Читать книгу Erziehung - Beratung - Psychotherapie - Volker Kraft - Страница 14

1.2.2 Pädagogisches Zeigen: die Grundform

Оглавление

Das Zeigen ist, das dürfte deutlich geworden sein, zuallererst eine anthropologische Universalie und begründet als solche die Bedingung der Möglichkeit von Erziehung. Das bedeutet aber auch: das Zeigen ist nicht per se, also nicht nur oder nicht ausschließlich pädagogisch. Um es als pädagogische Kategorie spezifisch zu fassen, muss noch etwas hinzugedacht werden und hinzukommen. Aber was? Einige Beispiele mögen das Problem veranschaulichen und die Beantwortung dieser zentralen Frage vorbereiten:

Nehmen wir die Werbung für ein bestimmtes Produkt. Keine Frage, dass es uns »gezeigt« wird, natürlich von seinen besten Seiten, Aufmerksamkeit, Interesse und durch die besondere Form der Präsentation kognitive Dissonanz erregend. Hierbei dient das Zeigen nur einem einzigen Zweck: wir sollen das Produkt kaufen. Oder nehmen wir, ein anderes Beispiel, das Plakat einer politischen Partei: Wir sehen eine Kandidatin, sicherlich von ihrer vermeintlich besten Seite, gleichermaßen Sympathie wie Kompetenz vermittelnd, dazu vielleicht noch einen Slogan, ein Schlagwort oder eine Botschaft. Auch hier ist der Zweck eindeutig: wir sollen sie wählen und später in der Wahlkabine unser Kreuz an der richtigen Stelle machen. Und nun vielleicht ein Beispiel aus dem Mathematikunterricht: Es wird eine neue Formel eingeführt, die wir bisher noch nie gesehen hatten und demzufolge erst einmal überhaupt nicht verstehen. Dann wird sie in ihre einzelnen Komponenten zerlegt, in Beispiele eingebettet, und es dämmert uns, dass sie womöglich an etwas anschließt, was wir schon aus früheren Stunden kennen. (Oder auch nicht.) Schrittweise beginnen wir, mit dieser neuen Formel, den Anweisungen des Lehrers folgend, zu arbeiten, machen dabei Fehler, werden korrigiert, und schließlich, wenn es gut geht, enthüllt sich die ihr inhärente Logik, und wir können nun mit Hilfe eben dieser neuen Formel auf elegante Weise Probleme lösen, denen wir vorher nur mit Unverständnis begegnet sind. Es kann sein, dass unser Tischnachbar die Sache auch nach längerer Zeit immer noch nicht verstanden hat, dann setzen wir uns außerhalb des Unterrichts zusammen und zeigen ihm, wie es geht.

Wie an dem letzten Beispiel zu sehen ist, müssen zwei Bedingungen gegeben sein, damit das Zeigen spezifisch pädagogisch bestimmt werden kann. Die erste (notwendige) Bedingung, die das pädagogische Zeigen von anderen Zeigeformen unterscheidet, ist der Bezug aufs Lernen. Der Sinn der Formel soll sich uns ja erschließen, wir sollen ihn verstehen, damit wir dann, wenn wir sie richtig »gelernt« haben, damit auch etwas anfangen können. In vielen Fällen reicht dafür das Gezeigte allein, denn oft erschließt sich uns ein Sachverhalt unmittelbar, und wir begreifen sofort, worum es geht und »lernen« es gleichsam wie von selbst. In dem Beispiel aus dem Mathematikunterricht war es leider nicht so einfach: die Formel war uns zunächst völlig unbekannt, noch nie gesehen, absolut keine Ahnung. Und doch konnten wir am Ende damit rechnen, ja waren sogar in der Lage, sie einem anderen so zu zeigen, dass auch er es am Ende selbst konnte. Ermöglicht wurde dies dadurch, dass sich etwas zwischen die Formel und unsere Lernbemühungen geschoben hatte: in diesem Fall das unterrichtliche Handeln eines kundigen Lehrers. Was hatte er gemacht? Zunächst wurde die Formel in ihre einzelnen Komponenten zerlegt, dann verdeutlicht, wie diese miteinander zusammenhängen, Anwendungen vorgeführt, dann an zunächst einfachen Beispielen veranschaulicht, schließlich in größere Zusammenhänge eingebettet, dabei eingeübt und Fehler aufgedeckt und besprochen. Damit das Zeigen als pädagogisches gefasst werden kann, muss also noch eine zweite (hinreichende) Bedingung hinzukommen: der Gegenstand (das Zu-Zeigende) muss auf besondere Weise behandelt und für das lernende Bewusstsein sozusagen »zugerichtet«, ihm angepasst und so gleichsam passend gemacht werden. Der Fachausdruck hierfür lautet: Artikulation. Wesentlich für pädagogisches Zeigen sind demnach der Bezug auf Lernen und die jeweils besondere Form der Artikulation dessen, was gelernt werden soll.

Der Ausdruck Artikulation hat eine doppelte Bedeutung, er macht auf zwei verschiedene Sachverhalte aufmerksam, die in einer Operation verbunden sind: zum einen bezieht er sich darauf, dass ein Lerngegenstand in seine Teile zerlegt, also zergliedert wird; und zum anderen bringt er die Zeit ins Spiel, die dafür notwendig ist. Die Sprache selbst zeigt die Verbindung dieser beiden Sachverhalte, zum Beispiel dann, wenn von einer »Reihenfolge« die Rede ist: erst dies, dann das, danach jenes und zuletzt das Ganze. Anders gesagt: Artikulation (ver-) braucht Zeit.

Die pädagogische Operation, so ließe sich das Gesagte abstrakter zusammenfassen, vermittelt also in Gestalt der Artikulation zwischen dem Zu-Zeigendem und dem Lernen. Und im Zeigen sind sowohl der Lerngegenstand als auch die dafür notwendige prozessuale Form enthalten. Das mag sich komplizierter anhören als es ist und bringt noch einmal eine Eigenschaft des Zeigens zum Vorschein, auf die früher schon aufmerksam gemacht wurde: Das Zeigen selbst lässt sich nicht zeigen, denn gezeigt werden kann immer nur »etwas«, das Zeigen verlangt, anders gesagt, notwendig nach einem Gegenstand. Insofern kann man sagen, dass die Grundform einer pädagogischen Operation aus zwei voneinander getrennten Prozessen besteht: »Etwas-Zeigen« und »Etwas-Lernen«. Im Etwas-Zeigen verbinden sich Präsentation (also Objekt/Sachverhalt/Problem/Thema/Lerngegenstand/Zeichen) mit Artikulation (also die jeweils besonderen Formen der pädagogischen Inszenierung in den dafür notwendigen Zeiträumen). Das ist sozusagen die Zeige-Seite der pädagogischen Operation (schlicht gesagt und am Beispiel aus der Schule veranschaulicht: das, was der Lehrer macht). Zur pädagogischen Operation gehört aber notwendig ein Gegenüber, jemand, dem etwas gezeigt wird, ein Kind, ein Schüler, ein Lernender. Dieses Gegenüber soll als »Rezeptions-Seite« der pädagogischen Operation bezeichnet werden, denn hier geht es um etwas anderes, nämlich um Wahrnehmung, Aufnahme in und Verarbeitung durch ein lernendes Bewusstsein. Schon hier sieht man nicht nur, dass eine pädagogische Operation gleichsam als »Zwei-Seiten-Form« begriffen werden muss, sondern auch, dass diese beiden Seiten sehr verschieden sind, denn auf der Zeige-Seite geht es kognitiv anders zu als auf der Rezeptions-Seite. Und man kann auch schon sehen, dass die große Kunst offenbar darin besteht, beide Seiten produktiv miteinander in Verbindung zu bringen, sie aufeinander einzustellen, am besten, sie zu synchronisieren, damit Zeigen und Lernen, wie zwei Zahnräder, ineinandergreifen. Man könnte dies als »pädagogisches Tuning« bezeichnen, das Aufeinandereinstellen und Aufeinanderabstimmen dieser beiden Vorgänge.

Nun ergibt sich allerdings ein Problem: Im vorhergehenden Abschnitt wurde das »Didaktische Dreieck« als basale Figur des Unterrichts verdeutlicht. Jetzt aber ist die Rede von der pädagogischen Operation als einer »Zwei-Seiten-Form«. Einmal drei, einmal zwei, das scheint nicht recht zusammenzupassen, und es stellt sich demnach die Frage, ob beide Modelle überhaupt denselben Sachverhalt behandeln und miteinander kompatibel sind? Dieser Widerspruch ist nur scheinbar und lässt sich leicht auflösen, und zwar so: Im »Didaktischen Dreieck«, das ja mit zwei personalen Rollen (Lehrer-Schüler) und deren Bezug auf einen Lerngegenstand arbeitet, richtet sich das unterrichtliche Handeln des Lehrenden auf die Beziehung zwischen Lernendem und Lerngegenstand. Um aus dieser statischen Betrachtungsweise einzelner Strukturelemente in die formale Grundstruktur einer pädagogischen Operation zu gelangen, muss man in der graphischen Darstellung den Lehrer gewissermaßen auf den sein unterrichtliches Handeln symbolisierenden Doppelpfeil zwischen Schüler und Lerngegenstand schieben, das Dreieck also gleichsam stauchen. Dadurch verwandelt es sich zunächst in eine längliche – und wenn man deren Enden verbindet – schließlich in eine kreisförmige Form, es kann dann sozusagen in Bewegung geraten, wird also dynamisch, und die Struktur einer pädagogischen Situation wird so als ein prozesshaftes Geschehen erkennbar. Damit zeigt sich das grundlegende Schema einer Handlung, eben einer pädagogischen Operation, die auch aus drei Elementen besteht, die miteinander in Wechselwirkung verbunden sind: Präsentation (Etwas-Zeigen) – Artikulation (Formen und Zeiten des Zeigens) und Rezeption (Etwas-Lernen). In der folgenden Graphik wird diese Transformation schematisch und zusammenfassend folgendermaßen verdeutlicht.


Abb. 4: Vom Didaktischen Dreieck zur Pädagogischen Operation

Eine pädagogische Operation besteht im Kern also, wie zu sehen ist, aus zwei voneinander getrennten, aber aufeinander bezogenen Prozessen, sie erweist sich demnach, abstrakter formuliert, als die Einheit einer Differenz. Um diesen Sachverhalt, für den Klaus Prange den Ausdruck »Pädagogische Differenz« eingeführt hat, noch deutlicher hervortreten zu lassen, bietet es sich an, die zwei Seiten einer pädagogischen Zeige-Operation einmal getrennt, jeweils für sich also, zu betrachten. Denn dann versteht man noch besser, warum das Erziehen so schwierig sein kann. Auf der »Zeige-Seite« ergibt sich die folgende Handlungskette: Etwas-Zeigen → Etwas-Artikulieren → Etwas-Gezeigtes-Prüfen. Auf der Rezeptionsseite steht dem eine andere Handlungskette gegenüber, die folgende Gestalt hat: Etwas-Gezeigt-Bekommen → Etwas-Lernen (wahrnehmen, verarbeiten, verstehen, einüben) → Etwas-Gezeigtes-Selbst-Zeigen-Können. Denkt man sich diese beiden verschiedenförmigen Vorgänge wie die zwei Scheiben einer Kupplung, ergibt sich in graphischer Vereinfachung das folgende Bild:


Abb. 5: Der pädagogische »Mechanismus«

Mit diesem schlicht anmutenden Bild ist die Behauptung verbunden, dass immer dann, wenn eine Situation als »pädagogische« gekennzeichnet wird oder werden soll, dieser operative Kern erkennbar sein muss oder zum Vorschein gebracht werden kann. Ist das nicht der Fall, gelingt das nicht, dann ergibt sich als Konsequenz, dass es sich um eine andere Handlungsform handeln muss. Zudem ergibt sich eine weitere, weitreichende Schlussfolgerung: Es ist eben diese Grundform, die alle Bereiche der Erziehung miteinander verbindet, gleichgültig ob es sich um Familie, Kindergarten oder Schule, um sozial- oder heilpädagogische Bemühungen oder auch um die Erwachsenenbildung handelt. Die Rede von der »Grundform« bedeutet allerdings keineswegs, die Sache wäre überall gleich. »Grundform« bedeutet vielmehr, dass es Variationen und Modifikationen geben muss, die sich aus den jeweils unterschiedlichen Aufgaben, Zeiten und Räumen der Erziehung ergeben. Davon handelt der nächste Abschnitt.

Erziehung - Beratung - Psychotherapie

Подняться наверх