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Einleitung zur ersten Auflage
ОглавлениеVon der systematisch-theologischen Diskussion hierzulande relativ unbeachtet, ist in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas seit Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre eine Vielzahl christologischer Entwürfe von einzelnen Theologen oder theologischen Bewegungen vorgelegt worden. Es handelt sich dabei nur in den seltensten Fällen um ganze Bücher zur Christologie, meistens sind es nur kurze Essays oder einzelne Kapitel in größeren Zusammenhängen. Sie gehören einem theologischen Genre an, das wahlweise der Herkunft nach als Dritte-Welt- oder, der ihnen zugrunde liegenden Methode nach, als kontextuelle Theologie bezeichnet wird.
Der Versuch, sich diesen Theologien über die traditionellen dogmatischen Topoi zu nähern, wird ihrem Anspruch nicht gerecht und ist insgesamt auch wenig erfolgversprechend. Das gilt allerdings nicht für die Christologie. Sie eignet sich wie wohl kein anderes Thema sowohl als hermeneutischer Schlüssel zu ihrem Verständnis als auch als Vergleichspunkt zwischen den verschiedenen Entwürfen. Zudem entscheidet sich an der Christologie letztendlich auch für die Betroffenen selbst, ob der Glaube an Jesus Christus in ihrem Kontext heimisch wird oder nicht.1
Die Auswahl der hier vorgestellten Christologien versteht sich als repräsentativ, Anspruch auf Vollständigkeit erhebt sie nicht. Es ging mir auch weniger um die Darstellung des jeweiligen Œuvres aus dem Blickwinkel der Christologie als vielmehr um die Frage nach wiederkehrenden Themenverknüpfungen und der Vergleichbarkeit der untersuchten Entwürfe. Meine Gewährsleute sind ausschließlich Männer, grob im Alter zwischen 60 und 80 Jahren, einige sind bereits verstorben. Sie gehören der ersten Generation kontextueller Theologen an. Dass bei dieser Einteilung noch viel Verwirrung herrscht, ist mir bewusst. Mein Auswahlkriterium war, dass die Betreffenden über einen längeren Zeitraum theologisch aktiv waren und ihre Werke in westlichen Sprachen, vorzugsweise Englisch und Deutsch, zugänglich sind.
So ist zugleich eine Galerie der großen alten Männer der kontextuellen Theologien entstanden. Ihre theologischen Karrieren begannen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Gefolge säkularer Emanzipationsbewegungen in einer Phase der Dekolonialisierung und Neuordnung der Welt. Um in diesen Umbrüchen diskursfähig zu bleiben, mussten sie ihren Standort als christliche Intellektuelle neu bestimmen und eine pluriforme, kontextuell-christliche Identität ausbilden. Sie bewegten sich dabei oft im Umfeld kultureller Renaissancen und beteiligten sich an einem Streit um die Interpretation der eigenen Geschichte mit anderen gesellschaftlichen Eliten. Katholischerseits war das Zweite Vatikanische Konzil (Vaticanum II) ein weiterer Impuls für solche theologischen Neuaufbrüche.
Der nicht unerhebliche Altersunterschied zwischen meinen Protagonisten liegt in dem epochalen Einschnitt des Zweiten Weltkriegs begründet, der manchen Theologen erst spät zum Zuge kommen ließ. Einige haben sich dem theologischen Aufbruch aber auch erst in fortgeschrittenem Alter angeschlossen. Ein Generationswechsel steht also bevor, ist aber in seinen Konsequenzen noch nicht abzusehen.
Dritte-Welt-Theologie war anfangs reine Männersache. Darin steht sie der ansonsten gerne attackierten westlichen Theologie in nichts nach. Einen Einschnitt markiert hier der von der ghanaischen Theologin Mercy Amba Oduyoye anlässlich der ersten Vollversammlung der Ökumenischen Vereinigung von Dritte-Welt-Theologinnen und Theologen (Ecumenical Association of Third World Theologians – EATWOT)2 in Neu Delhi, Indien 1981 proklamierte „Aufbruch im Aufbruch“.3 Im Schlussdokument des Dialogtreffens von EATWOT mit westlichen Theologinnen und Theologen in Genf 1983 heißt es dazu:
Weder die Männer der Dritten noch die Frauen der Ersten Welt können darüber bestimmen, was Dritte-Welt-Frauen auf ihre Tagesordnung setzen. Die Dritte-Welt-Frauen sind der Ansicht, dass das Problem Sexismus nicht isoliert angegangen werden sollte, sondern im Kontext des gesamten Kampfes um Befreiung in ihren Ländern.4
Heute sind die Theologinnen aus der Dritten Welt längst mit eigenen Beiträgen hervorgetreten. Auch wenn die Altersspanne hier von 40 bis 60 Jahren reicht, rechne ich die Frauen insgesamt der zweiten Generation kontextueller Theologinnen und Theologen zu. Gemeinsam ist den Dritte-Welt-Theologinnen die Beschreibung der Situation der Frauen als „Unterdrückte der Unterdrückten“. Aufgrund ihres Geschlechts werden Frauen nicht nur in den sozio-ökonomisch und politischen Strukturen, sondern auch durch kulturell-religiöse Faktoren unterdrückt. Die Dritte-Welt-Theologinnen nehmen daher oft eine eher inkulturationskritische Haltung ein.
Um dem breiten Spektrum dieser Theologien von Frauen aus der Dritten Welt gerecht zu werden, ist ein eigener Band notwendig, der sowohl die Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit den Theologien ihrer männlichen Kollegen der ersten Generation als auch mit den westlichen feministischen Theologien herausarbeitet.5 Von meinem ursprünglichen Plan, diesem Buch ein Kapitel über die Christologie von Frauen aus der Dritten Welt anzufügen, habe ich mich daher rasch verabschiedet.
Systematisch-theologisch betrachtet wird die Diskussion über die kontextuellen Theologien oft unter der Rubrik „Evangelium und Kultur“ verhandelt. Evangelium bezeichnet dabei traditionell sowohl die Verkündigung Jesu als auch die Verkündigung der Gemeinde über Jesus Christus.6 Wesentlich komplizierter verhält es sich mit der Definition des Begriffs Kultur.7 Ich schließe mich eng an Clifford Geertz an,8 der Kultur als ein von Menschen geschaffenes komplexes Sinngewebe und Symbolsystem versteht, das wir interpretieren müssen wie einen Text.
Der Kulturbegriff, den ich vertrete […] ist wesentlich ein semiotischer. Ich meine mit Max Weber, dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht.9
Ein weiteres Problem bereitet die Verhältnisbestimmung von Kultur und Religion. Geertz deutet Religion als „kulturelles System“:10
eine Religion ist (1.) ein Symbolsystem, das darauf zielt, (2.) starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen, (3.) indem es Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert und (4.) diese Vorstellungen mit einer solchen Aura von Faktizität umgibt, dass (5.) die Stimmungen und Motivationen völlig der Wirklichkeit zu entsprechen scheinen.11
Damit gelten nach Geertz für den Religionsbegriff dieselben Prämissen wie für den umfassenderen Kulturbegriff. Anders als Geertz deute ich das „selbstgesponnene Bedeutungsgewebe“, das Religion demnach ist, jedoch als Ausdruck einer „Resonanzerfahrung“.12 Religiosität ist eine menschliche Grundkonstante. Die Biographie, der menschliche Grundtext schlechthin, ist immer schon auf Transzendenz hin offen. Gleiches gilt für die Sinnwelten literarischer Texte und ganzer Kulturen, die ich als Kontexte betrachte. Religion tritt an dieser Schnittstelle zum Transzendenten auf. Sie ist menschliche Kontingenzbewältigung und Resonanz des Transzendenten zugleich. Im Unterschied zu Geertz nehme ich als akademischer Theologe bewusst eine „religiöse Perspektive“13 ein.
Wenn ich von Religion spreche, meine ich immer die empirischen Religionen. „Die Religion“ als Abstraktum gibt es nicht. Kultur und Religion sind dialektisch aufeinander bezogen und durchdringen sich wechselseitig. Jede Kultur ist von den in ihr vorkommenden Religionen geprägt. Umgekehrt nimmt jede Religion, die in eine andere Kultur eintritt, etwas von ihrer alten Kultur mit, während sich zugleich eine Wechselwirkung mit der neuen Kultur entfaltet.
In unserem Fall heißt das für die Beziehung zwischen Evangelium und Kultur, dass das Evangelium nur in kulturell vermittelter Gestalt zugänglich ist. Mission im Sinne einer kulturellen Grenzüberschreitung des Evangeliums ist dann immer auch Kulturkontakt. In der von Urs Bitterli14 vorgeschlagenen Typologie des Kulturkontakts – Berührung, Zusammenstoß, Beziehung – wären die im Folgenden vorgestellten christologischen Versuche als Kulturbeziehung einzustufen. Westliche theologische Tradition und afrikanische, asiatische sowie lateinamerikanische Kulturen und Religionen treten in eine tiefe Wechselbeziehung. Die dabei ablaufenden theologischen Prozesse sind noch weitgehend offen.
Habe ich bei meiner Studie über die südkoreanische Minjung-Theologie mit empirischer Feldforschung und Interviews gearbeitet,15 gehe ich diesmal bewusst den klassischen Weg rein über die Texte. Der jeweilige Kontext kommt dabei so zum Tragen, wie er sich in den Texten selbst abbildet. Auch die hier verhandelten Kontexte sind also immer schon Konstruktionen von Wirklichkeit.
Der vorliegende Band gliedert sich in drei Hauptteile, deren umfangreichster mittlerer noch einmal in vier Kapitel unterteilt ist. Die fortlaufend durchnumerierten Paragraphen bilden in sich geschlossene Sinneinheiten. Im ersten Hauptteil stecke ich mein Gegenstandsfeld methodisch und systematisch-theologisch ab. Meine Ausgangshypothese ist dabei, dass in den kontextuellen Theologien die biblischen Geschichten und die christlichen Traditionen (Text) einerseits und die Erfahrungen der Menschen vor Ort (Kontext) andererseits in einem hermeneutischen Zirkel dialektisch aufeinander bezogen sind und miteinander „versprochen“ werden (Ernst Lange).16 In diesem Prozess evozieren die biblischen Geschichten diejenigen „generativen Themen“ des Textes (Paulo Freire), die im Kontakt mit den in der konkreten Situation virulenten generativen Themen relevant werden. Die den Text und den jeweiligen Kontext bestimmenden generativen Themen werden also analog der sie tragenden Geschichten miteinander verflochten.
Im zweiten Hauptteil expliziere ich das am Beispiel der kontextuellen Christologien aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Das Raster seiner äußeren Einteilung richtet sich nach geographischen und typologischen Gesichtspunkten (Kapitel A-D). Ich unterscheide für die kontextuellen Theologien entsprechend der sie vordringlich bestimmenden Themen einen sozio-ökonomisch und politischen und einen kulturell-religiösen Typus. Die dem ersten Typus zuzurechnenden Befreiungstheologien tragen stärker den Charakter theologischer Bewegungen, aus denen erst im Nachhinein einzelne Theologen hervortreten. Die kulturell-religiös orientierten Inkulturations- bzw. Dialog-Theologien sind hingegen in der Regel die Denkgebäude einzelner. Während ich unter dem Begriff Inkulturationstheologie das gesamte Spektrum der Auseinandersetzung mit der kulturell-religiösen Dimension des Kontextes zusammenfasse, bezeichne ich als Dialogtheologien eine besondere Spielart dieses Typus. Auch wenn es den Dialogtheologen dezidiert um das Gespräch mit einer anderen religiösen Tradition geht, tragen sie damit indirekt doch auch zu einer Inkulturation des Evangeliums in dem jeweiligen Kontext bei.
Für meine Darstellung habe ich fast durchgängig den Zugang über theologische Parallelbiographien gewählt, der jeweils zwei Theologen aus dem betreffenden Kontext nebeneinanderstellt und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer christologischen Positionen hervortreten lässt. Dahinter steht die Überzeugung, dass neben den kulturell-religiösen, sozio-ökonomisch und politischen sowie ökologischen Faktoren auch die Biographie der betreffenden Theologinnen und Theologen die Kontextualität ihrer Theologie bestimmt. Die einzelnen Paragraphen können als in sich geschlossene Studien auch getrennt gelesen werden. Zusammengenommen lassen sie jedoch ein inneres Raster erkennbar werden, das von den in den unterschiedlichen Kontexten jeweils evozierten christologischen Themen strukturiert wird. Im dritten Hauptteil werden die beiden Raster dann zu einer Systematik kontextueller Christologien überblendet.
Gewissermaßen gerahmt wird meine Untersuchung in Prolog und Epilog durch zwei biblisch-theologische Narrationen, die Leben und Werk von Jesus und Paulus vor dem Hintergrund ihres kulturellen Umfeldes rekonstruieren. Während die Befreiungstheologen das Leben Jesu zum konstitutiven Bestandteil der Christologie erhoben haben, blieb die Theologie des Paulus bisher fast völlig außen vor. Zu Unrecht, wie ich meine, ist doch die Relevanz seiner Rechtfertigungslehre – vor dem Hintergrund kultureller Konflikte, in deren Kontext sie schon bei Paulus steht – für die Diskussion um christliche Identität im Pluralismus der Kulturen und Religionen noch gar nicht ausgelotet.