zu erklären. Dabei muss man unterscheiden, ob die Beobachtungen und Befunde von Affen in natürlicher Umgebung gewonnen wurden, oder ob sie von Populationen stammen, die im Kontakt mit Menschen (z. B. in Zoos oder eben auch Forschungseinrichtungen) aufgewachsen sind.5

Beide Gruppen unterscheiden sich in einer Hinsicht überhaupt nicht voneinander: Betrachtet man allein die vokale Kommunikation, also das Sich-Verständigen mit der Stimme, ist der Befund eindeutig: Das diesbezügliche Repertoire der Affen ist fast gänzlich genetisch festgelegt. Lernprozesse spielen dabei kaum eine Rolle, und dementsprechend sind ihre stimmlichen Äußerungen beschränkt, stereotyp und gleichförmig: Das Sprechen oder gar das Singen können Affen niemals lernen.

Was die gestische Kommunikation anbetrifft, treten zwischen diesen beiden Gruppen allerdings deutliche Unterschiede zu Tage, vor allem deshalb, weil hierbei in ungleich stärkerem Maße Lernprozesse beteiligt sind. In ihrer natürlichen Umgebung kommunizieren Primaten mit Hilfe bestimmter Gesten wie Körperhaltungen, Gesichtsausdrücke oder Handbewegungen. Auch sie sind zu einem großen Teil genetisch festgelegt und werden dementsprechend, sozusagen strikt programmgemäß, eingesetzt. Allerdings gibt es einen großen anderen Teil von Gesten, die evolutionär weniger dringliche Bereiche betreffen, z. B. spielen, stillen, betteln oder die Fellpflege. Und diese werden individuell gelernt und flexibel benutzt. Primaten verhalten sich also nicht alle gleich, und sie verwenden ihre Signale auch unterschiedlich und dieselben auch zu unterschiedlichen Zwecken. In dieser Hinsicht, also im absichtlichen und flexiblen Gebrauch erlernter Kommunikationssignale, ist die gestische Kommunikation der Primaten mit der sprachlichen Kommunikation des Menschen durchaus vergleichbar (vgl. Tomasello 2009, S. 32). Zwei Typen von Gesten können eindeutig unterschieden werden, »Aufmerksamkeitsfänger« und »Intentionsbewegungen«. Zur ersten Gruppe gehört zum Beispiel das Auf-den-Boden-Schlagen (häufig um zu spielen) oder den Rücken anzubieten (als Einladung zur Körperpflege); zur zweiten Gruppe zählen beispielsweise das Armheben (um mit einem Spiel zu beginnen), das Betteln mit der Hand (um Futter zu bekommen) oder das Armauflegen als Einleitung gemeinsamen Gehens. Von allen faszinierenden Details abgesehen geht es an dieser Stelle nur um zwei Einsichten: Erstens kommt zum Vorschein, dass schon bei Primaten absichtlich auf andere gerichtete Handlungen beobachtbar sind, so dass diese Gesten als Vorläufer menschlicher Kommunikation anzusehen sind. Zweitens darf man nicht übersehen, dass diesen Gesten keine »Bedeutung« innewohnt, die dann vom Anderen erkannt und »verstanden« würde, der dann dementsprechend handelte. Vielmehr haben diese Gesten den Charakter von einem »display«, sie fungieren gewissermaßen als eine Art von Anzeige für veränderliche Informationen, Reize also, auf die dann wiederum reagiert wird.

Affen hingegen, die im Umgang mit Menschen aufwachsen, sind in der Lage, ihr gestisches Repertoire um eine entscheidende Dimension zu erweitern: sie können zu »zeigen« lernen. Hierfür gibt es zahlreiche experimentelle Befunde: Beispielsweise »zeigen« Affen mit Fingern oder Händen auf außerhalb ihrer Reichweite liegendes Futter, damit ein Mensch es für sie holt. Oder sie machen einen Menschen auf ein vorher verstecktes Werkzeug aufmerksam, das für die Futterbeschaffung nötig ist. Oder sie zeigen nachdrücklich auf eine verschlossene Tür, hinter der sie für sie Interessantes vermuten, damit ein Mensch sie öffnet. Solche »zeigeähnlichen« Verhaltensweisen können als Erweiterung von Aufmerksamkeitsgesten verstanden werden, wobei die Versuchstiere sehr genau beobachten und auch der menschlichen Blickrichtung zu folgen vermögen. Dieses »Zeigeverhalten« findet sich allerdings lediglich in auffordernder Absicht, also als imperative Geste. Gesten, die »nur« ein Interesse an einer Sache signalisieren, deklarative Gesten also, zeigen sie ebenso wenig wie informative Gesten, die dazu dienen, darüber zu informieren, was für ein anderes Individuum vielleicht interessant, brauchbar oder nützlich sein könnte. Zudem, und das dürfte ein entscheidendes Argument sein, zeigen Affen diese »zeigeähnlichen« Verhaltensweisen ausschließlich Menschen gegenüber, nicht aber gegenüber ihren Artgenossen. Offenbar gibt es eine unüberwindbare Grenze für die ansonsten so verblüffende Lernfähigkeit dieser Tiere. In den berühmten Objektwahl-Experimenten kommt eben diese Grenze eindrucksvoll zum Vorschein: Eine Person versteckt vor den Augen der Affen Futter unter einem von drei Eimern, während eine andere Person, ein »Helfer«, dabei zuschaut. In dem weiteren Verlauf dieses Experiments zeigt dann dieser menschliche »Helfer« auf den Eimer, unter dem das Futter versteckt wurde. Und obwohl die Affen diese Zeigegeste des menschlichen Helfers auf den richtigen Eimer aufmerksam und hochmotiviert verfolgten, treffen sie ihre Wahl rein zufällig. Anscheinend können sie die Bedeutung dieser Zeigegeste einfach nicht verstehen, also nicht die richtigen Schlüsse daraus ziehen und somit nicht nachvollziehen, dass der Mensch ihnen etwas zeigt, damit sie es sich für ihre Zwecke nehmen können. Kleine Kinder bewältigen diese Aufgabe schon im Alter von 14 Monaten und meist vor dem Spracherwerb mit gutem Erfolg.

Dieser eklatante Unterschied macht auf einen entscheidenden qualitativen Sprung in der Evolution der Kommunikation aufmerksam, einen Sprung, der offensichtlich nur dem Menschen möglich ist: Während Affen bei allem, was sie tun, ausschließlich ihre eigenen Zwecke verfolgen (und dabei davon ausgehen, dass andere Lebewesen genau auf dieselbe Weise verfahren), verfolgen Menschen auch solche Zwecke, die nicht primär ihren eigenen Interessen dienen, sie kommunizieren kooperativ und teilen ihre Absichten mit anderen. Die Kommunikation von Primaten ist, anders gesagt, durch »individuelle Intentionalität« gekennzeichnet, wohingegen die Kommunikation von Menschen auf »geteilter Intentionalität« aufbaut (vgl. Tomasello 2009, S. 65). Dieser Unterschied markiert den entscheidenden Schritt in der Stammesgeschichte (Phylogenese), und er ist dementsprechend, sozusagen im Kleinformat, auch für die Ontogenese, für die Entwicklung jedes einzelnen Menschen vom Säugling bis zum Erwachsenen, von grundlegender Bedeutung. Das Zeigen steht dabei im Zentrum des Geschehens, es ist der Dreh- und Angelpunkt des gesamten Entwicklungsprozesses, an dessen Ende sich das herausbildet, was Tomasello die »im Artvergleich einzigartige psychologische Infrastruktur geteilter Intentionalität« (a. a. O., S. 70) nennt. Aber wie erwerben Kinder diese so besondere Struktur?

Dass kleine Kinder schon sehr früh Zeigegesten verwenden, ist eine alltägliche Erfahrung. Inzwischen weiß man durch zahlreiche Studien, dass dieses Verhalten in allen Kulturen auftritt, wenn auch mit Modifikationen und in Varianten (mancherorts kommen z. B. Kinn oder Lippen anstelle des Zeigefingers zum Einsatz). Man weiß allerdings nach wie vor nicht genau, wie dieses Verhalten erworben wird und in welchem Umfang dabei Lernen eine Rolle spielt. Vermutlich wirken verschiedene Prozesse zusammen und verstärken sich wechselseitig: Zum einen führen Orientierungshandlungen, die fortgesetzt wiederholt werden, zu einer Ritualisierung bestimmter Verhaltensweisen. Zum anderen werden Säuglinge nicht nur in warmem Wasser gebadet, sondern auch in Sprache, und durch diese »Protokonversationen« sind Säugling und Bezugspersonen höchst aufmerksam aufeinander bezogen, sie schauen sich dabei an, berühren sich und geben Laute von sich. Diese frühen »Unterhaltungen«, das ist entscheidend, haben eine klare Struktur von Rollenwechseln, es sind sozusagen Sprachspiele vor der Sprache, durch die basale Muster der menschlichen Kommunikation eingeübt werden wie z. B. Frage und Antwort, Rede und Gegenrede oder vor allem auch das gemeinsame Ausdrücken und Teilen von Gefühlen. Im Zuge solcher Protokonversationen gibt es schließlich vielfältige Anlässe und Ansätze für Nachahmung. Schon wenige Wochen nach der Geburt können das Herausstrecken der Zunge, das Öffnen des Mundes oder Kopfbewegungen imitiert werden, wobei schon früh Identifizierungsprozesse eine Rolle spielen dürften. Zu welchen Zeitpunkten diese Prozesse auftreten und wie sie im Einzelnen zusammenwirken, ist, wie gesagt, noch wenig erforscht. Die kleinen Kinder gelangen eben anfangs »irgendwie auf natürliche Weise zum Zeigen« (Tomasello 2009, S. 124). Menschen sind nicht nur, darin den Primaten gleich, soziale Wesen, sondern, so Tomasello an anderer Stelle, schlicht »ultra-sozial« (Tomasello 2002, S. 74). Und das offensichtlich nicht nur, wie einschlägige Studien belegen, wenige Stunden nach der Geburt, sondern bereits im Mutterleib, wo sie sich schon an die Stimme der Mutter zu gewöhnen vermögen.

Obwohl also die ganz frühen Anfänge des Zeigens noch nicht vollständig aufgeklärt sind, weiß man mittlerweile doch sehr genau, wie sich das Zeigen im Fortgang der Entwicklung weiter ausbildet. Der Entwicklungskomplex, der von alles entscheidender Bedeutung ist, kommt, stammesgeschichtlich betrachtet, einer Revolution gleich und wird daher mit guten Gründen als »Neunmonatsrevolution« bezeichnet. Was hat es mit diesem »Umsturz« in der Entwicklung auf sich? Und wie zeigt sich dabei das Zeigen?

Diese »Revolution« beginnt im Alter von etwa 9–12 Monaten, durchläuft verschiedene Stadien und kommt mit etwa 13–15 Monaten zu einem Abschluss. Kleine Kinder beginnen also noch vor dem ernsthaften Spracherwerb damit, Zeigegesten zu verwenden, wobei sich zwei Motive hierfür deutlich voneinander unterscheiden lassen: entweder wollen sie etwas haben und verlangen nach bestimmten Dingen (in diesem Fall spricht man von »imperativen Gesten«); oder sie wollen Erfahrungen und Gefühle zum Ausdruck bringen, also »mit – teilen«, was sie bewegt (in diesem Fall spricht man von »deklarativen Gesten«).

Das Besondere dieser »Revolution« liegt in dem entwicklungslogischen Zusammenhang ihrer drei Stadien, die nacheinander auftauchen und gemeistert werden müssen. Die folgende Abbildung zeigt das Geschehen in graphischer Vereinfachung:

Im ersten Stadium (9–12 Monate) geht es zuallererst um das »Prüfen der Aufmerksamkeit« (also versprachlicht etwa: »Schaust Du auf das, auf das ich schaue«); danach, im zweiten Stadium, steht das »Verfolgen der Aufmerksamkeit« im Vordergrund (»Ich schaue auf das Objekt, auf das Du auch schaust«); und im dritten Stadium schließlich wird die Aufmerksamkeit der erwachsenen Bezugsperson zu lenken versucht (»Schau auf das, auf das ich schaue«). Diese drei Stadien bilden einen zusammenhängenden Entwicklungskomplex, der als


Abb. 1: Joint attention (vgl. Tomasello 2002, S. 81)

»joint attention« (geteilte Aufmerksamkeit) bezeichnet wird. Hierdurch erfährt die Kommunikation eine grundlegende Umstellung: sie operiert nun nicht länger nur »dyadisch« (Person-Person oder Person-Objekt), sondern sie wird jetzt triadisch, verbindet also zwei verschiedene Personen, eine große und eine kleine, mit einem Objekt. Es entsteht also ein kommunikatives Dreieck. Dass sich dadurch die Lernmöglichkeiten des kleinen Kindes exponentiell erweitern, liegt auf der Hand, und es ist kein Wunder, dass es von jetzt an mit dem Spracherwerb rasch vorangeht.

In diesem Abschnitt der Entwicklung lernen also kleine Kinder, dass Erwachsene in Bezug auf einen Gegenstand eine bestimmte Absicht verfolgen, sie verstehen sie als »intentionale Akteure«. Um das zu können, müssen sie allerdings zuvor auch sich selbst als »intentionale Akteure« zu begreifen begonnen haben (aus diesem Grund findet sich dieser joint-attention-Komplex nicht schon zu früheren Zeitpunkten der Entwicklung). Damit ist die elementare Voraussetzung für kommunikative Kooperation gegeben, denn der kleine Akteur kann nunmehr in Bezug auf einen Gegenstand die Perspektive des großen Akteurs simulierend übernehmen und daraus seine Schlüsse ziehen (»Aha, wenn der Große dort draufdrückt, geht die Schachtel auf – wenn ich also auch auf diese Stelle drücke, dann kann auch ich die Schachtel öffnen«). Entscheidend ist demnach die Möglichkeit, eine andere Perspektive einzunehmen und sodann aus dieser (erwachsen-anderen) Sicht die Welt in Augenschein zu nehmen. Anders als kleine Affen sind kleine Kinder daher sehr an der »Inneren Welt« der sie umgebenden Erwachsenen interessiert, und zwar ungeachtet der neugierigen Faszination für all die unbekannten Gegenstände um sie herum. Aus diesem Grund unternehmen die kleinen Zeiger große Anstrengungen, die Absichten der Erwachsenen »richtig« zu verstehen und sich dessen fortwährend zu vergewissern. Auch dafür gibt es zahlreiche experimentelle Befunde: Zum Beispiel können kleine Kinder zuverlässig unterscheiden, ob die Geste eines Erwachsenen nur beiläufig zeigenden Charakter hatte, oder ob sie wirklich als eine für sie bestimmte kommunikative Botschaft aufzufassen ist. Sie korrigieren daher auch »Missverständnisse« der Erwachsenen, die ihnen anscheinend nur »zufällig« das geben, auf das sie vorher gezeigt hatten, denn sie wollen offenbar, dass ihre Absicht »richtig« verstanden wird.

Die Zeigegeste ist also die erste und ursprüngliche Form menschlicher Kommunikation, und sie erweist sich als im Kern kooperativ.6 Im Zeigen muss »gemeinsam operiert« werden, in welcher Form auch immer, sei es im Auffordern, im Informieren oder im Mit-teilen. Und Kooperation funktioniert nur mit Identifikation, mit eben dem Sich-Hineinversetzen-Können in eine andere Konstellation zur Welt. Kein noch so langes Training kann Primaten dazu verhelfen. Und es ist aufschlussreich, dass viele Schwierigkeiten, die autistische Kinder haben, mit dieser mangelnden Fähigkeit zur Perspektivenübernahme in engem Zusammenhang gesehen werden (vgl. Tomasello 2002, S. 95). Die Zeigegeste ist sozusagen das Minimalprogramm menschlicher Kommunikation, sie ist Sprache vor der Sprache (und deswegen greifen wir in fremden Ländern mit unbekannten Sprachen gerade darauf zurück, wenn wir uns verständigen wollen). Sie bildet, geht die Neunmonatsrevolution erfolgreich ihren Weg, die Grundlage für alle weiteren Entwicklungsschritte, die jetzt folgen, vor allem, wenn über das Gebärdenspiel die Sprachentwicklung nun rasch voranschreitet und durch Worte sich das Zeigen von der unmittelbaren Wahrnehmung lösen kann und symbolisch wird. Dann bekommen Dinge eine Bezeichnung und werden Worte zu Zeichen, auf die gezeigt werden kann. Neben die bis hierhin bestimmenden deiktischen Gesten treten, so der gängige Sprachgebrauch, ikonische (symbolische) Gesten, wodurch sich die Möglichkeiten des Lernens exponentiell erweitern. Das genauer nachzuzeichnen, sozusagen die ontogenetische Geschichte des Zeigens zu erzählen, ist für die Zwecke dieser Darstellung nicht erforderlich und muss anderen Arbeiten überlassen bleiben.

Zum Abschluss dieses Abschnittes soll die Aufmerksamkeit vielmehr auf etwas anderes gelenkt werden (man sieht also auch hier: »joint-attention«): Bisher wurde das Zeigen, phylogenetisch wie ontogenetisch, vorwiegend aus der Perspektive des Lernens betrachtet. Die Neunmonatsrevolution weist aber weit darüber hinaus, denn sie führt auch zum Lehren. Anders gesagt: Warum gibt es bei Affen keine Schulen (und daher auch keine PISA-Studien)? Die Antwort auf diese rhetorische Frage kann nach den bisherigen Ausführungen nicht verwundern, denn, auch das weiß man inzwischen recht genau, erwachsene Affen tun wenig, um ihrem Nachwuchs hilfreiche Informationen bereitzustellen, sie überlassen ihn weitgehend sich selbst und zeigen keinerlei Interesse daran, dass die kleinen Affen bestimmte Fähigkeiten oder Fertigkeiten erlernen. Das ist bei Menschen, wie jeder Leser aus (manchmal schmerzhaft erinnerter) eigener Erfahrung weiß, in der Regel anders, werden kleine Menschen doch üblicherweise »erzogen« und das schon seit ziemlich langer Zeit. Somit erweist sich die Erziehung, die für menschliche Kulturen und Gesellschaften kennzeichnend ist, auch als Ausdruck und Folge einer Revolution, keiner politischen zwar, aber einer stammesgeschichtlichen wie ontogenetischen. Der Mechanismus des Zeigens steht dabei im Mittelpunkt, nicht zuletzt deshalb, weil Menschen auf die Idee gekommen sind, ihn von Zufällen unabhängiger zu machen und auf Dauer zu stellen, ihn schließlich zu organisieren und zu institutionalisieren. So betrachtet sieht man: Familien wie Schulen lassen sich im Kern durchaus als institutionalisierte Zeigegesten verstehen. Und pädagogische Berufe demgemäß als Zeigeberufe. Und Erziehung nur als Kooperation.

Wie das im Einzelnen zu denken ist, wird der nächste Abschnitt zeigen.

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