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2. Evangelium und Kultur8
ОглавлениеMission ist immer auch Kulturkontakt, lautet eine meiner Prämissen. Die jahrhundertealte Tradition des Christentums im Westen hat das Wissen von den kulturellen Grenzüberschreitungen des Evangeliums auf seinem Weg von Palästina in das heutige Europa allerdings verblassen lassen.9 Niebuhrs drei vermittelnde Antworten sind Spielarten eines Grundtypus, der Christus bzw. das Evangelium und die Kultur in einem spannungsvollen Verhältnis sieht. So unpraktikabel demgegenüber ein radikaler Exklusivismus und der Inklusivismus der Kulturchristen auch erscheinen mögen, als Tendenzen sind sie als die beiden Grundoptionen christlicher Soteriologie auch in den Vermittlungsmodellen präsent.10 Die universale Heilsverhei-ßung in Jesus Christus nimmt alle Menschen in die Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung hinein (Inklusivismus). Zugleich sind dadurch andere Heilswege ausgeschlossen (Exklusivismus). Ich spreche in diesem Zusammenhang von einem Exklusivismus-Inklusivismus-Dilemma.11
Niebuhrs Typologie erweist sich als durchaus übertragbar auf den interkulturellen Diskurs. Eine postmoderne Version des Exklusivismus sind die kulturpessimistischen Polemiken des Briten Lesslie Newbigin. Die Niebuhrschen Akkommodisten sind nicht nur namentlich, sondern auch konzeptionell dem missionswissenschaftlichen Akkommodationsmodell verwandt. Inklusivistische Ansätze werden uns vereinzelt auch späterhin bei unserem Gang durch die christologischen Entwürfe der Dritte-Welt-Theologen noch begegnen.12 Ihrer Grundstruktur nach sind die Inkulturations- bzw. kontextuellen Theologien jedoch dialektische Ausdifferenzierungen des Vermittlungsgedankens.
Exklusivismus
Lesslie Newbigin (1909–1998) war selbst – wenn auch mit Unterbrechungen – über 30 Jahre Missionar in Indien.13 Der Heimgekehrte hat sich noch in fortgeschrittenem Alter mit einer ganzen Reihe von Publikationen zu Wort gemeldet, die die Evangeliumsvergessenheit der westlichen Kultur brandmarken.14
Trotz seiner nie verhohlenen theologischen Nähe zu evangelikalen Positionen war Newbigin immer auch ein engagierter Ökumeniker. Er ist dem traditionellen Kircheneinheitsflügel innerhalb der ökumenischen Bewegung zuzurechnen, wie er sich heute vor allem noch um die Abteilung für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order) sammelt. Newbigin hatte wesentlichen Anteil an der südindischen Kirchenunion (1947). In der Folge wurde ihm das Amt des Bischofs von Madurai und Ramnad übertragen (1947–1959). Für das Amt des Generalsekretärs des Internationalen Missionsrats (IMR; 1959–1961) von seiner Kirche freigestellt, war Newbigin dann der Architekt der Integration dieses Gremiums in den ÖRK. Als erster Direktor der neugegründeten Abteilung für Weltmission und Evangelisation bekleidete er gleichzeitig das Amt eines beigeordneten Generalsekretärs des Weltrates (1961–1965). Nach einer erneuten Zeit als Bischof der Kirche von Südindien in Madras (1965–1974) lehrte er Missionswissenschaft an den Selly-Oak-Colleges in Birmingham (1974–1979). Auch kirchlich blieb Newbigin weiter aktiv. 1978 wurde er zum Moderator der Generalversammlung der United Reformed Church (URC) gewählt. Von 1980 bis 1988 übernahm er dann noch eine Gemeinde in einem sozialen Brennpunkt Birminghams, die ohne sein Zutun von der Bezirksleitung der URC geschlossen worden wäre.15
Newbigin diagnostiziert ein „Verschwinden der Hoffnung“ (1)16 in der Kultur des Westens. Als Wurzel allen Übels macht er die Aufklärung aus, die längst an ihre Grenzen gestoßen sei. Das von Newbigin entworfene Krisenszenario, in schlichter Schwarz-Weiß-Malerei gezeichnet, trägt apokalyptische Züge (36). Die westliche Kultur „ist dem Sterben nahe“ (3), sie „hat keine Zukunft und das Leben daher keinen Sinn“ (25). Als Analogie zu dieser Zeitenwende rekurriert Newbigin wiederholt auf Augustin und seine Epoche. „Eine außergewöhnlich brillante Kultur kam an das Ende ihres Lebens“ (63). Augustins Diktum „Ich glaube, um zu wissen (credo ut intellegam)“ (24) ist Newbigin zufolge signifikant für „die Verschiebung, durch die die klassische Weltanschauung durch die biblische ersetzt und dann – 15 Jahrhunderte später – die Entwicklung [in der Aufklärung] wieder umgekehrt wurde.“17
Wir stehen nun vor einer abermaligen Revision, so lässt sich folgern, die die Aufklärung ablöst und das biblische Paradigma wieder einsetzt. Unter „westlicher Kultur“ subsumiert Newbigin Kapitalismus und Marxismus, die als antagonistische Traditionsströme der Aufklärung (3) das Christentum doch gleichermaßen in den Bereich des Privaten zurückgedrängt haben. Den allgemein anerkannten Referenzrahmen (fiduciary framework) bildet die naturwissenschaftliche Weltsicht (29 f.), in der die Tatsachen über die Werte und der Zweifel über das Dogma gesetzt werden. Zum Garanten des individuellen Strebens nach Glück wurde der Nationalstaat (15). Der Gott der Bibel war dadurch seiner normgebenden und normgarantierenden Funktionen enthoben. Kirche und Theologie haben dieses Paradigma internalisiert und sich selbst auf die Privatsphäre beschränkt. Hier fordert Newbigin eine radikale Umkehr. Er proklamiert das Evangelium als „öffentliche Wahrheit“,18 ohne allerdings plausibel darlegen zu können, was sich für ihn mit diesem Begriff verbindet. Als heimliches Leitbild und ausgemachtes Feindbild zugleich steht ihm dabei der Islam vor Augen, „der heute die einzige globale Ideologie ist, die die herrschende Ideologie herausfordern kann und eine kohärente Alternative anbietet.“19
Unsere muslimischen Mitbürger scheuen sich nicht, den Glauben des Islam als Wahrheit zu proklamieren – als öffentliche Wahrheit, der sich letzten Endes alle unterwerfen müssen.20
Trotz aller Beteuerungen, nicht einer Rekonstituierung des Corpus Christianum das Wort zu reden, will Newbigin doch das Aufklärungsparadigma durch das Evangelium als Referenzrahmen ablösen. Das Plädoyer für die Wiedereinsetzung des Dogmas zieht obsolete Absolutheitsansprüche nach sich. Die Rede vom „engagierten Pluralismus (committed pluralism)“21 nimmt den Pluralismus nicht ernst.22 Richtig ist, dass Kirche und Theologie eine öffentliche Verantwortung haben und wieder diskursfähig werden müssen. In der pluralistischen Gesellschaft ist dies jedoch nur in dem Bewusstsein möglich, mit anderen Sinnangeboten konkurrieren zu müssen. Dies scheint Newbigin bei oberflächlicher Betrachtung auch zu konzedieren. Bei genauerem Hinsehen wird als Kehrseite des Exklusivismus jedoch ein Inklusivismus sichtbar, der vom Erbe der Aufklärung das nicht verschmäht, was der eigenen Position zuträglich ist, ansonsten aber eine Kultur nach eigenem Zuschnitt anvisiert. Das Evangelium soll selbst kulturschaffend wirken. Die Niebuhrsche Polarität ist damit aufgehoben. Diese auf die Spitze getriebene Christus-gegen-die-westliche-Kultur-Attitüde sieht in Christus zugleich den Erfüller einer geläuterten Kultur, die ihre abendländische Abstammung sicherlich nur schwer verleugnen könnte.23
Akkommodation
Akkommodation, die Anpassung der Evangeliumsverkündigung an die jeweilige Kultur, wurde praktiziert lange bevor es den Begriff gab. Das Problem, auf das das Akkommodationsmodell zu antworten sucht, reicht zurück bis zu den Anfängen des christlichen Glaubens. Die sukzessive Ausbreitung des Christentums nach Westen in die griechische, römische und germanische Sphäre, im Süden nach Ägypten, Nordafrika und Äthiopien, sowie im Osten bis nach Indien und China,24 ging einher mit kulturellen Grenzüberschreitungen. Mit der im Gefolge von Kolonialismus und Imperialismus in der Neuzeit einsetzenden Weltmission traf das Evangelium dann auf den globalen Pluralismus der Kulturen und Religionen. Die dabei beobachtbaren Anpassungsbemühungen sind geleitet von der Vorstellung, dass Inhalt und kulturelle Form des Evangeliums klar voneinander zu trennen sind. Wie beim Entfernen der Schale einer Nuss der Kern zutage tritt, lässt sich auch das Evangelium aus seiner kulturellen Hülle lösen. Die in diesem Zusammenhang ebenfalls gebräuchliche Gewand- und Vegetationsmetaphorik spricht davon, dass das Evangelium kulturell neu eingekleidet bzw. in einen neuen kulturellen Nährboden verpflanzt wird.
Als exemplarisch für die Akkommodationsproblematik wird gemeinhin der Riten- bzw. Akkommodationsstreit angeführt.25 Er entzündete sich an der Missionstätigkeit der Jesuiten in Asien. In China hatte Matteo Ricci (1552–1610) die Konfuzius- und Ahnenehrung als zivile Praktiken auch für Christen zugelassen. Er selbst kleidete sich wie ein konfuzianischer Gelehrter. Durch eine Doppelstrategie, Vermittlung westlicher Wissenschaft bei gleichzeitiger Übernahme östlicher Bräuche, versuchte er, in China Fuß zu fassen. Seine Akkreditierung am chinesischen Kaiserhof zeugt vom Erfolg dieser Vorgehensweise. In der Schrift „Die wahre Lehre über Gott“26 sucht Ricci den Nachweis zu führen, dass der Konfuzianismus im christlichen Glauben erst zu seiner vollendeten Form gelangt. Das Buch fand Aufnahme in den Kanon der chinesischen Klassiker.
Roberto de Nobili (1577–1656), ein Ordensbruder Riccis, missionierte unter der Brahmanenkaste in Indien. Im Gewand eines Brahmanen erhob er den Anspruch, mit dem Evangelium das verloren geglaubte fünfte Veda27 nach Indien zurückzubringen. Beide suchten entsprechend der Missionsstrategie ihres Ordens mit ihrer Evangeliumsverkündigung Anschluss an die Oberschicht zu gewinnen. Sie erlernten die Landessprache und studierten die jeweiligen Kulturen und Religionen. Im Grunde vertraten sie eine Theologie, die das Evangelium als Erfüllung der jeweiligen Kultur herausstellt. Der sich daran entzündende Streit war von sehr unterschiedlichen Faktoren bestimmt. Die nach China vordringenden Dominikaner und Franziskaner etwa beurteilten die Riten, wieder entsprechend der Missionsstrategie ihrer Orden, nach der im Volk geübten Praxis und verwarfen sie daraufhin als Aberglauben. Neben dieser Ordensrivalität gab es auch nationale Differenzen zwischen den Missionaren spanischer und portugiesischer Herkunft und kirchenpolitische Rivalitäten zwischen Patronat und Propaganda.
Die theoretische Reflexion setzte mit der Begründung der Missionswissenschaft um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. Der Begriff Akkommodation fand dabei vor allem im katholischen Bereich Verwendung. Thomas Ohm (1892–1962) differenzierte das Akkommodationsmodell dann in den Dreischritt – Akkommodation, Assimilation, Transformation – aus. Akkommodation bezeichnet für ihn die Anpassung der Verkündigung der Kirche an die jeweilige Kultur, Assimilation die Übernahme von Elementen aus dieser Kultur und Transformation ihre theologische Überformung.28
In der protestantischen Diskussion kam in den 1950er-Jahren der Begriff Indigenisierung in Gebrauch, der allerdings wenig Trennschärfe bewiesen hat. Seine Ursprünge liegen in der von Rufus Anderson (1796–1880) und Henry Venn (1796–1873) propagierten Drei-Selbst-Formel für die Selbstständigkeit der Kirchen in den Missionsgebieten – Selbstverwaltung, Selbstversorgung, Selbstausbreitung – und der vor allem für die deutsche protestantische Missionswissenschaft signifikanten Diskussion um „Kirche und Volk“.29 Shoki Coe30 kritisierte den statischen Kulturbegriff und die damit einhergehende Vergangenheitsorientierung dieses Konzepts.
Eine moderne Variante des Akkommodationsmodells sind die in evangelikalen Kreisen entwickelten Übersetzungsmodelle. Charles Kraft spricht unter Rekurs auf den Unterschied von wörtlicher und paraphrasierender Übersetzung von rein formaler Übereinstimmung (formal correspondence) und dynamischer Entsprechung (dynamic equivalence).31
Die Kritik am Akkommodationsmodell lässt sich in den drei Stichworten – statisch, hierarchisch, ekklesiozentrisch – zusammenfassen:
•Der Akkommodation liegt eine statische Vorstellung von Evangelium und Kultur und ihres Verhältnisses zueinander zugrunde. Eine Veränderung der beiden Größen bzw. eine wechselseitige Beeinflussung wird nicht einkalkuliert.
•Das Akkommodationsgeschehen ist hierarchisch strukturiert, zwischen „Missionssubjekt“ und „Missionsobjekt“ besteht ein klares Gefälle.
•Subjekt der Akkommodation ist allein die Kirche.
Dennoch stellt das Akkommodationsmodell gegenüber dem Exklusivismus des extra ecclesiam nulla salus einen deutlichen Fortschritt dar. Die fremde Kultur und Religion der „Missionsobjekte“ wird nicht mehr generell verworfen, sondern jedenfalls erforscht und für die Evangeliumsverkündigung nutzbar gemacht. Diese Instrumentalisierung der Kultur zu einer neuen „Verpackung“ des Evangeliums wird jedoch durch den Kulturwandel und die Eigendynamik des Evangeliums sowie die Prozesse der sich daraus ergebenden Wechselwirkungen konterkariert. Der Schritt vom Akkommodations- zum Inkulturationsmodell ist in der Sache selbst angelegt.
Inkulturation
Das Vaticanum II markiert in der katholischen Theologie auch im Hinblick auf die Frage der Verhältnisbestimmung von Evangelium und Kultur einen Wendepunkt.
•Die Liturgiereform32 folgt der Prämisse, „dass das christliche Volk sie [die Liturgie] möglichst leicht erfassen und in voller, tätiger und gemeinschaftlicher Teilnahme mitfeiern kann“ (Art. 21). Grundlegend ist die Zulassung des Gebrauchs der Muttersprache (Art. 36). Ausdrücklich geregelt wird die „Anpassung an die Eigenart und Überlieferung der Völker“ (Art. 37–40). Die Kirche „pflegt und fördert das glanzvolle geistige Erbe der verschiedenen Stämme und Völker, was im Brauchtum der Völker nicht unlöslich mit Aberglauben und Irrtum verflochten ist, das wägt sie wohlwollend ab, und wenn sie kann, sucht sie es voll und ganz zu erhalten“ (Art. 37). Besondere Erwähnung findet die Initiation (Art. 65) und die Musik (Art. 119). Die Anpassung soll aber auch im Hinblick auf „sakrale Kunst, liturgisches Gerät und Gewand“ erfolgen (Art. 128). Die Entscheidungsgewalt liegt immer bei der Hierarchie, den örtlichen Bischofskonferenzen und Rom.
•Durch die hohe Wertschätzung der Ortskirche rückt die lokale Kultur ebenfalls stärker in den Blick.33
•Die Demokratisierung des Kulturbegriffs in der Pastoralkonstitution34 signalisiert ein erwachendes Bewusstsein für die Dynamik kultureller Prozesse.
Auch wenn die Konzilstexte selbst noch von „Anpassung“ sprechen, haben sie doch den Weg für einen (missions)theologischen Neuaufbruch bereitet, der später unter dem Neologismus Inkulturation firmiert. Die Nähe zur kulturanthropologischen Fachterminologie „Enkulturation“ bzw. „Akkulturation“ einerseits und zum theologischen Begriff „Inkarnation“ andererseits, hat der Vermutung Vorschub geleistet, dass hier eine Verschmelzung dieser Konzeptionen stattgefunden hat. Doch wird dabei oft allzu leichtfertig die distinkte Konnotation der einzelnen Termini nivelliert.
•Enkulturation ist die kulturanthropologische Variante des geläufigeren Begriffs Sozialisation. Gemeint ist das Hineinwachsen des Menschen in seine eigene Kultur, im Kindesalter als Konditionierung, später dann durchaus auch in kritischer Auseinandersetzung mit der Tradition.
•Akkulturation bezeichnet demgegenüber den Kontakt zwischen zwei Kulturen und die dabei auftretenden Wechselwirkungen.
•Der synonyme Gebrauch von Inkulturation und Inkarnation ist wegen der unterschiedlichen Sachverhalte, um die es dabei jeweils geht, von vornherein als nicht adäquat auszuschließen. Aber auch die analogisierende Sprechweise im Sinne einer theologischen Begründungsstruktur ist zumindest problematisch. Sie suggeriert, dass das Evangelium ohne kulturelle Schale verfügbar ist und immer wieder neu inkarniert bzw. inkulturiert werden kann (Kern-Schale Modell).35 Hilfreich ist hier zunächst der Hinweis auf ein kenotisches Inkarnationsverständnis.36
Wenn das Evangelium uns jedoch nur in kulturell vermittelter Form zugänglich ist, ist Mission immer auch Akkulturation. Wird die Ortskirche als Subjekt der Mission gesehen, ist Mission zugleich als ein Prozess der Enkulturation in die jeweils eigene Kultur beschreibbar. Inkulturation oszilliert also zwischen den beiden kulturanthropologischen Konzepten. Im Gegenüber zu Akkommodation bezeichnet Inkulturation einen dynamischen, reziproken Prozess. Er bleibt allerdings weiterhin ekklesiozentrisch. In neueren offiziellen Dokumenten wird der Begriff Inkulturation seiner Bedeutung nach zudem wieder auf das Akkommodationskonzept reduziert.37
Kontextuelle Theologie
Inwieweit sich die katholischerseits im Gefolge des Vaticanum II überall in den Ländern der Dritten Welt formulierten Inkulturations-, Dialog- und Befreiungstheologien im Rahmen eines erweiterten Kulturbegriffs, wie ihn die Pastoralkonstitution des Konzils Gaudium et Spes (Art. 53) vertritt, unter den Terminus Inkulturation zusammenfassen lassen, ist durchaus strittig.38 Ich halte jedoch Kontextuelle Theologie für den Begriff mit der größten Integrationsfähigkeit.
Das Kontextualisierungskonzept ist eine Parallelentwicklung zur katholischen Inkulturationsdebatte im Umfeld des ÖRK. Seinen „Sitz im Leben“ hat es in der Reform der theologischen Ausbildung. Der Theologische Ausbildungsfonds (Theological Education Fund – TEF)39 hat die Kontextualisierung in seinem dritten Mandat zum theologischen Programm erhoben. Auf dieser Grundlage habe ich eine Theorie kontextueller Theologie entwickelt.40 Entsprechend ihrer thematischen Ausrichtung unterscheide ich einen kulturell-religiösen und einen sozio-ökonomisch und politischen Typus kontextueller Theologie. Das Inkulturationsmodell und seine Vorformen Akkommodation, Indigenisierung und Übersetzungsmodelle lassen sich unter dem kulturell-religiösen Typus subsumieren. Den zweiten sozio-ökonomisch und politischen Traditionsstrang bilden die Befreiungstheologien mit ihren Vorläufern Entwicklungstheologie und neue politische Theologie. Später hinzugekommen sind Fragen von Ökologie, Ethnizität und Geschlecht.
Der Konsultationsprozess von EATWOT ist eine Erfolgsgeschichte interkultureller Theologie, weil hier die beiden großen Traditionsströme miteinander verflochten wurden und es zu einem fruchtbaren Austausch gekommen ist. Die Zukunftsfähigkeit der kontextuellen Theologien wird stark davon abhängen, ob es ihren Vertreterinnen und Vertretern gelingt, sich immer wieder neu auf die Mehrdimensionalität ihres jeweiligen Kontextes einzulassen.
Übers. 2: Typologie kontextueller Theologie
kulturell-religiöser Typus | sozio-ökonomisch & politischer Typus |
Akkommodation/Indigenisierung/Übersetzungsmodelle | Entwicklungstheologie/neue politische Theologie |
Inkulturationstheologien | Befreiungstheologien |
kulturell-religiöse, sozio-ökonomisch & politische, ökologische, ethnische und Gender-Dimension
Neben der hier nur noch einmal kurz angerissenen Typologisierung nach thematischen Gesichtspunkten (Übers. 2), habe ich zum Verständnis der Tiefenstrukturen der kontextuellen Theologien ein modifiziertes Modell des hermeneutischen Zirkels entwickelt. Schon bei Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer wird der hermeneutische Zirkel nicht als Zirkelschluss verstanden, sondern als Schema, wie der Verstehensprozess vonstattengeht.41 Während bei Heidegger und Gadamer jedoch die Kunst des Verstehens im Zentrum steht, ist für mich Hermeneutik zugleich Sinnproduktion, die einen Sinnzuwachs des Textes erzeugt.
Unter Theologie verstehe ich dabei nicht nur die akademische oder gar systematische Theologie im engeren Sinne, sondern jegliche Form kritischer Reflexion auf den Glauben. Kontextuelle Theologien am Maßstab westlicher akademischer Theologie messen zu wollen, wird ihnen nicht gerecht, denn von dieser wollen sie sich ja gerade emanzipieren.42 Das hat zu einem epistemologischen Bruch geführt. Im EATWOT-Gründungsmanifest heißt es dazu:
Wir müssen nämlich, um dem Evangelium und unseren Völkern treu zu sein, uns über die Wirklichkeiten unserer eigenen Situation Gedanken machen und das Wort Gottes im Verhältnis zu diesen Wirklichkeiten interpretieren. Eine bloß akademische Theologie, die vom Handeln getrennt ist, weisen wir als belanglos zurück. Wir sind bereit, in der Epistemologie einen radikalen Bruch zu vollziehen, der das Engagement zum ersten Akt der Theologie macht und sich auf eine kritische Reflexion oder die Realitätspraxis der Dritten Welt einlässt.43
Kontextuelle Theologien entstehen im hermeneutischen Zirkel (Abb. 1) zwischen Text und Kontext immer wieder neu. Es sind offene Systeme ohne Anspruch auf Dauer und universale Gültigkeit. Sie reagieren ständig auf die Gegebenheiten des Augenblicks und bleiben darin notwendig fragmentarisch. Jede dieser Interpretationen des Textes ist nur eine punktuelle Sinnfestschreibung, die das Sinnreservoir des Textes nicht ausschöpft. Zugleich stellt jede Interpretation einen Sinnzuwachs des Textes dar, der in der Tradition bewahrt wird.
Abb. 1: Der hermeneutische Zirkel
Die Kriterien müssen im hermeneutischen Prozess selbst gewonnen werden. Aus der Kontext-Perspektive ist die Relevanzfrage an die kontextuelle Theologie gestellt, inwiefern es ihr gelingt, die Relevanz des Evangeliums in der jeweiligen Situation anzusagen (Relevanzkriterium). Die Hinwendung zu den Armen und Unterdrückten in den Befreiungstheologien und das Eintreten für eine Annahme der Menschen in ihrer jeweiligen kulturellen Identität seitens der Inkulturationstheologien sind zwei solcher intersubjektiv zugänglicher Relevanzkriterien. Diese für die betreffenden Kontexte relevanten generativen Themen44 sind zugleich anknüpfungsfähig für zwei generative Themen des Textes: Jesu Hinwendung zu den Armen und Unterdrückten seiner Zeit und die Lehre des Paulus von der Rechtfertigung allein aus Glauben im Kontext der Differenzen zwischen Judenchristen und Heidenchristen. Im hermeneutischen Prozess stellt sich dementsprechend eine zweifache Frage nach dem Kontext. Neben dem Interpretationskontext wird auch der Entstehungszusammenhang des Textes relevant. Gleichzeitig muss die kontextuelle Theologie aus der Text-Perspektive auf ihre Evangeliumsgemäßheit überprüft werden (Identitätskriterium). Dieser hermeneutische Zirkel zwischen Text und Kontext wird fortwährend abgeschritten. Auch Relevanz- und Identitätskriterium sind dabei, wie wir gesehen haben, dialektisch aufeinander bezogen. Aufgrund der zirkulären Struktur kann der Einstieg sowohl über den Text als auch über den Kontext vonstattengehen.
Oberflächlich betrachtet könnte hier leicht der Verdacht eines Zirkelschlusses (circulus vitiosus) aufkommen. Doch verläuft die beschriebene Kreisbewegung nicht zwischen zwei statischen Größen. Der Kontext ändert sich gerade in den Ländern der Dritten Welt aufgrund des kulturellen Wandels und der sozialen Umbrüche ständig. Dabei sind die Kon-Texte selbst auch Texte, Konstruktionen von Wirklichkeit, die von einzelnen Theologinnen und Theologen oder ganzen Interpretationsgemeinschaften geschaffen werden. Kulturelle Renaissancen und mythologische bzw. theologische Rekonstruktionen der Geschichte sind die Folge. Daran entspinnen sich oft hermeneutische Streitigkeiten um die Interpretation der eigenen Kultur und Geschichte zwischen den verschiedenen Interessengruppen innerhalb eines Kontextes. Die Theologie muss sich auf diese Varianten immer wieder neu einstellen. Gleichzeitig erscheint der Text in der veränderten Situation in einem neuen Licht und setzt neue Bedeutungen aus sich heraus. Ich spreche daher im Hinblick auf den Text von einer relationalen Konstante. Wenn der hermeneutische Zirkel aber zwischen einer Variablen (Kontext) und einer relationalen Konstante (Text) ständig fortschreitet, dann ist er kein circulus vitiosus, sondern ein circulus progrediens.
Die aus den drei vermittelnden Antworten Niebuhrs abgeleiteten Prämissen45 gelten auch für das Kontextualisierungsmodell. Allerdings ist die polare bzw. lineare Vorstellung, die Christus auf eine bestimmte Weise zur Kultur ins Verhältnis setzt, durch ein dialektisches bzw. zirkulares Denken abgelöst worden. Im Gegensatz zu Niebuhrs Optimismus, dass durch die Christusbotschaft die Kultur in ihrer Gesamtheit verwandelt werden kann, geht das Kontextualisierungsmodell davon aus, dass im hermeneutischen Prozess zwischen Evangelium und Kultur zwar durchaus etwas Neues entsteht, aber eben innerhalb des Referenzrahmens der jeweiligen Kultur. Aus unserer ersten Prämisse, der doppelten Loyalität bzw. christlich-kontextuellen Bi-Identität, folgt, dass die beiden anderen Prämissen für den hermeneutischen Prozess notwendig auch in ihrer Umkehrung gelten:
•Die Kultur geht nie völlig auf in der kontextuellen Interpretation des Evangeliums. Beim immer wieder erneuten Abschreiten des hermeneutischen Zirkels ergibt sich schon allein aufgrund des kulturellen Wandels ständig eine neue Konstellation.
•Die Kultur ist eine kritische Instanz im Streit der Interpretationen des Evangeliums. Sie eröffnet neue Perspektiven auf den Text und bricht eingefahrene Lesarten auf.
Text und Kontext sind dabei gleichermaßen kritisch immer aus der Perspektive einer Hermeneutik des Verdachts zu betrachten. Juan Luis Segundo hat diesen Begriff in seinen Havard lectures früh auf die Interpretation des Textes angewandt, die feministische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza hat dies auf den Text selbst ausgeweitet, die postkoloniale Kritik ist ihr später darin gefolgt. Musimbi Kanyoro schließlich hat diese kritische hermeneutische Perspektive dann auch für die Kultur bzw. den Kontext eingefordert.46
Ich verstehe den hermeneutischen Diskurs als ein Spiel mit vier Aktanten, von denen jeder einmal die Leitung übernommen hat. Die Autororientierte Hermeneutik will diesen besser verstehen als er oder sie sich selbst (F. D. E. Schleiermacher). Eine Text-orientierte Hermeneutik spricht demgegenüber vom „Tod des Autors“ und der „Autonomie des Textes“ (Umberto Eco). In der Leserin-orientierten Hermeneutik wird dieser eine sinnkonstituierende Rolle zugeschrieben (Wolfgang Iser). Die Kontextorientierte Hermeneutik schließlich ist gewissermaßen exzentrisch auf die drei anderen bezogen, Autor und Leserin haben jeweils ihren eigenen Kontext, und der Text hat über die Jahrhunderte einen Sinnzuwachs in den unterschiedlichsten Interpretationskontexten erfahren. Mit Kwok Pui-Lan votiere ich für eine multi-axiale Herangehensweise, der diese unterschiedlichen Perspektiven, wie ein Prisma gebraucht.47
Die Christenheit ist heute eine globale Erzähl- und Interpretationsgemeinschaft.48 Daraus ergibt sich unser drittes Kriterium: Jede kontextuelle Theologie muss sich der Diskussion auf dem ökumenischen Forum stellen (Dialogkriterium).49
Die Christologie soll mir im Folgenden gewissermaßen als Sonde dienen, die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und ökumenische Lernchancen in den Themenverknüpfungen50 der kontextuellen Theologien aufspürt. Liefert die thematische Typologie dabei das äußere Raster der Gliederung, wird sich im Laufe der Darstellung ein inneres Raster herauskristallisieren, das stärker aus der Text-Perspektive konturiert wird. Bevor wir uns auf den Weg machen, gilt es allerdings, zunächst noch meine systematisch-theologischen Prämissen offenzulegen.