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1.2.1 Die entwicklungspsychologische Fundierung der pädagogischen Situation: Von ›joint-attention‹ zum ›didaktischen Dreieck‹

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Im vorherigen Abschnitt ist deutlich geworden, dass das Zeigen nicht nur in phylogenetischer Hinsicht, also mit Blick auf die menschliche Gattung, sondern auch in ontogenetischer Hinsicht, also mit Blick auf die Entwicklung jedes einzelnen Menschen, von grundlegender Bedeutung ist. Im Verlauf und erfolgreichen Abschluss der »Neunmonatsrevolution« konvergieren beide Dimensionen insofern, als die Umstellung von dyadischer auf triadische Kommunikation im Modus geteilter Intentionalität nicht nur als Voraussetzung der kulturellen Entwicklung, sondern auch als Voraussetzung aller individuellen Entwicklungsprozesse anzusehen ist. Der evolutionäre Mechanismus, der diese beiden Funktionen übernimmt, ist die Erziehung. Das Besondere dabei liegt darin, dass beide Funktionen in einer Operation, eben der pädagogischen Bemühung um das Lernen des Nachwuchses, verschmolzen sind: der kulturelle Bestand wird tradiert, indem die Kinder sich ihn aneignen. Insofern ist alle Erziehung im Kern zunächst konservativ (und, wer weiß, vielleicht sind auch viele Erzieherinnen und Erzieher »eigentlich« konservativer, als sie es sich selbst einzugestehen bereit oder in der Lage sind). Aber im Prozess der Aneignung ist immer auch die Bedingung der Möglichkeit für Veränderung und Weiterentwicklung enthalten, dafür sorgt das lernende Bewusstsein. Anders gesagt: Erziehung hat prinzipiell zwei Seiten: conservation and change. Dieser Gedanke kann hier nicht weiterverfolgt werden. Vielmehr geht es jetzt um eine Einsicht, die auch unmittelbar aus der Betrachtung der »Neunmonatsrevolution« gewonnen werden kann: Es lässt sich nämlich zeigen, dass das Grundmuster früher triadischer Kommunikation gleichsam als Prototyp einer pädagogischen Situation aufgefasst werden kann. Wie muss man sich das vorstellen?

Der als »joint-attention« bezeichnete Entwicklungskomplex besteht, wie oben erläutert, aus drei Stadien. Mit der dritten und letzten dieser Phasen (dem »Lenken der Aufmerksamkeit«) wird der Wechsel von dyadischer zu triadischer Kommunikation vollzogen, und es ergibt sich ein frühes kommunikatives Dreieck (kleine Person – große Person – Ding/Gegenstand). Die implizite Annahme hierbei ist, dass Personen Dinge auf unterschiedliche Weise wahrnehmen und dementsprechend auch von unterschiedlichen Intentionen geleitet werden. Damit sich Kooperation überhaupt ergeben kann, müssen eben diese (unterschiedlichen) Absichten geteilt werden können.

Der englische Entwicklungsforscher und Psychoanalytiker Peter Hobson (2003) hat sich, anders als Tomasello, vor allem mit der inneren Dynamik dieses frühen Dreiecks beschäftigt. Für pädagogische Zwecke sind seine Arbeiten von Bedeutung, weil er den Lernprozessen, die durch und in dieser frühen Konstellation möglich werden, besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat (vgl. Kraft 2007). In graphischer Vereinfachung (und an einer Stelle leicht verändert) hat die Struktur, die er beschreibt, die folgende Gestalt:


Abb. 2: Das Entwicklungspsychologische Dreieck (nach Hobson 2003, S. 114)

Was sieht man? Im Modus geteilter Aufmerksamkeit (joint attention) steht das Kind mit drei Aspekten in unmittelbarer Verbindung: Es selbst (1) beschäftigt sich mit einem Objekt in der »Welt« (2) und ist dabei emotional mit einer anderen Person (3) verbunden, die sich ebenfalls mit diesem Objekt beschäftigt, sagen wir der Einfachheit halber, diese Person sei die Mutter. Man kann sich irgendeinen neuen Gegenstand, zum Beispiel ein Spielzeug, vorstellen; das Kind ängstigt sich vielleicht zunächst, ist scheu und zurückhaltend und traut sich nicht, dieses ungewohnte Ding näher in Augenschein zu nehmen oder gar anzufassen (graphisch wird diese Haltung durch die durchgezogene Linie zwischen Kind und Objekt repräsentiert). Aber es schaut fortwährend zur Mutter hin und beobachtet sie genau; und es sieht dabei, dass die Mutter offensichtlich keine Angst zeigt, sie lächelt vielmehr amüsiert, fasst diesen Gegenstand sogar an, zieht dann ihre Hand spielerisch-neckisch wieder zurück und wendet ihren Blick – vielleicht zunächst auch scheinbar verängstigt – dann jedoch freundlich, erwartungsvoll und aufmunternd dem Kind zu. Das Kind realisiert also, dass die Mutter eine andere Haltung zu diesem Objekt einnimmt als es selbst (das mag durch die lotrechte Linie, die das Dreieck teilt, symbolisiert werden). Es wird also wahrgenommen, dass zwei Personen einen unterschiedlichen Bezug zu einem Gegenstand einnehmen, mit dem allerdings alle beide im Modus geteilter Aufmerksamkeit verbunden sind. Nun, und das eben ist anders als bei Menschenaffen, kommt Identifikation ins Spiel dieser kleinen Szene (graphisch als gestrichelte Linie in einem Bogen zwischen Anderem und Kind). Das Kind übernimmt gewissermaßen die innere Haltung der Mutter, es nimmt deren Perspektive auf das Objekt ein, übernimmt sie schließlich und kann dann seinen Bezug zum Objekt, sozusagen aus der Position des anderen heraus, in veränderter Form selbst wieder aufnehmen und nun anders als vorher gestalten (dieser Effekt wird durch die gestrichelte Linie zwischen Kind und Objekt symbolisiert, sie verdeutlicht sozusagen den durch Identifikation möglich gewordenen Lernzuwachs). In der Metaphorik der fiktiven Szene gesprochen: Das Kind wendet sich nun diesem neuen Spielzeug zu, überwindet seine Scheu, fasst es an, beginnt eine eingehende Exploration, und womöglich freuen sich am Ende beide über das, was sich ereignet hat, lachen und lächeln sich zufrieden und entspannt an. »Das entscheidende Element dieser Form von Identifizierung ist«, so Hobson, »dass Gefühle und Haltungen beteiligt sind. Nicht nur das Handeln ändert sich dabei, sondern auch die subjektive Erfahrung der Welt. Das Kind vollzieht eine Bewegung hin zu einer anderen Haltung gegenüber den Dingen. Es wird sozusagen aus seiner auf sich selbst zentrierten Sichtweise herausgelockt … Der Vorgang der Identifizierung erzeugt dabei jedes Mal einen Sog hin zur Position des anderen. Das Kind bemerkt jedes Mal, wie sich infolge des Sogs seine Erfahrung verändert« (2003, S. 113 ff.). Das Kind lernt hierbei allerdings nicht nur etwas über ein bestimmtes Objekt, sondern gleichzeitig immer auch etwas über die Mutter. Erkundung eines fremden Objektes und Erkundung eines fremden Bewusstseins gehen Hand in Hand. Und noch etwas kann man sehen: das frühe Dreieck ist auf Gegenseitigkeit angelegt. Denn den Kindern wird ja nicht nur etwas gezeigt, sondern »natürlich« zeigen sie selbst auch, denn meist versuchen sie unermüdlich und mit erstaunlicher Energie, die Aufmerksamkeit einer großen Person zu gewinnen und diese in ihre Weise der Welterkundung hineinzuziehen. Man könnte es auch so sagen: Kleine Kinder haben offensichtlich von Natur aus den Impuls, sich sozusagen auf eine archaische Weise genau die Hilfen selbst zu organisieren, die sie für ihr Lernen brauchen.

Wie kommt man nun vom Fußboden eines Kinderzimmers in den Klassenraum einer Schule? Der Weg erscheint lang, ist aber nur kurz, denn das Schema dieses frühen entwicklungspsychologischen Dreiecks kehrt in einer zentralen Figur der modernen Unterrichtstheorie wieder und wird dort als »didaktisches Dreieck« bezeichnet. Es soll hier in Anlehnung an Wolfgang Sünkel vorgeführt werden und hat folgende Gestalt:


Abb. 3: Das Didaktische Dreieck (nach Sünkel 1996, S. 64)

Auch hier gibt es drei Größen: eine lehrende Person, eine lernende Person und einen Lerngegenstand, kurzum: Lehrer-Schüler-Thema, also eine klassische Unterrichtssituation in idealtypischer Form (d. h. ohne motivationale und institutionelle Kontexte und jenseits aller möglichen Störungen, die jeder aus eigener Erfahrung kennt). Das Interesse von Schüler und Lehrer richtet sich im Modus geteilter Aufmerksamkeit (joint attention) auf denselben Lerngegenstand. Das unterrichtliche Handeln des Lehrers zielt auf die Beziehung zwischen Lerngegenstand und Schüler, es wird also, anders gesagt, versucht, auf diese Weise dem Lernenden Aspekte des Lerngegenstandes zu zeigen, die er allein womöglich nicht, noch nicht oder nicht so zu erkennen vermag.

Man muss demnach das »Entwicklungspsychologische Dreieck« nur ein klein wenig drehen und zwei Positionen austauschen (Kind ↔ Anderer ≙ Lehrer ↔ Schüler), um in die Fundamentalstruktur des Unterrichts zu gelangen. In beiden Dreiecken führt dabei die Lotrechte jeweils auf die Beziehung zwischen Lernendem und Lerngegenstand. Ist diese Lotrechte, wie auf der linken Seite, durch eine einfache Linie markiert, handelt es sich um eine eher intuitiv, gleichsam mitgängig sich herstellende Lehr-Lern-Beziehung; ist die Lotrechte hingegen, wie im »Didaktischen Dreieck« verdoppelt, wird dadurch kenntlich gemacht, dass eine professionelle Instruktionsbemühung vorliegt. Dazu gehört wesentlich der kleine Querstrich, der dem Interesse des Lehrenden am Lernenden eine deutliche Grenze setzt, die nicht überschritten werden darf. Denn im Falle professioneller Erziehungsbemühungen geht es primär um die Beziehung zweier Rollen, nicht um die Beziehung zweier Personen als Personen. Wird diese Grenze überschritten, z. B. dann, wenn ein Lehrer sich in eine Schülerin oder einen Schüler verliebt oder eine Sozialpädagogin in einen Klienten, zerbricht die professionelle Konstellation (was zumeist mit fatalen Folgen für alle Beteiligten verbunden ist).

Die strukturelle Ähnlichkeit beider Dreiecke, die Tatsache, dass dem späteren gleichsam das frühere unterlegt ist und es auf diese Weise fundiert, ermöglicht eine kaum zu überschätzende Einsicht: Wenn wir Kindern etwas beibringen wollen, machen wir im Grunde genommen genau das, was sie selbst auf einer entscheidenden Durchgangsstufe ihrer kognitiven Entwicklung in rudimentärer Weise mit ihren erwachsenen Bezugspersonen gemacht haben: der pädagogischen Form ist somit eine frühe, vorsprachliche Entwicklungserfahrung gleichsam eingeschrieben. Vermutlich ist uns aus diesem Grund jede »Unterrichts-Situation« intuitiv vertraut, sozusagen unreflektiert bekannt. Anders gesagt: das Belehrt-Werden müssen wir offensichtlich nicht später erst lernen, denn es folgt der Form nach genau jenem Schema, mit dem wir uns als kleine Kinder selbst, unterstützt und gefördert durch andere, die Welt in sich sukzessive erweiternden Kreisen schon früh zu zeigen begonnen haben. Pädagogisches Handeln ist demnach als die Entfaltung dieser frühen intuitiven Zeigestruktur zu verstehen. Und die Erzieher sind dazu da, genau diese formale Komponente des Lernprozesses zum Vorschein zu bringen und sich ihrer zu bedienen, um möglichst verlässliche Wirkungen zu erzielen. Pointiert gesprochen: Kinder bedürfen nicht der Erziehung, Kinder haben ein Bedürfnis nach Erziehung. Das kann man, den Ertrag dieses Abschnittes zusammenfassend, auch klassisch ausdrücken, mit Blick auf Hegel zum Beispiel, der das »eigene Streben der Kinder nach Erziehung« als das »immanente Moment aller Erziehung« bezeichnet hat (Hegel 1830/1965, S. 101).7

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