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Einleitung

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Wer ein Studium beginnt, hat in der Regel zunächst einige Mühe, sich in dem jeweiligen Fach zu orientieren und zurechtzufinden. Das ist nichts Besonderes. Allerdings: Fächer unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Lehrbarkeit wie auch ihrer Lehrgestalt, und sie organisieren das Studium auf unterschiedliche Weise. Die Pädagogik gehört zweifellos zu den »weichen« Fächern. Das hat für Studierende mancherlei Vorteile. Es hat aber auch Nachteile, denn gerade in »weichen Fächern« ist es nicht leicht, sich angesichts der Vielfalt der Themen und Fragestellungen verlässlich zu orientieren. Schaut man einmal in Vorlesungsverzeichnisse pädagogischer Fachbereiche oder Institute, kann man durchaus den Eindruck gewinnen, als hätte sich Jean Paul als Curriculumkonstrukteur nachhaltig in Szene gesetzt, denn in der Vorrede zu seiner 1806 erschienenen Schrift »Levana oder Erziehlehre« heißt es: »Über die Erziehung schreiben, heißt beinahe über alles auf einmal schreiben.« Dieses »irgendwie alles auf einmal« dürfte eine einschneidende Erfahrung vieler Studierender sein, die sich für ein Studium der Pädagogik entschieden haben.

Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich hat auch die Pädagogik ihre Ordnungen, die den Gang des Studiums in den unterschiedlichen Ausrichtungen des Faches festlegen und vorschreiben. Und gerade durch jenen Reformprozess, der mit dem Namen einer italienischen Universitätsstadt geschmückt ist, verstärkt sich der Eindruck, als sei nun alles bestens geordnet, in tabellarischen Übersichten und Kombinationstabellen, in Pflicht-, Wahl- oder Wahlpflichtmodulen. Diese äußere Gestalt des Faches soll hier nicht weiter behandelt werden. Gleichwohl lässt sich der Frage nicht ausweichen, in welcher Weise äußere Organisation des Studiums und innere Struktur des Faches miteinander verbunden sind. Nimmt man die innere Struktur in den Blick, kommt zumindest dreierlei zum Vorschein:

Erstens orientiert sich die Lehrgestalt wesentlich an der gegenwärtigen Struktur der Erziehungswissenschaft als Disziplin, nicht aber an Erziehung als einem Phänomen eigener Art und den damit verbundenen Möglichkeiten und Grenzen erzieherischen Handelns, kurzum: die »Reflexion über Erziehung« scheint im Mittelpunkt zu stehen, nicht aber »das Erziehen« selber.1 Zweitens fehlt es an einer Systematik, die es erlaubte, die Vielfalt der Themen und Fragestellungen so aufeinander zu beziehen, dass erkennbar wird, was diese miteinander verbindet, voneinander unterscheidet und was sie von den Zugriffsweisen anderer Disziplinen trennt. Es mag zudem gelegentlich der Eindruck entstehen, als wäre das Fach an einem Studienort ein anderes als an einem anderen. Drittens, und in unmittelbarem Zusammenhang damit, bleibt offen, wie sich das Studium aufbauen soll, was also die Grundlagen des Faches ausmacht, die zuerst studiert werden müssen, und was dann als Erweiterung oder Ergänzung, als Vertiefung oder Modifikation, danach und darauf aufbauend folgen soll. So gewinnen Studierende vielfach den Eindruck, als müssten sie eben »irgendwie alles auf einmal« studieren, ein Umstand, der durchaus geeignet ist, die Studierlust spürbar zu untergraben und der damit das Fach selbst in den Köpfen schwächt, die sich ihm aufgeschlossen, voller Neugier und mit häufig bewundernswertem Engagement zuwenden.

Natürlich gibt es für diesen Zustand Gründe, die weit in die Geschichte der Pädagogik zurückreichen und sehr eng mit den Besonderheiten ihrer Entwicklung als Disziplin in Zusammenhang stehen (vgl. Keiner 1999; Kraft 2004). Dem wird hier nicht weiter nachgegangen. Man kann aber auch sehen, dass die Pädagogik äußerst einfallsreich ist, ihre systematischen Schwächen zu kompensieren. Auf der Außenseite des Faches geschah dies lange Zeit, immer wieder und geschieht immer noch, durch eine enge Bindung an (Bildungs-) Politik. Das soll hier keine Rolle spielen. Auf der Innenseite des Faches hingegen, und um die geht es hier vor allem, werden systematische Defizite unter anderem durch die fortgesetzte Produktion von immer neuen Enzyklopädien, Lexika, Handbüchern und Einführungen auszugleichen versucht, so, als ahnte man, dass es besonderer Anstrengungen bedürfe, um die Lehrbarkeit der Pädagogik zu sichern.

Auch dieses Buch ist als einführender Text angelegt, wiewohl ihn einige Besonderheiten auszeichnen, die ihn von anderen Einführungen unterscheiden. Denn es geht hier weder um eine Einführung in die Pädagogik insgesamt noch um eine Einführung in eine spezielle Untergliederung des Faches, also z. B. in die Schulpädagogik, die Erwachsenenbildung oder die Sozialpädagogik. Auch geht es nicht um spezifische thematische Zusammenhänge wie z. B. »Erziehung und Geschlecht«, »Pädagogik und Religion« oder »Generation, Erziehung und Bildung«. Vielmehr geht es um die Einführung in eine spezifische Art und Weise, pädagogisch zu denken. Auf den ersten Blick scheint diese Zielbestimmung weder neu noch besonders originell, denn natürlich hat die Geschichte pädagogischen Denkens etliche Schriften dieser Art hervorgebracht. Was soll da noch Neues oder Überraschendes kommen? Warum noch ein weiteres Buch zu diesem Thema, warum noch einmal die alten abgenagten Knochen beschreiben? Wiewohl erst nach der Lektüre zu ermessen ist, ob sie sich denn gelohnt hat, wird im Folgenden der Versuch gemacht, die Leserinnen und Leser dafür zu gewinnen, der hier entfalteten Perspektive des Autors zu folgen.

Erziehung ist ein komplexes Phänomen, und als solches kennt es zunächst weder Fach-, Disziplin- oder Professionsgrenzen. Es ist daher kein Wunder, dass es in verschiedenen Wissenschaften zum Thema wird. Entweder geschieht dies dort in eigenen Gebieten, z. B. in der Pädagogischen Psychologie, der Pädagogischen Soziologie oder der Pädagogischen Anthropologie. Oder Erziehung wird im Zusammenhang zentraler Fragestellungen eines Faches zum Thema, wie z. B. in der Philosophie; oder sie wird, meist didaktisch gewendet, zu einem speziellen Anwendungsfall und kommt dann, wie in der Theologie, als »Religionspädagogik« wieder zum Vorschein. Jede wissenschaftliche Disziplin bearbeitet einen bestimmten Weltausschnitt nach Maßgabe ihrer jeweils leitenden Grundbegriffe und methodischen Möglichkeiten, die beide ihre jeweiligen Grenzen markieren. Ein Phänomen ist allerdings etwas anderes als der wissenschaftliche Zugriff hierauf. Nur in der Erziehungswissenschaft dient Erziehung als Grundbegriff, nur hier ist er zentral. Das wiederum hat zur Folge, dass der Erziehungswissenschaft die Aufgabe gestellt ist, ihren Begriff von Erziehung so zu schärfen, dass er von der Art und Weise, wie in anderen Disziplinen darüber gehandelt und geforscht wird, deutlich zu unterscheiden ist. Man könnte es auch so sagen: In der Pädagogik muss über Erziehung »irgendwie anders« gedacht und gesprochen werden als in anderen Disziplinen, denn sonst bräuchte es sie nicht zu geben, sie wäre schlicht überflüssig und verzichtbar.

Schon der einfach anmutende Satz »Der Grundbegriff der Erziehungswissenschaft ist Erziehung« ist innerhalb der Disziplin nicht unumstritten und vermag unverzüglich heftige Debatten auszulösen, wie auch die Stellung der Pädagogik zu anderen Wissenschaften aus verschiedenen theoretischen Blickwinkeln betrachtet werden kann. Für die hier verfolgten Zwecke soll er gleichwohl als Ausgangspunkt genommen werden. Denn nur dann lässt sich die Anschlussfrage formulieren: Wie begründet die Erziehungswissenschaft ihren Grundbegriff? Die einfachste Antwort lautet wohl: auf ganz verschiedene Weisen. Man kann, um einige Beispiele zu nennen, Erziehung aus der Evolution der Gattung her begründen, die ohne sie gar nicht denkbar ist; oder aus der Anthropologie, die die Sonderstellung des Menschen zum Thema hat; oder aus der Philosophie, indem man nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung überhaupt fragt; oder aus der Ethik, die Werte und Normen in den Mittelpunkt rückt; oder aus der besonderen Funktion der Erziehung für Kultur und Gesellschaft. Diese Aufzählung denkbarer Perspektiven ließe sich noch erweitern, und dass sie alle ihre Berechtigung haben, ist nicht zu bestreiten. Nur: gibt es nicht noch eine einfachere Form der Begründung, eine solche also, die so dicht wie möglich am Phänomen anschließt, ihm gleichsam anhaftet? Die basale Begründung des Erziehungsbegriffs, so lautet die Antwort auf diese rhetorische Frage, findet sich in der Erziehung selbst, genauer gesagt in den Praktiken des Erziehens und in den Formen, in denen diese Gestalt gewinnen. Kurzum: das Erziehen selber liefert die Grundlage für den Begriff der Erziehung.

Für diese Sichtweise gibt es in der Tradition eine gewichtige Unterstützung. Denn es ist Kant, der 1803 in der Einleitung seiner berühmten Schrift »Über Pädagogik« schreibt: »Der Mechanismus in der Erziehungskunst muß in Wissenschaft verwandelt werden, sonst wird sie nie ein zusammenhängendes Bestreben werden« (1978, S. 704). Der Ausdruck »Mechanismus« mag sich für moderne Ohren sehr technisch anhören und Assoziationen an »Mechanik« wecken. Aber natürlich ist Erziehung keine Maschine, und das hat Kant auch nicht gemeint. Er denkt vielmehr an den Zusammenhang zwischen einer Absicht, die sich in einer bestimmten Form des Handelns zur Geltung bringt und auf die dann eine bestimmte Wirkung zu erwarten ist und aller Wahrscheinlichkeit nach auch folgt. In moderner Diktion würde man vermutlich von »soft technology« sprechen, von spezifischen kommunikativen Techniken, die bestimmte Effekte erzeugen. Ein Beispiel mag das veranschaulichen: Wer sich einem anderen empathisch, also einfühlsam, zuwendet, kann nach aller Erfahrung erwarten, dass der andere sich verstanden fühlt. Von dieser Art sind die »Mechanismen«, die Kant vor Augen gehabt haben dürfte. Die Frage ist nun, ob sich in der Erziehung solche »Mechanismen« aufdecken lassen, denn nur dann kommt man der Antwort auf die Frage näher, warum Erziehung funktioniert, warum sie wirkt. Dass sie allerdings nicht immer wie beabsichtigt wirkt, ist dabei kein Einwand, sondern ein Umstand, dem theoretisch Rechnung getragen werden muss. Dass sie aber nicht immer so wirkt, wie gedacht, heißt ja nicht, dass sie überhaupt nicht wirkt. Diesen Tatbestand kann man sich leicht an einem Beispiel aus dem Alltagsleben verdeutlichen: Wenn wir mit anderen sprechen, wollen wir, dass wir verstanden werden. Dass wir nun manchmal nicht verstanden werden, heißt aber nicht, dass Verstehen prinzipiell unmöglich ist. Denn bei einem Missverständnis haben wir die Möglichkeit, es noch einmal, vielleicht mit anderen Worten, zu versuchen. Oft gelingt dann das Verstehen, manchmal allerdings auch nicht. Kommunikative Mechanismen sind also einerseits wirksam, andererseits aber ist ihnen, man könnte sagen: naturgemäß, stets eine Unsicherheit eigen. Genau darin liegt der Unterschied zur Technik, von der wir zu Recht erwarten, dass sie stets verlässlich so funktioniert, wie es ihrer Anlage entspricht: Wenn man das Radio einschaltet, kann man erwarten, dass man etwas hört; man erwartet aber nicht, dass die Kaffeemaschine anspringt. Wenn man einem Kind etwas sagt, erwartet man natürlich auch, dass es dem Gesagten Gehör schenkt, ihm folgt und sich demgemäß verhält – das aber muss, wie jeder weiß, nicht so sein.

Aber hier soll es ja nicht um die Wirkungslosigkeit der Erziehung gehen, sondern in erster Linie um ihre Wirksamkeit. Schon an dieser Stelle ist zu sehen, welche Vorteile es hat, den Begriff der Erziehung aus dem Erziehen selber abzuleiten, ihn gleichsam von unten, von der erzieherischen Interaktion ausgehend, nach oben, zur Reflexion über Erziehung, zu entwerfen. Denn nur so bleibt man gewissermaßen so dicht wie möglich an dem Phänomen, das der Erziehungswissenschaft zu Grunde liegt und das aufzuklären und anzuleiten ihre Aufgabe ist. Eine Besonderheit des folgenden Textes besteht also darin, dass hier ein Erziehungsbegriff verwendet werden soll, der, modern gesprochen, ›bottom-up‹ verfasst ist. Eine solche Sichtweise ist nicht neu, sondern sie hat, als »Operative Pädagogik« gefasst, mittlerweile den Status eines eigenständigen Ansatzes der Allgemeinen Pädagogik gewonnen (vgl. Prange 2005/2012a; Prange/Strobel-Eisele 2006). Dieser Perspektive ist diese Studie verpflichtet, hieran schließt sie an und führt sie weiter.

Wie der Titel anzeigt, geht es im Folgenden nicht nur um Erziehung, sondern auch um Beratung und Psychotherapie. Das scheint auf den ersten Blick nicht zu den bisherigen Ausführungen zu passen, soll es doch primär, so das oben gegebene Versprechen, um die Einführung in eine besondere Form des pädagogischen Denkens gehen. Wieso ist es dann notwendig, sich dazu auf das weite Feld der Beratung zu begeben? Was bringt es, sich in diesem Zusammenhang genauer mit Fragen der psychotherapeutischen Behandlung zu beschäftigen?

Zunächst soll das Gemeinsame dieser drei Begriffe herausgestellt werden. Alle drei stehen für jeweils spezifische Formen kommunikativen Handelns, denn alle drei Begriffe stehen für bestimmte Redeweisen, die ihnen ihre eigentümliche Form verleihen: es wird immer gesprochen (und das natürlich auch dann, wenn geschwiegen wird). In der Tradition ist es die Rhetorik, die über die einzelnen Redegattungen informiert und das diesbezügliche Wissen aufbewahrt. So kennt man das docere als belehren, das consiliare als beraten und die cura animi, die Seelsorge als Vorläufer der Psychotherapie seit altersher. Man könnte also in moderner Diktion sagen, dass das Medium – Kommunikation – gleich ist, während die Formen verschiedene Gestalt annehmen. Gleichwohl wird in allen dreien versucht, darin liegt die Bedeutung des Mediums, mit ausschließlich kommunikativen Mitteln auf Einstellung und Verhalten anderer Menschen Einfluss zu nehmen, aber, wie gesagt, auf jeweils unterschiedliche Weise.

Dieser letztgenannte Gesichtspunkt, die Unterschiedlichkeit der Formen, ist es, der Beratung und Psychotherapie für das pädagogische Denken in systematischer Hinsicht interessant macht. Denn damit eröffnet sich die Möglichkeit, genauer zu beschreiben und durchsichtig zu machen, welche Merkmale die jeweiligen Formen charakterisieren. Man kann also gleichsam durch die Form der Beratung wie auch durch die Form der Psychotherapie verdeutlichen, worin das Besondere der pädagogischen Kommunikation zu sehen ist. Es ist wie mit dem Erlernen einer anderen Sprache: studiert man Latein und die dazugehörige Grammatik, sieht man klarer, was diese vom Deutschen unterscheidet (und deswegen ist das Erlernen einer anderen Sprache gerade für die Ausbildung der eigenen Muttersprache so bedeutsam). Genauso ist es in Hinsicht auf das Verhältnis von Erziehung, Beratung und Psychotherapie: alle drei können als eigene Sprachen oder Sprechweisen verstanden werden, und alle drei haben unterschiedliche Voraussetzungen und demgemäß auch eine eigene Grammatik, die die Regeln enthält, wie jeweils gesprochen werden soll (und natürlich auch: wie nicht).

Nun liegt es in der Eigenart des Mediums (Kommunikation), dass gelegentlich der Eindruck entsteht, als verwischten sich die Unterschiede der Formen, als würde, zumindest in Teilen, sozusagen »gleich« gesprochen. Und weil es den Anschein hat, als würde teilweise gleich gesprochen, ergibt sich der Eindruck, auch die Formen seien offensichtlich gleich. Eben dieser Umstand sorgt dann für Irritation oder Verwirrung. Das ist gegenwärtig in vielen pädagogischen Handlungsfeldern zu beobachten. Das »Unterrichten« wie vor allem auch das »Erziehen« haben keinen besonders guten Ruf (und in Deutschland aufgrund unserer jüngeren Geschichte schon gar nicht), das »Beraten« scheint demgegenüber weitaus besser gestellt zu sein und größere Anerkennung zu genießen, und die Psychotherapie schließlich erscheint als hohe Schule kommunikativer Kompetenz. Anders gewendet: ein mangelndes Verständnis pädagogischer Handlungsformen schwächt das professionelle Selbstbewusstsein des pädagogischen Personals. Genau diesem misslichen Umstand soll hier entgegengewirkt werden, denn jede einzelne Form hat nicht nur ihre besonderen Voraussetzungen, sondern auch ihre jeweils eigene Reichweite. Es kann also, nüchtern betrachtet, gar nicht um ein »besser oder schlechter« gehen, sondern ausschließlich um die Frage: Welche Form für welchen Zweck? Insofern besteht ein Ziel der vorliegenden Studie darin, das pädagogische Selbstbewusstsein zu stärken, und zwar, das ist das Besondere, im Durchgang durch andere, eng verwandte Handlungsformen. Indem man sich mit anderen »Sprachen« beschäftigt, soll das Bewusstsein für die eigene – pädagogische – Sprache verfeinert und gestärkt werden. Insofern stehen Unterschiede und Unterscheidungen im Mittelpunkt, sie bilden das eigentliche Thema dieses Buches.

Dieser Akzent auf Differenzen ist nicht ohne Probleme. Denn einerseits ist Beratung mittlerweile ein weit verzweigtes Feld mit einer Vielzahl von theoretischen Ansätzen, Konzepten und Methoden (vgl. Nestmann/Engel/Sickendiek 2004; 2013), wie andererseits gerade auch Psychotherapie als Teil der Psychologie und der Medizin ein komplexes eigenständiges Fachgebiet darstellt. Angesichts der damit verbundenen Materialfülle muss daher versucht werden, sie umsichtig so zu reduzieren, dass gleichwohl die Unterschiede und Unterscheidungen sichtbar und prägnant herausgearbeitet werden können. Das soll, wie in der Gliederung des Inhaltsverzeichnisses deutlich wird, in drei Hinsichten versucht werden, die gleichsam drei Ebenen der Unterscheidung repräsentieren.

Im ersten Kapitel ( Kap. 1) wird es um »Differenzen in operativer Perspektive« gehen, das ist die Ebene der Interaktion, also der spezifischen Form des Sprechens in den drei kommunikativen Praxen. Zunächst einmal müssen die Tatbestände ja phänomenologisch beschrieben und so gesichert werden, dass klar wird, worum es eigentlich geht. Das theoretische Werkzeug, das hierfür vornehmlich verwendet werden soll, ist die »Zeige-Theorie«, da alle drei Formen des kommunikativen Handelns der Sache nach auch als Zeigeformen verstanden werden können. Denn die Zeigestruktur der Beratung ist eine andere als die Zeigestruktur der Psychotherapie, und beide unterscheiden sich von der Zeigestruktur der Erziehung.

Im zweiten Kapitel ( Kap. 2) wird nachgezeichnet, wie die drei Zeigestrukturen berufsförmige Gestalt gewinnen. Denn alle drei Interaktionsformen brauchen Menschen, die sie leibhaftig vergegenwärtigen und sie verwirklichen. In modernen Gesellschaften gibt es dafür Berufe und Professionen, die eben »professionell« handeln und in aller Regel auch dafür bezahlt werden, »Interaktionsagenten« sozusagen. Dafür wird man ausgebildet, muss studieren und bestimmte Praxiserfahrungen sammeln, bevor man selbständig und in jeweils spezifischen Grenzen autonom tätig werden darf. Die Palette pädagogischer Berufe ist weit gefächert, es gibt eine Vielzahl von Ausbildungsgängen und Handlungsfeldern; der berufliche Korridor der Psychotherapie erscheint demgegenüber sehr viel enger zu sein und genießt, wenn er in eigener Praxis ausgeübt wird, zudem den Status einer Profession. Das professionelle Bild der Beratung zeigt sich hingegen äußerst schillernd, denn einerseits gibt es nur sehr wenige eigenständige Beratungsberufe, andererseits wird Beratung in zunehmendem Maße und in immer mehr Bereichen ausgeübt.

Nun schweben die drei Handlungsformen mit den dazugehörigen Berufen nicht im luftleeren Raum, sondern sie sind kulturell fundiert, sozial institutionalisiert und gesellschaftlich organisiert. Durch diese besondere Art der Rahmung gewinnen sie überhaupt erst eine gewisse Verlässlichkeit und Stabilität, denn so werden die jeweiligen Interaktionen von individuellen Umständen, Motiven und Zufällen unabhängiger. In moderner Diktion: diese drei Formen von Interaktion sind Teil von spezifischen sozialen Systemen. Deswegen geht es abschließend im dritten Kapitel ( Kap. 3) um die »Differenzen in systemfunktionaler Perspektive«. Die Erziehung gehört in das Erziehungssystem, während die Psychotherapie Teil des Gesundheitssystems ist. Wie lassen sich diese beiden Systeme theoretisch unterscheiden, und welche Einsichten folgen daraus? Und schließlich: Wo bleibt in dieser Sichtweise die Beratung? Gibt es auch ein eigenes Beratungssystem, oder kommt der Beratung nicht vielmehr eine Sonderstellung zu? Gerade die letzte Frage macht deutlich, dass es durchaus Sinn macht, auch auf systemfunktionaler Ebene den Unterschieden nachzugehen.

Es sind also, zusammengefasst, drei Ebenen, auf denen jeweils Unterschiede und Unterscheidungen zum Thema werden sollen: Operation und Interaktion (Ebene 1), Profession (Ebene 2) und System (Ebene 3); im Vorgriff auf systemtheoretische Einsichten könnte man auch sagen: Interaktion, Organisation und Gesellschaft.

Der Umstand, dass zu jeder der drei genannten Aspekte eine Fülle von Material zur Verfügung steht, kann für die Darstellung nicht ohne Folgen bleiben. Um sich in den komplexen und teilweise auch miteinander verwobenen Sachverhalten nicht zu verlieren, muss also drastisch reduziert und vereinfacht werden. Das ist, wie immer bei Vereinfachungen, nicht ohne Risiko. Denn der Autor läuft Gefahr, sich als »terrible simplificateur« zu erweisen, ein Ausdruck, den Jacob Burckhardt in einem Brief an Preen erstmals 1889 als seitdem häufig verwendeten Lehnbegriff in die deutsche Sprache eingeführt hat, als jemand also, der die Dinge auf grobe und unzulässige Weise vereinfacht, sie dadurch entstellt und ihnen nicht gerecht wird. Allerdings gibt es nicht nur unzulässige, sondern auch zulässige Vereinfachungen. Zulässig sind sie immer dann, wenn mit ihrer Hilfe versucht wird, in komplexe Sachverhalte auf elementare Weise einzuführen (vgl. Benner 2020). Es ist so wie mit dem Erlernen einer neuen Sprache, denn dabei beginnt man ja auch nicht mit grammatikalischen Ausnahmen, Sonderformen, Überschneidungen und semantischen Raffinessen, sondern zunächst mit dem möglichst Einfachen, das dann im Fortgang relativiert, modifiziert und verfeinert wird.

Diesem Prinzip der Darstellung soll hier gefolgt werden. Der Anspruch ist also nicht, mit diesem Text alle Fragen pädagogischen Denkens vollständig und abschließend zu behandeln (und sozusagen en passant auch gleich noch jene der Beratung und Psychotherapie), sondern vielmehr, gleichsam im Sinne einer Minimaldefinition, das herauszuheben und zu sichern, das notwendig gegeben sein muss, wenn pädagogisch gedacht und argumentiert werden soll. Ob das gelingt, lässt sich allerdings erst am Ende beantworten.

Für den Aufbau des Buches und für die Gestaltung der einzelnen Kapitel hat dieses Prinzip (»so-einfach-wie-möglich«) bestimmte Konsequenzen. Es gibt drei Kapitel, die jeweils Differenzen aus drei spezifischen Perspektiven zum Gegenstand haben. Jedes Kapitel beginnt mit einem Abschnitt über »Begriffliche Klärungen und theoretische Werkzeuge«. Hier werden nur die Begriffe eingeführt und erläutert, die für den jeweiligen Abschnitt von grundlegender Bedeutung sind und ohne deren Kenntnis der Gang der Darstellung nicht nachvollziehbar wäre. Danach folgt jeweils der »begriffliche Dreiklang« von »Erziehung – Beratung – Psychotherapie« in Form von drei eigenen kleinen Durchführungen (nur im letzten Kapitel wird aus Gründen einer prägnanteren Darstellung diese Reihenfolge verändert). Am Ende jedes Kapitels findet sich eine Zusammenfassung, in der auch auf Überschneidungen, Grauzonen und theoretische Anschlussmöglichkeiten hingewiesen wird. Es gibt ein umfangreiches Literaturverzeichnis; die Darstellung selbst wird daher von erweiternden Kontexten und theoretischen Hintergründen möglichst frei gehalten.

Das Prinzip der Einfachheit einer Theorie ist ohne Anschauung nicht zu verwirklichen. Begriff und Anschauung sind gleichsam Geschwister des Erkennens, oder, um das berühmte Kant-Zitat nicht zu übergehen: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (Kr.d.r.Vernunft, B 75, WA III, S. 98). In der Anschauung steckt sozusagen das Phänomen, aber um es angemessen zu erfassen, braucht es den Begriff. Insofern könnte man auch sagen: Nichts ist so praktisch wie eine einfache Theorie. Ob diese Ankündigung eingelöst werden kann, muss der folgende Text zeigen.

1 Vgl. dazu das »Kerncurriculum Erziehungswissenschaft« (DGfE 2008), das als Grundlage vieler Studienordnungen dient.

Erziehung - Beratung - Psychotherapie

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