Читать книгу Erziehung - Beratung - Psychotherapie - Volker Kraft - Страница 19

1.3.1 Beratung als ›umbrella term‹: Komplexität und Möglichkeiten der Reduktion

Оглавление

Ein »umbrella term«, ein »Regenschirmbegriff«, ist ein Wort, das viele verschiedene Facetten eines Sachverhaltes zusammenfasst; der Begriff der Beratung gehört ohne Zweifel in diese Kategorie. Das lässt sich leicht prüfen, zum Beispiel dadurch, dass man, ganz zeitgemäß, das Wort in eine der bekannten Suchmaschinen, die das Internet bis in die letzten Winkel durchforsten, eingibt: in Bruchteilen von Sekunden wird man mit Millionen von Einträgen konfrontiert. Um sich angesichts einer solchen Flut von Hinweisen zu orientieren, sind zunächst fünf ebenso einfache wie grundlegende Unterscheidungen hilfreich.

Erstens wird der Begriff der Beratung in Zusammenhang mit spezifischen Themen, Problemen und Lebenslagen verwendet: Trennungs-, Scheidungs- und Schuldnerberatung tauchen hier ebenso auf wie Energie- und Vermögensberatung, und Erziehungs-, Studien- und Berufsberatung finden sich neben der Beratung von Kriegsdienstverweigerern oder der Stil-, Mode- und Typberatung, die lückenlos an die Beratung von Jugendlichen, Senioren, Schwulen, Lesben und Politik- und Managementberatung anschließt. Mit anderen Worten: Es hat den Anschein, als könnte in jüngster Zeit jedes Problem, jedes Thema oder jede Lebenslage mit Beratungsansprüchen verbunden werden.

Zweitens lässt sich die Vielfalt von Beratungsofferten dahingehend unterscheiden, welche Medien der Kommunikation verwendet werden. Als Grundform gilt seit alters her und nach wie vor das leibhaftige Gespräch zwischen zwei Menschen. Beratung kann zudem schriftlich erfolgen, denkt man an spezifische Rubriken, wie sie aus Zeitschriften vertraut sind. Aber auch fernmündlich ist Beratung möglich, also am Telefon, wie z. B. im Rahmen der Telefonseelsorge oder bei Angeboten, wie sie der Kinderschutz bereithält; selbst im Radio gibt es Beratung (in Form von Hörersprechstunden, aus denen dann ausgewählte Gespräche übertragen werden) und seit geraumer Zeit in verschiedenen Formaten auch im Fernsehen. Schließlich hat sich in den letzten Jahren das Internet als Forum beratender Kommunikation in den Vordergrund geschoben, wobei hier wiederum zwischen Mailberatung, Einzelchatberatung, moderierten Gruppenchats, Themenchats und »helplines« zu differenzieren ist und berücksichtigt werden muss, wie sie erfolgen (»online« oder »offline«).

Drittens kann man angesichts der Vielfalt von Angeboten hinsichtlich der Adressaten unterscheiden; denn nicht nur einzelne Menschen können offensichtlich beraten werden, sondern auch Paare, Familien, Gruppen und sogar Organisationen, Netzwerke und Gemeinwesen.

Viertens rücken die Anbieter in den Vordergrund, diejenigen also, die beraten und damit auch der jeweilige professionelle, institutionelle und organisatorische Kontext, in den diese Aktivitäten eingebettet sind. Denkt man an alltägliche Situationen, mögen zunächst Familienangehörige, Freunde, Bekannte oder Nachbarn in den Sinn kommen; hier ist Beratung eine freiwillig erbrachte kostenlose Leistung im Modus zwischenmenschlicher Beziehungen und wechselseitiger Hilfe. Aber Beratung wird auch von freien Trägern, Verbänden und Organisationen angeboten, zudem von staatlichen Institutionen und von mehr oder weniger großen Firmen oder Unternehmen; Beratung ist dann eine Leistung, die im Rahmen beruflicher Tätigkeiten erbracht wird und finanziert werden muss.

Fünftens schließlich zeigt sich das Beratungsproblem moderner Gesellschaften auch in den reflexiven Bemühungen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, in denen wiederum eine Fülle von Ansätzen, Konzepten und mehr oder weniger umfassend ausgearbeiteten Theorien zu finden sind. Mit anderen Worten: Wer immer sich mit Beratung beschäftigt, begibt sich auf semantisch, professionell und disziplinär mehrfach besetztes Terrain.

Dieser erste Ordnungsversuch soll nun durch einen zweiten ergänzt werden, der weitere Gesichtspunkte enthält und in dem ein höherer Grad der Abstraktion verwendet wird. Das folgende Schaubild zeigt jetzt acht verschiedene Perspektiven, die jeweils bestimmte Aspekte des Problems der Beratung zum Vorschein bringen. Diese Sichtweisen können in diesem Rahmen natürlich nicht ausführlich behandelt, sondern in heuristischer Absicht nur knapp skizziert werden, um deutlich zu machen, wie überhaupt über Beratung gesprochen, nachgedacht und geforscht werden könnte.

Aus der ersten Perspektive rückt der Alltag (1) in den Mittelpunkt: Beratung ist eine Grundform der Kommunikation und durchzieht demzufolge seit alters her auf vielfältige Weise alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens (vgl. zum folgenden hinsichtlich detaillierter Nachweise auch Kraft 2009a,


Abb. 7: Der »Beratungsfächer«

S. 195 ff.). Das zeigt sich zuallererst am Sprachgebrauch: Das Wort »Rat« bezeichnet ursprünglich alles, was für Ernährung und Erhaltung eines Haushalts notwendig ist (z. B. Haus-rat, Ge-rät, auch Hei-rat), was man für schlechte Zeiten braucht (Vor-rat), aber auch das, was man nicht mehr braucht (Un-rat) oder was, wiewohl schmückend, doch überflüssig ist (Zier-rat). Hiervon ausgehend bilden sich bereits früh die übertragenen Bedeutungen wie »Ausweg, Hilfe, Abhilfe«, aber auch »gutgemeinter Vorschlag, Empfehlung, Unterweisung« heraus. Und schon im Althochdeutschen steht »rat« auch für »Beratung«, zu der man sich im Kreis versammelt (vgl. Rat-schlag; einen Kreis/ein Rad schlagen), was dann zu institutionalisierten Formen (z. B. Rats-versammlung), dafür eigens eingerichteten Orten (z. B. Rat-haus) und entsprechenden Amts- oder Berufsbezeichnungen (z. B. Stadt-rat, Schul-rat) führt. Auch im Verb »raten« tritt die enge Verbindung von elementaren praktischen Lebensnotwendigkeiten mit davon abgeleiteten kommunikativen Derivaten deutlich hervor: »Raten« bedeutet ursprünglich nicht nur »Vorsorge treffen, für etwas sorgen«, sondern früh schon »überlegen, aussinnen«, dann »vorschlagen, empfehlen« und schließlich »deuten, erraten« (wobei es über das Altenglische »rædan/ to read« einen deutlichen Bezug zu »lesen« gibt). Dies gilt gleichermaßen für »beraten«, was zunächst »anfüllen, mit Vorrat versehen, versorgen und ausrüsten« meint, bevor es dann später die Bedeutung von »etwas gemeinsam besprechen, beratschlagen oder jemanden einen Rat erteilen« erhält.

Im Englischen gibt es im Wesentlichen zwei Ausdrücke, die beide, wiewohl auf unterschiedlichen Wegen, auf römische Ursprünge verweisen: Ein Strang leitet sich ab vom lateinischen Wort »consilium« (Ratsversammlung, Rat) und den dazugehörigen Verbformen »consulere« und »consiliari« (beratschlagen, Rat erteilen); diese Linie führt einerseits zu dem alle institutionalisierten Konfigurationen bezeichnenden Ausdruck »council«, andererseits, wiewohl etymologisch nicht direkt verbunden, zur Verbform »to counsel«, die sowohl transitiv (jemanden beraten) als auch intransitiv (sich beraten) verwendet wird. Beide Worte, sowohl das Substantiv als auch das Verb, haben dabei vielfältige Formen und Bedeutungen angenommen und tauchen dementsprechend in mannigfachen Kontexten und Zusammensetzungen auf. Eine andere Linie verweist ebenfalls auf römische Ursprünge, ist aber über das Französische als Substantiv »advice« oder in der dazugehörigen Verbform »to advise« in die englische Sprache gelangt. Dahinter verbirgt sich das französische Wort »avis« (Ansicht, Meinung), das wiederum auf den lateinischen Ausdruck für sehen/ansehen (videre, ad visum) hindeutet und zum Vorschein bringt, dass »Rat/Beratung« immer auch eine bestimmte Sicht auf einen Sachverhalt oder ein Problem oder, modern gesprochen, unterschiedliche Perspektiven der Wahrnehmung zur Grundlage hat.

Dass Beratung zuallererst ein Alltagsphänomen ist, zeigen nicht nur die Worte selbst, sondern vor allem ihr Gebrauch in leibhaftigen Situationen. Wie der Autor sind auch alle Leser mit dem Rat-geben und dem Beraten-Werden aus dem eigenen Leben vertraut. Wir kennen diese Redeform und benutzen sie, meist allerdings wohl, ohne uns darüber groß Gedanken zu machen, denn sie erscheint uns gleichsam selbstverständlich. Was jedoch im Alltag selbstverständlich erscheint, ist es unter wissenschaftlichen Vorzeichen keineswegs. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieses Phänomen in zunehmendem Maße auch die Aufmerksamkeit der Sprachwissenschaftler auf sich gezogen hat, die Beratung als einen spezifischen »Sprechakt« bezeichnen und mit ihren Mitteln in allen Einzelheiten erforschen (vgl. dazu Niehaus/Peters 2014). Ein »Sprech-akt« ist, wie das Wort zeigt, eine »Sprech-Handlung«. In der dazugehörigen Sprechakttheorie (prominent von Austin und Searle vertreten) geht es demnach darum, genau zu untersuchen und zu erklären, wie mit Hilfe von Worten auf Wirklichkeit – und das heißt auch: auf Einstellungen und Verhaltensweisen anderer Menschen – Einfluss gewonnen werden kann. Deswegen gehören Sprechakte in den Bereich der linguistischen Pragmatik. Denkt man zum Beispiel an einen Befehl, eine Namensgebung (was hat Ihre Eltern veranlasst, Ihnen gerade diesen Namen zu geben oder haben Sie vielleicht einen Spitznamen, und wenn ja, wer hat Ihnen diesen zugesprochen und aus welchen Gründen wohl?), an einen Eid (z. B. vor Gericht, um den Zeugen unter Androhung von Strafe zu einer wahrheitsgemäßen Aussage zu verpflichten), eine Warnung (»Betreten des Eises verboten!«) oder auch an eine Beleidigung (die im Gegenüber aus bestimmten Gründen eine kränkende Wirkung hervorrufen soll), wird unmittelbar verständlich, welche Bedeutung Sprechakten zukommt. Und man sieht sofort, warum auch der »Rat« oder die »Beratung« unter dieser Kategorie gefasst werden können. Denn das, was wir einem anderen sagen, soll ja zur Lösung seines Problems beitragen, ihn zu einer Entscheidung befähigen oder auch zu einem bestimmten Verhalten führen. Denn eine Beratung ist ihrem Zweck gemäß alles andere als ein »small talk«, soll doch etwas ganz Bestimmtes, dem besondere Bedeutung zukommt, erreicht werden.

Beratung ist also zuallererst eine im Alltagsleben tief verankerte Redeform. Wir kennen sie, und wir benutzen sie, weil wir sie vielfach erfahren haben und daher wissen, dass sie wirksam ist. Und das heißt auch: Gewinnt Beratung eine bestimmte professionelle Gestalt, dann handelt es sich um eine Steigerung dieser Alltagsfertigkeit. Oder anders gesagt: Jedes (noch so subtil ausgearbeitete) Beratungskonzept muss zwangsläufig der inhärenten Logik eines solchen Sprechaktes (zumindest teilweise) entsprechen. Damit ist zugleich die Möglichkeit einer Überprüfung gegeben, denn: ist die Logik der Beratung als eine spezifische Form der Rede nicht erkennbar, dann muss es sich aller Wahrscheinlichkeit um etwas anderes handeln. Man kann also schon allein aus dieser Perspektive sehen: nicht überall, wo Beratung ›draufsteht‹, muss auch Beratung ›drin‹ sein.

Die zweite Perspektive führt in die Tradition, wie sie in der Geistes- und Kulturgeschichte überliefert ist:

In der griechischen Antike (vgl. Ritter/Gründer 1992, Sp. 29 ff.) meint βουλή (boulē) ursprünglich den Rat, den man selbst hegt, bezieht sich also primär auf die Notwendigkeit, angesichts von Entscheidungen »mit sich zu Rate zu gehen«; auch in der Sophistik wird die Wichtigkeit betont, einen »rationalen Blick« auf die Dinge zu gewinnen, und Aristoteles bestimmt das »zu Rate gehen« als ein »überlegenes Suchen des Zuträglichen für menschliche Praxis … und dessen Ausrichtung auf die leitende Hinsicht eben dieses Handelns.« Die Kirchengeschichte wiederum kennt von Beginn an die Unterscheidung zwischen »praecepta«, den göttlichen Geboten, dem also, was man unbedingt tun muss, und den »consilia«, dem also, was zu tun angeraten wird; diese Differenz hat für die Ausbildung theologischer Konzeptionen weitreichende Bedeutung erlangt.

Über Philosophie, Ethik, Religion und Kirchengeschichte hinaus nimmt »Rat/Beratung« auch in Politik und Rhetorik eine herausgehobene Stellung ein. In der durch Aristoteles kanonisierten Unterscheidung der drei Redegattungen steht neben der Gerichtsrede (genus iudiciale) und der Lobrede (genus demonstrativum) die Beratungsrede (genus deliberativum), deren Funktion darin besteht, Urteile im Blick auf Zukunft zu fällen, wohingegen die Gerichtsrede vergangenheitsorientiert ist und die Lobrede sich auf die Gegenwart bezieht. Auch in modernen Konzeptionen der Rhetorik wird auf die aristotelische Unterscheidung verschiedener Denkweisen – dem philosophischen Denken (sophía), dem wissenschaftlichen Denken (epistémē) und dem prudentiellen Denken (phrónēsis) – zurückgegriffen, um zu betonen, dass praxisorientierte, also prudentielle Sprachen als religiöse, ethische, politische und juristische Sprachen dieselbe Struktur haben wie Umgangssprachen (vgl. Ueding 1992, Sp. 1447 ff.). Im Blick auf Beratung bedeutet dies, dass »das Medium der Verständigung (…) nicht Wahrheit (ist); ihr Ziel ist nicht das Verstehen von Wahrheiten im Sinne ihrer Erkenntnis, sondern Koordination von Meinungen und der sie Äußernden. Meinungen erscheinen somit als soziale Instrumente, als Werkzeuge sozialer Lenkung«. Demnach ist die »Rationalität prudentiellen Denkens … durch Aussagerationalität abgestützt, d. h. durch assoziative Argumentation, die einen Konsens stützen, jedoch nicht autoritativ festigen kann«. Der Beeinflussungserfolg dieser Art von Kommunikation basiert nicht auf Macht, Herrschaft, Gewalt oder Drohung, sondern auf »Zustimmungsbereitschaft«: »Auf diese nicht auf Gehorsam beruhende Zustimmungsbereitschaft kommt es bei dem dialogischen Charakter an, allerdings nicht idealiter, sondern in Wirklichkeit, sofern die Wirklichkeit der Rede nicht fremdbestimmt ist oder unter Einschränkung der Freiheit steht« (ebd., Sp. 1452 f.).

Mit der dritten Perspektive rücken gesellschaftliche Bedingungen der Beratung in den Mittelpunkt:

Als eine Grundform der Kommunikation ist Beratung maßgeblich abhängig von der jeweils gegebenen Struktur des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft und unterliegt dementsprechend deren Entwicklungen und Veränderungen. Durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse erhöhen sich einerseits die Freiheitsgrade für Individuen, andererseits nehmen eben dadurch zwangsläufig Orientierungsprobleme zu. Dies gilt nicht nur hinsichtlich des Beratungsbedarfs, der sich kollektiv und individuell ergibt, also gleichsam quantitativ, sondern auch qualitativ hinsichtlich des dafür verfügbaren Wissens sowie in Bezug auf die Formen, zu denen Beratung jeweils sozial kondensiert und so ihre spezifische Gestalt gewinnt. Mit Blick auf moderne Lebensverhältnisse hat Beck in seiner Studie über die »Risikogesellschaft« für den kategorialen Wandel im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft den Begriff »Individualisierung« wieder aufgenommen; und Individualisierung bedeutet »Herauslösung aus traditionalen Lebenszusammenhängen« (1986, S. 213). Klasse und Schicht, Familie, Alters-, Geschlechts- und Berufsrollen verlieren ihren prägenden Charakter und »der oder die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen« (ebd., S. 209, H.i. O.). Durch diese Entwicklungen werden auch die Lebensläufe aus vorgegebenen Fixierungen gelöst, sie werden offener, damit abhängiger von individuellen Entscheidungen und so gleichsam als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt. Die sozial vorgegebene wird in eine selbst hergestellte und herzustellende Biographie verwandelt, und die Individuen müssen lernen, sich als Gestalter ihrer Lebensläufe zu begreifen (vgl. ebd., S. 216). Dies gilt auch angesichts gesellschaftlicher Widersprüche (z. B. zwischen Ausbildung und Beschäftigung), die gleichsam in den Individuen stecken bleiben und nun dort biographisch bearbeitet werden müssen (vgl. ebd., S. 218 f.). Damit wächst allerdings auch die belastende Einsicht, dass schwierige Lebenslagen und Krisen nicht mehr vornehmlich als unabänderliche Schicksalsschläge, sondern vor allem auch als Folge falscher oder unterlassener Entscheidungen erfahren werden. Insofern macht es durchaus Sinn, die moderne Gesellschaft als »Beratungsgesellschaft« (vgl. Fuchs/Pankoke 1994; Schützeichel/Brüsemeister 2004) zu charakterisieren.

Die vierte Perspektive bezieht sich auf das Verhältnis von Beratungsbedürfnissen und Beratungsbedarf:

Diese schlicht anmutende Unterscheidung ist vor allem für die empirische Beratungsforschung von Bedeutung. Der Ausdruck »Beratungsbedürfnis« bezieht sich auf eine individuelle Disposition, da in vielen Fällen unklar ist, ob ein Bedürfnis nach Beratung sich auch durchsetzen kann, angemessen wahrgenommen und am Ende vielleicht auch befriedigt werden wird, anders gesagt: ob wir zum Klienten werden, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Demgegenüber bezieht sich der Ausdruck »Beratungsbedarf« auf eine gesellschaftlich erkannte und anerkannte Lage, auf die dementsprechend durch Bereitstellung von Ressourcen reagiert wird (z. B. die Erziehungsberatung). Manchmal dauert es sehr lange, bis sich Beratungsbedürfnisse zu einem Beratungsbedarf verdichten. Und selbst dann bleibt offen, ob für eine ganz bestimmte Frage in einer besonderen sozialen Umgebung (z. B. im ländlichen Raum) überhaupt eine entsprechende Hilfestellung verfügbar ist oder gemacht werden kann. Dass das Internet gerade vor diesem Hintergrund eine ständig wachsende Bedeutung erlangt hat, wird leicht verständlich, werden auf diesem Wege doch Beratungsbedürfnisse öffentlich, an die man in etlichen Fällen kaum je gedacht haben dürfte.

Die fünfte Perspektive bezieht sich auf den institutionellen und organisatorischen Rahmen einer Beratungssituation:

Manchmal, zum Beispiel unterwegs im Zug, wird aus einem Gespräch zwischen einander unbekannten Reisenden ein Beratungsgespräch. Aber wenn der eine aussteigt, ist diese durch Zufall entstandene Interaktion wieder zu Ende. Institutionen und Organisationen hingegen stellen bestimmte Leistungen auf Dauer und sorgen im sozialen Verkehr primär für Verlässlichkeit und Konstanz. Sie folgen dabei eigenen Regeln und färben bestimmte Beratungssituationen auch dem jeweiligen Zweck der Organisation entsprechend ein (bei der Schwangerschaftskonfliktberatung beispielsweise spielen weltanschauliche Orientierungen eine gewichtige Rolle). Institutionen und Organisationen rahmen mithin solche Situationen und gewinnen dabei – eben als »Rahmen« – eine Bedeutung, die nicht negiert werden kann. Und manchmal (z. B. bei einigen Angeboten der Bundesagentur für Arbeit) kann es dazu kommen, dass der Zweck der Organisation den eigentlichen Beratungsbedürfnissen gar nicht oder kaum entspricht; dann wird Beratung zu einem ideologischen Begriff, dessen Verwendung dementsprechend eine ideologiekritische Analyse verlangt.

Mit der sechsten Perspektive werden diejenigen Probleme in den Blick genommen, die dadurch entstehen, dass sich aus einem alltäglichen Sprechakt ein Beruf oder gar eine Profession entwickeln kann:

Im Alltagsleben ist Beratung ein mitgängiges Phänomen der Kommunikation, dessen wir uns gelegentlich bedienen, wenn eine bestimmte Situation diese Form der Rede erforderlich macht. Insofern kommt Beratung immer dann zur Geltung, wenn im Bekannten- oder Freundeskreis Menschen Lösungen für Probleme oder schwierige Entscheidungen suchen, wir raten dann so gut wir können.

Zudem gibt es eine Reihe von Berufen, in deren Handlungsspektrum zunächst Beratung gleichsam als eine Teilfunktion genuin enthalten ist (z. B. bei Rechtsanwälten, Ärzten, Psychologen, Geistlichen, Pädagogen). Hier wird auch beraten, aber der Zweck des Berufes ist nicht allein Beratung. Es kann allerdings sein, dass diese Teilfunktion zur Hauptaufgabe wird, etwa dann, wenn ein Lehrer ausschließlich als Beratungslehrer tätig wird, oder ein Geistlicher ausschließlich in einem kirchlichen Beratungszentrum arbeitet, oder ein Arzt nur für die Beratung bei einem bestimmten medizinischen Problem zuständig ist, oder eine Sozialarbeiterin in einer Erziehungsberatungsstelle arbeitet. Dann wird Beratung zum Beruf, zu einer hauptamtlichen Tätigkeit. Schließlich gibt es Berufe, die »nur« der Beratung in einer bestimmten Hinsicht dienen, z. B. im Falle der Steuerberatung. Die mit der Verberuflichung der Beratung verbundenen Probleme sind äußerst vielschichtig; sie werden daher in einem eigenen Kapitel behandelt ( Kap. 2.4).

Durch die siebte Perspektive rücken die Handlungsprobleme und Wissensformen in den Vordergrund:

Wird nun nach den Handlungsproblemen und Wissensformen der Beratung gefragt, dann rückt damit das operative Problem der Beratung in den Mittelpunkt, also die Rolle des Beraters. Wenn wir für so zahlreiche und verschiedene Sachverhalte denselben Ausdruck verwenden, dann stellt sich in systematischer Hinsicht die Frage, worin die Gemeinsamkeiten des beratenden Handelns eigentlich bestehen. Was muss man können, um wirksam zu beraten, und was muss man dafür wissen? Gibt es in theoretischer Einstellung einen Idealtyp des Beratens, sozusagen eine eigene Grammatik der Beratung, in der die Regeln dieser kommunikativen Form festgelegt sind und denen alle mehr oder weniger folgen, die sich dieser Form bedienen? Lässt sich also, anders formuliert, zumindest in Umrissen eine allgemeine Theorie der Beratung formulieren? Es ist dieser Gesichtspunkt, der die nachfolgenden Abschnitte bestimmt.

Die achte und letzte Perspektive bringt die Wissenschaften ins Spiel:

Eine eigenständige Beratungswissenschaft gibt es noch nicht, und ob es sie je geben wird, ist eine offene Frage. Zwar finden sich gerade in jüngster Zeit Bemühungen, die in diese Richtung weisen. Wissenschaftliche Disziplinen sind jedoch kein Verein, den man einfach gründen und beim Amtsgericht ins Vereinsregister eintragen lassen kann. Vielmehr handelt es sich um (meist lange Zeiträume umfassende) Entwicklungen im Wissenschaftssystem. Gleichwohl stellt sich die Frage, wo und in welchen Formen über Beratung mit wissenschaftlichen Mitteln reflektiert und geforscht wird. Folgt man einem einschlägigen Handbuch (vgl. Nestmann/Engel/Sickendiek 2004), so werden dort vor allem Psychologie, Pädagogik und Erziehungswissenschaft, Sozialarbeit und Sozialpädagogik, Soziologie, Philosophie, Theologie, Gesundheitswissenschaften und Medizin sowie die Rechts- und Wirtschaftswissenschaften als Beratungsdiziplinen aufgeführt. Darüber hinaus unterscheiden die Herausgeber dreizehn eigene Beratungsansätze, nämlich psychoanalytische, kognitiv-behavioristische, klientenzentrierte, systemische, integrative, konstruktivistische, kooperative, lebensweltorientierte, gemeindepsychologische, ressourcenorientierte, lösungsorientierte, narrative und feministische. Ob man nun dieser Sichtweise zu folgen bereit ist oder nicht: Zu klären bleibt, auf welche Weise das Phänomen der Beratung im Wissenschaftssystem für Resonanz sorgt, eine Frage, die an einer späteren Stelle ausführlicher behandelt werden wird ( Kap. 3.4.3).

Die hier zum Vorschein gebrachte Komplexität soll in den folgenden Abschnitten schrittweise und den hier verfolgten operativen Intentionen gemäß reduziert werden. Dafür ist es erforderlich, zunächst die Situation der Beratung zu beschreiben.

Erziehung - Beratung - Psychotherapie

Подняться наверх