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2. Die Indios als die Armen Jesu Christi
ОглавлениеBartolomé de Las Casas (1484–1566)6 ist heute zur Symbolfigur für den Widerstand gegen den Genozid der Conquista geworden. Die Befreiungstheologen, allen voran Gustavo Gutiérrez aus Peru (geb. 1928), haben ihn in einem groß angelegten hermeneutischen Konstrukt der Geschichte längst zu ihrem Ahnherren erklärt.7
Der kleine Bartolomé sah die ersten Indianer bereits 1493 in seiner Geburtsstadt Sevilla. Der von seiner ersten „Entdeckungsreise“ zurückgekehrte Christoph Kolumbus führte sie bei seinem feierlichen Einzug in die Stadt im Gefolge. Onkel und Vater Bartolomés schlossen sich Kolumbus auf seiner zweiten Reise an (1493). Der Vater brachte seinem Sohn bei seiner Rückkehr einen Indio-Knaben als Pagen mit (1499). Auf Geheiß Isabellas sollte dieses eigenmächtige Geschenk des Kolumbus an seine verdienten Männer jedoch zurückgegeben und alle Indiosklaven wieder in ihre Heimat überführt werden. Doch vergingen fast anderthalb Jahre bis zur Rückkehr des Indiojungen (1501). 1502 reiste Las Casas dann selbst in die Neue Welt. Er betätigte sich als Goldsucher und Gutsbesitzer (Encomendero). 1506 kehrte er nach Spanien zurück, empfing 1507 in Rom die Priesterweihe und schiffte sich noch im selben Jahr wieder nach Espanõla ein.
Las Casas war zunächst Teil des kolonialen Systems, auch wenn ihm dessen Praktiken im Umgang mit den Indios bereits früh zuwider waren. Durch ihn ist der Inhalt der berühmt gewordenen Adventspredigt des Dominikaners Antonio de Montesino von 1511 überliefert. Die Dominikaner hatten diese Predigt gemeinsam erarbeitet. Den folgenden Abschnitt hat Las Casas in wörtlicher Rede wiedergegeben:
Ihr alle steht in der Todsünde, und in ihr lebt und sterbt Ihr wegen der Grausamkeit und Tyrannei, die Ihr gegen diese unschuldigen Völker ausübt. Sagt, mit welchem Recht und welcher Gerechtigkeit haltet Ihr diese Indios in solch grausamer und furchtbarer Knechtschaft? Mit welcher Autorität habt Ihr solch abscheuliche Kriege gegen diese Menschen geführt, die sanft und friedlich in ihren Ländern waren und von denen Ihr unzählige mit Tod und unerhörten Verwüstungen vernichtet habt? Warum haltet Ihr sie so unterdrückt und gequält, ohne ihnen Nahrung zu geben und sie zu pflegen, wenn sie krank sind, so dass sie von der übermäßigen Arbeit, die Ihr ihnen zumutet, sterben? Oder um es noch genauer zu sagen: Warum tötet Ihr sie, nur um Tag für Tag Gold zu graben und zu gewinnen? Was tut Ihr, um sie zu lehren, dass sie Gott, ihren Schöpfer, erkennen, getauft werden, zur Messe kommen, die Feiertage und Sonntage halten? Sind diese nicht Menschen? Haben sie keine vernünftige Seele? Seid Ihr nicht verpflichtet, sie zu lieben wie Euch selbst? Ihr versteht das nicht? Das fühlt Ihr nicht? Wie könnt Ihr in so tiefen Schlaf der Gefühllosigkeit fallen? Seid sicher, dass Ihr Euch in diesem Zustand, worin Ihr Euch befindet, genauso wenig retten könnt wie die Mauren und Türken, die den Glauben an Jesus Christus nicht haben und ihn auch nicht begehren!8
Es entspinnt sich ein Diskurs über Recht und Sünde, in dem theologische und juristische Argumente eng miteinander verwoben sind. Die Dominikaner bezichtigen die Konquistadoren der Todsünde, weil sie die Indios in ihrer Gier nach Gold ausbeuten und töten. Wer nicht umkehrt und sein Verhalten ändert, dem wird die Absolution verweigert. Gleichzeitig gemahnen sie die Spanier an ihre Pflicht, den Indios das Evangelium zu verkünden. Der spanische König, von den Konquistadoren alarmiert, pocht auf sein Recht, das er aus der päpstlichen Bulle „Inter caetera“ (1493) ableitet. Las Casas wird später argumentieren, dass der König gerade aufgrund dieses Dokuments zur Evangelisierung und Fürsorge für seine Untertanen verpflichtet sei. Der Provinzial des Dominikanerordens wiederum, vom König aufgefordert, seine Frailes zu maßregeln, bezichtigt diese nun seinerseits der Sünde und ermahnt sie, ihrer eigentlichen Pflicht, der Bekehrung der Ungläubigen, nachzukommen und ihre Mission nicht durch ihre Einmischung in die politischen Verhältnisse zu behindern. Die Verknüpfung von theologischer und juristischer Argumentation durchzieht die gesamte Auseinandersetzung um die Praxis der Conquista.
Las Casas scheint vom Inhalt der Predigt tief beeindruckt gewesen zu sein. Ob er sie selbst gehört hat, ist allerdings umstritten. Überhaupt war der Einfluss der Dominikaner, denen er 1522 schließlich beitritt, prägend für seinen Bewusstseinswandel. Bereits 1510 ist er Pedro de Córdoba begegnet, seinem späteren „Seelenführer“, der als Oberer mit einer ersten Gruppe von Dominikanern nach Espanõla gekommen war. 1512 verweigert ein ihm unbekannter Dominikanerpater Las Casas die Absolution, weil er seine Indiosklaven noch nicht freigelassen hat. Im selben Jahr nimmt Las Casas als Feldkaplan an der Eroberung Kubas teil und wird in Caonao Zeuge eines Massakers unter den Indios. Er wird von tiefen Zweifeln gepeinigt. Seine Bekehrung zu den Indios, den Armen Jesu Christi, datiert er auf das Jahr 1514. Inzwischen selbst Encomendero auf Kuba, hat er eine Pfingstpredigt für die dort ansässigen Spanier zu halten. Seine Meditation über Jesus Sirach 34 gerät ihm zum klassischen Fall einer kontextuellen Bibelauslegung. Die entscheidende Bibelstelle lautet:
Opfer aus unrechtmäßig erworbenem Gut sind Opfergaben, die Gott verhöhnen; und Gaben von Menschen, die die Tora missachten, finden keinen Gefallen bei Gott. Die Höchste hat keine Freude an den Opfergaben derer, die Gottes Willen verachten, noch vergibt sie Schuld, weil Menschen besonders viel opfern. Wie solche, die einen Sohn vor den Augen seines Vaters als Schlachtopfer darbringen, so handeln Menschen, die Opfergaben aus dem Hab und Gut von Armen darbringen. Kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt von Armen, wer ihnen das raubt, ist ein Blutmensch. Wie solche, die ihre Mitmenschen umbringen, so handeln Menschen, die ihnen das Lebensnotwendige entreißen, und wie solche, die Blut vergießen, handeln Menschen, die Arbeiterinnen und Arbeitern den Lohn rauben (JesSir 34, 21-27).
Las Casas entdeckt die Armen, von denen die Bibel immer wieder spricht, in den Indios wieder. Seine Erfahrung und der Bibeltext legen sich wechselseitig aus. Diese Erkenntnis radikalisiert ihn.
Nach sorgfältiger Güterabwägung entlässt Las Casas seine eigenen Indios in die Freiheit, auch wenn er befürchten muss, dass sie außerhalb des Schutzes, den er ihnen gewährt hat, von anderen versklavt und hingemordet werden. Dieser Schritt erscheint ihm letztendlich jedoch unerlässlich, um selbst mit dem kolonialen System zu brechen. Nur so kann er die Freiheit erlangen, es zu bekämpfen. Theologisch war die Entdeckung, dass die Indios die Armen des Evangeliums sind, nur der erste Schritt. Es ist nun nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis, dass in den Armen der leidende Christus selbst gegenwärtig ist. Die von Las Casas betriebene friedliche Kolonisierung Venezuelas (1520/21), deren Gewinn dem König zufließen sollte, rechtfertigt er theologisch vor einem seiner Parteigänger mit eben diesem Argument:
Der Kleriker, der um diese Verwunderung wusste, sagte: Señor, wenn Sie sähen, wie man an unseren Herrn Jesus Christus Hand anlegt, ihn schmäht und kränkt, würden Sie nicht mit großer Beharrlichkeit und mit all ihren Kräften darum bitten, dass man ihn Ihnen gäbe, um ihn zu ehren, ihm zu dienen, ihn zu beschenken und mit ihm all das zu tun, was Sie als wahrer Christ tun müssten? Er antwortete: Ja, gewiss. Und wenn diese ihn nicht großzügig hätten geben wollen, sondern Ihnen verkauften, würden sie ihn nicht kaufen? Zweifellos, sagte er, ich würde ihn kaufen. Dann fügte der Kleriker bei: Auf diese Weise also, Señor, habe ich gehandelt. Denn ich ließ von Jesus Christus, unserem Gott, in West-Indien, den man kränkte, ohrfeigte und kreuzigte, nicht einmal, sondern tausende Male durch die Tatsache, dass die Spanier diese Menschen niedermachen und zerstören, ihnen den Raum ihrer Bekehrung und Buße wegnehmen, indem sie ihnen das Leben vor der Zeit nehmen. Und so sterben sie ohne Glauben und ohne Sakramente. Ich habe den Rat des Königs sehr oft angefleht und gebeten, sie sollen ihnen beistehen und die Hindernisse ihrer Erlösung beseitigen, die da sind, dass die Spanier jene, die bereits zugeteilt sind, in Gefangenschaft halten, und auch jene, die noch nicht. Sie möchten nicht beistimmen, dass Spanier an einen bestimmten Ort des Festlandes gehen, wo die Religiosen, Diener Gottes, angefangen haben, das Evangelium zu verkünden, und wo die Spanier auf diesem weiten Land sie mit ihren Gewalttätigkeiten und dem schlechten Beispiel hindern und den Namen Christi lästern. Sie haben mir geantwortet: Das gibt es nicht, denn es würde bedeuten, dass die Frailes das Land besetzt halten, ohne dass der König Nutzen davon hat. Dann sah ich, wie sie mir das Evangelium und in der Folge Christus verkaufen wollten, indem sie ihn geißelten, Backenstreiche gaben und kreuzigten. Ich entschied, ihn zu kaufen, indem ich dem König viele Güter, Einkünfte und vergängliche Reichtümer in der Weise anbot, von der Eure Gnaden wohl gehört hat.9
Las Casas Venezuela-Abenteuer endete in einem Fiasko. Trotz solcher Rückschläge bleibt Las Casas bis zu seinem Tod in hohem Alter ein Anwalt der armen und unterdrückten Indios. Als Theologe argumentiert er mit der Bibel, als Jurist auch mit dem Naturrecht. Politisch hat er es immer wieder verstanden, sich bei Hof als Fürsprecher der Indios Gehör zu verschaffen. Dass Las Casas als Ersatz für die freigelassenen Indios zunächst dem Erwerb schwarzer Sklaven zugestimmt und damit den transatlantischen Sklavenhandel befördert hat, ruht wie ein dunkler Schatten auf dem Lebenswerk dieses Mannes. Selbst wenn er später auch hier eine erneute Umkehr vollzogen und Reue gezeigt hat:
Er [Las Casas über sich selbst] war sich des Unrechts nicht bewusst, mit dem die Portugiesen sie einfingen und zu Sklaven machten. Nachdem er dies erkannte, hätte er den Rat um alles in der Welt nicht mehr gegeben, denn es war immer Unrecht, wenn man sie fing, und Tyrannei, wenn man sie zu Sklaven machte; die Neger haben die gleichen Rechte wie die Indios.10