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1. Auf dem Weg zu einer befreienden Christologie
ОглавлениеNeben Gutiérrez „Theologie der Befreiung“ nimmt sich Leonardo Boffs im selben Jahr erschienenes Werk „Jesus Christus, der Befreier“7 eher wie ein biederes Lehrbuch aus.8 Die Genese aus einer Artikelserie auf der Grundlage seiner Lehrveranstaltungen in Petrópolis9 lässt sich nicht ganz verleugnen, vieles dient schlicht der Wissensvermittlung. Der Autor betont allerdings im Vorwort der englischen Ausgabe, dass die Befreiungsbotschaft verstanden worden sei,10 obwohl er aufgrund der politischen Situation in seiner publizistischen Freiheit stark eingeschränkt war. Auch Boff erhebt den Anspruch, vor dem Hintergrund seines lateinamerikanischen Kontextes zu schreiben,11 will jedoch selber keine Analyse vornehmen. Sein Interesse ist eher systematisch-theologisch ausgerichtet. Ähnliches gilt für Jon Sobrinos12 vier Jahre später veröffentlichtes Werk „Christology at the Crossroads“.13 Wirkungsgeschichtlich betrachtet können diese beiden Bücher dennoch als die Standardwerke lateinamerikanischer Befreiungschristologie gelten.14
Leonardo Boff,15 Brasilianer italienischer Abstammung, wurde 1938 in Concórdia/Santa Catarina als ältester Sohn eines Lehrers geboren. Die Familienverhältnisse waren bescheiden, doch ermöglichte der Vater, selbst ein Jesuitenzögling, allen seinen Kindern eine Universitätsausbildung, auch den Mädchen. Von seinen zehn Geschwistern hat Leonardos jüngerer Bruder Clodovis (geb. 1944) ebenfalls eine gewisse Prominenz als Befreiungstheologe erlangt.16 In der Strenge und Frömmigkeit des italienischen Volkskatholizismus erzogen, tritt Leonardo elfjährig in das kleine Seminar der Franziskaner ein. Er studiert Philosophie und Theologie in Curitiba und Petrópolis, u. a. bei Bonaventura Kloppenburg, später einer seiner schärfsten Kritiker, und Paulo Evaristo Arns, der als Kardinal von Sao Paulo dann zu einem Förderer der Befreiungstheologie wurde, sowie Constantino Koser, von 1967–1979 Generalminister des Franziskanerordens. Bald nach der Priesterweihe (1964) geht Boff zum weiteren Studium nach München (1965–1970), wo er bei Leo Scheffczyk, Heinrich Fries, Karl Rahner, dem Exegeten Otto Kuss, aber auch bei Wolfhart Pannenberg hört.
1970 legt er seine Dissertation über „Die Kirche als Sakrament im Horizont der Welterfahrung“17 vor. Noch im selben Jahr wird Boff als Nachfolger von Kloppenburg auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie an die Philosophisch-Theologische Franziskaner-Hochschule in Petrópolis berufen. Neben seiner eigenen umfangreichen literarischen Produktion entfaltet er eine rege Herausgebertätigkeit im ordenseigenen Verlag Vozes, u. a. für die renommierte Revista Eclesiástica Brasileira und die portugiesische Ausgabe von Concilium. Prägende Bedeutung schreibt Boff seiner Zeit als Priester in einem Slum von Petrópolis zu und seinem Kontakt mit den Basisgemeinden in der Diözese von Acre-Parus im Regenwald des Amazonas.18 Nach massiven Auseinandersetzungen mit der Glaubenskongregation um die Theologie der Befreiung19 schied Boff 1992 aus dem Orden aus und lebt heute als freier Schriftsteller. An der Universität des Staates Rio de Janeiro wurde für ihn ein Lehrstuhl für Ethik und Spiritualität eingerichtet.20
2007 veröffentlichte Clodovis Boff einen Artikel unter dem Titel „Theologie der Befreiung und die Rückkehr zum Wesentlichen“ in der Revista Eclesiástica Brasileira, der einen Bruderzwist auslöste. Gemeinsam mit Gustavo Gutiérrez suchte er hinter den Kulissen die Aussöhnung mit den Bischöfen und dem Papst. Sie unterstützten das Schlussdokument der Fünften Vollversammlung der Bischöfe Lateinamerikas und der Karibik in Aparecida (2007), das sich ausdrücklich zur „Option für die Armen“ bekennt. Clodovis hatte sich bereits 1986 vom Gebrauch der marxistischen Gesellschaftsanalyse in der Theologie der Befreiung distanziert. Inzwischen hatte er sich auch das immer wieder von Kritikern vorgebrachte Argument, die Befreiungstheologie hätte die Armen an die Stelle Jesu Christi gesetzt, zu Eigen gemacht. Zu Unrecht, wie die folgenden Ausführungen zeigen.
Boffs Altersgenosse Jon Sobrino21 ist gebürtiger Spanier (1938). Mit 18 Jahren trat er in den Jesuitenorden ein (1956), zu dessen mittelamerikanischer Provinz er seit 1957 gehört. 1963 erwarb er ein Lizenziat in Philosophie und Geisteswissenschaften, 1965 auch ein Diplom in Ingenieurwissenschaften, beides an der St. Louis Universität, USA. Sein Theologiestudium an der Jesuitenhochschule St. Georgen in Frankfurt schloss er 1975 mit einer Promotion über „Die Bedeutung von Kreuz und Auferstehung in den Theologien von Jürgen Moltmann und Wolfhart Pannenberg“22 ab. Bereits 1969 hatte er die Priesterweihe empfangen. Sobrino lehrte Philosophie und Theologie an der Zentralamerikanischen Universität José Siméon Canas in San Salvador, El Salvador.
Die beiden nun näherhin zu betrachtenden Frühwerke23 zehren noch deutlich von den Doktorarbeiten ihrer Autoren. Sie setzen sich intensiv mit der deutschsprachigen systematischen Theologie und Exegese – im besonderen Maße auch der protestantischer Couleur – auseinander. Nach Struktur und Inhalt laufen sie über weite Strecken parallel.
Boff stellt einen Überblick über die historisch-kritische Jesusforschung (B,1–31) und die hermeneutische Diskussion (B,32–48) an den Anfang. Seine in diesem Zusammenhang genannten fünf Charakteristika einer zukünftigen lateinamerikanischen Christologie (B,43–47) sind die meistzitierten Passagen des ganzen Werkes und dürfen also auch hier nicht fehlen: (1.) der Primat des anthropologischen vor dem ekklesiologischen Element, (2.) der Primat des utopischen vor dem faktischen Element, (3.) der Primat des kritischen vor dem dogmatischen Element, (4.) der Primat des Sozialen vor dem Personalen, (5.) der Primat der Orthopraxie vor der Orthodoxie.
Diese fünf Primate kennzeichnen allerdings eher die Befreiungstheologie als Referenzrahmen im Allgemeinen als eine Befreiungschristologie im Besonderen. Die Gesamtkonzeption des Buches charakterisieren sie nur ungenügend. Die sich hier bereits abzeichnende Kritik an der kirchlichen Hierarchie hat Boff in diversen Aufsätzen expliziert. Für Furore sorgten sie allerdings erst, als er sie in dem Sammelband „Kirche: Charisma und Macht“24 gebündelt vorlegte. Im Rahmen seiner Christologie bleibt die Institutionskritik sekundär. Der hermeneutische Ansatz und der Ausgangspunkt beim historischen Jesus sind die eigentlichen Spezifika.
Zu beidem bekennt sich auch Sobrino bereits auf den ersten Seiten seines Buches (S,1–16). Anhand der Christologien von Rahner, Pannenberg und Moltmann illustriert er die drei unterschiedlichen Zugänge über Inkarnation, Auferstehung oder Kreuz (S,17–40). Seine Einleitung beschließt er ebenfalls damit, dass er die lateinamerikanische Christologie in den Gesamtzusammenhang der Befreiungstheologie einordnet (S,33–37).
Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi bilden bei Boff und Sobrino gleichermaßen den Rahmen für den Aufbau des ersten Hauptteils. Die Verkündigung des Reiches Gottes steht für sie dabei im Mittelpunkt der Wirksamkeit Jesu (B,52 f.; S,41). Sobrino sucht den Zugang über Jesu Glauben (S,79–145) und Gebet (S,146–178), Boff porträtiert ihn als den Befreier im umfassenden Sinne (B,63–79). Im Zentrum des zweiten Hauptteils stehen bei beiden die Unterscheidung von historischem Jesus und kerygmatischem Christus und die Dogmen der Alten Kirche (B,178–205). Bei Boff schließen sich daran einige Ausführungen zu der von ihm vertretenen kosmischen Christologie an (B,206–263). Sobrino fasst seine Überlegungen zur historischen Christologie noch einmal in einer Thesenreihe zusammen (S,346–395). Ein Appendix befasst sich mit dem Christus der ignatianischen Exerzitien (S,396–424). Sobrino hat ein Vorwort zur englischen Ausgabe seines Buches geschrieben (S,xv-xxvi), Boff zu der seinigen einen Epilog (B,264–295).
Dem weitgehend parallelen Aufbau korreliert die Argumentationsstruktur. Es legt sich also nahe, ihre zentralen christologischen Aussagen in vier Thesen zusammenzufassen. Das darin entfaltete christologische Themengeflecht wird in allen Befreiungschristologien variiert,25 auch wenn es selten so gebündelt vorgetragen wurde.
(1.) Befreiende Christologie ist hermeneutische Christologie.
Das Bekenntnis zum hermeneutischen Zirkel als Grundstruktur jeglicher theologischer Reflexion ist ein Gemeingut der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und steht so auch am Anfang der Christologien von Boff (B,5. 39) und Sobrino.26 Bereits die biblischen Schriften bieten einen Pluralismus christologischer Entwürfe (B,5–7. 12; S,5). Es sind dies nach-österliche Glaubenszeugnisse (B,2; S,273), entstanden jeweils in einer spezifischen Situation (B,5–7; S,13). Auch wenn die altkirchlichen Dogmen dieses Differenzierungspotenzial empfindlich reduzieren, um die Universalität der Christusbotschaft zum Tragen zu bringen, gilt doch gleichermaßen auch für sie, dass sie Interpretationen in einer bestimmten Situation sind (B,182; S,318).
Christologie ist, wie alle theologische Rede, kontextuell bedingt. Mit dem sich wandelnden Kontext muss jede Generation ihre Christologie entsprechend neu formulieren (B,1; S,347). Boff und Sobrino haben den Anspruch, dies in der Situation von Armut und Unterdrückung im Lateinamerika der 1970er-Jahre zu tun. Sie proklamieren Jesus Christus als den Befreier. Sobrino verweist dabei auf das „hermeneutische Privileg der Armen“, einer gewissen Korrelierbarkeit der Verhältnisse zur Zeit Jesu mit den lateinamerikanischen seiner Gegenwart (S,12). Boff kann dies unter dem Druck der Verhältnisse explizit erst im Epilog zur englischen Ausgabe tun (B,279). Einige vorsichtige Andeutungen finden sich jedoch in den bereits genannten fünf Primaten (B,43.46 f.). Die Kontextualität ist aber nicht nur eine methodologische Vorgabe, sie ist vielmehr dem christologischen Prozess selbst inhärent. Die Rede von Jesus Christus drängt auf Neuformulierung, gerade, um seine universale Gültigkeit immer wieder zu erweisen (B,12; S,341. 348).
(2.) Befreiende Christologie ist relationale Christologie.
Diese Relationalität Jesu Christi (B,195; S,50. 60) lässt sich an drei Punkten aufzeigen:
•Die Relationalität von historischem Jesus und kerygmatischem Christus.
Die Unterscheidung von historischem Jesus und kerygmatischem Christus zu überwinden, ist das erklärte Ziel von Boff und Sobrino (B,19; S,275. 305).27 Sie holen den historischen Jesus heim in die Christologie (S,79). Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi sind gleichermaßen Gegenstand christologischer Rede. Einer soteriologischen Engführung ist damit gewehrt (B,10; S,8). Um ihren Ausgang beim historischen Jesus zu rechtfertigen, bemühen sich beide Autoren um den Nachweis einer impliziten Christologie in Verkündigung und Wirken Jesu (B,12. 52; S,48. 68), die die explizite nachösterliche Christologie bereits antizipiert. Der historische Jesus und der kerygmatische Christus sind aufeinander zu beziehen (B,19), mehr noch, christologische Aussagen sind überhaupt nur möglich vom historischen Jesus her (S,305). Zugleich kommt dem historischen Jesus damit eine kritische Funktion zu. Jeder christologische Entwurf muss sich an der Jesusgeschichte messen lassen (B,28; S,129. 291).
•Die Relationalität von Jesus, dem Sohn, und Gott, dem Vater.
Ein Aufweis für die implizite Christologie ist die Gottesbeziehung Jesu (B,17; S,60. 105), wie sie sich in seiner Verkündigung, seinem Glauben und Gebet sowie seinem Wirken spiegelt. Jesus verkündigt weder sich selbst noch einen fernen Gott, sondern das Reich Gottes (B,37. 52; S,41), dessen Anbruch er verheißt und in seinem Wirken bereits vorwegnimmt (B,54. 142; S,47 f. 68). Der eschatologische Vorbehalt bleibt gewahrt (B,55; S,63). Jesus glaubt an einen in der Geschichte gegenwärtigen Gott (S,44), dessen Handeln sich exemplarisch im Exodusgeschehen manifestiert hat. Heilsgeschichte und Weltgeschichte sind eins. Bereits Jesu Leben, seine Verkündigung und sein Wirken – erst aus nachösterlicher Sicht dann auch Tod und Auferstehung – lassen in Jesu Bezugnahme auf den Vater Gott selbst offenbar werden.
•Die Relationalität von Gott Vater, Sohn und den Menschen.
Hat sich in Jesus Christus einerseits Gott offenbart, so ist er andererseits zugleich das Bild des vollkommenen Menschen (B,197. 204 f.). Gleichzeitig werden die Armen und Unterdrückten, in denen Jesus Christus gegenwärtig ist (Christus praesens), zum Bild des „Andersseins“ Gottes (S,368). Christologische Aussagen sind immer gleichzeitig auch Aussagen über Gott und den Menschen.
Die Relationalität ist eine hermeneutische Kategorie. Um das ‚vere homo, vere deus‘ (B,194) aussagen zu können und im Gleichgewicht zu halten (B,183), muss christologisches Reden den historischen Jesus und den kerygmatischen Christus, Gott Vater und Sohn und die Gläubigen stets zueinander in Beziehung setzen.
(3.) Befreiende Christologie ist inkarnatorische Christologie.28
Die Dreiheit von Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi bildet bereits den inkarnatorischen Spannungsbogen ab. Boff und Sobrino sind an diesem Punkt von der katholischen Tradition geprägt (B,155. 188; S,124). Jesu Tod am Kreuz liegt in der Konsequenz der Menschwerdung unter den kleinen Leuten und seines ganzen Lebensweges. Die Überwindung des Todes in der Auferstehung gibt der Gegenwart im Leiden eine eschatologische Dimension. Die Auferstehung ist ein Impuls für die Befreiungshoffnung, der oft allerdings nur implizit wirkt, vermittelt durch den inkarnatorischen Spannungsbogen. Gedacht wird hier eindeutig aus der Perspektive der Kenosis ins Leiden.
Trotz der schwach ausgeprägten Pneumatologie haben beide letztendlich einen trinitarischen Ansatz (B,253 f. 259).29 Während Boff jedoch unverhohlen Sympathie für kosmologische Spekulationen bekundet, stellt Sobrino im Gefolge Moltmanns den gekreuzigten Gott ins Zentrum seiner Überlegungen. Boff denkt vom Kosmos her und auf den Kosmos hin. Christus ist der Schöpfungsmittler und der Allversöhner. Sobrino reflektiert demgegenüber stärker das innertrinitarische Geschehen. Der Geist ist für beide das Medium der Kommunikation ad intra (B,253) wie ad extra.
(4.) Befreiende Christologie ist Nachfolgechristologie.
Wie Jesus seinen Glauben nicht nur in der Verkündigung des Reiches Gottes artikuliert, sondern auch in seinem Wirken sichtbar werden lässt, so müssen auch seine Anhänger umkehren (B,64; S,57) und im Glauben und in Werken in seine Nachfolge treten (B,231. 245; S,50). Nicht imitatio Christi im Sinne eines reinen Nachahmens (S,132), sondern ein Leben in der Nachfolge, das die Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes in Jesus Christus in der jeweiligen Situation relevant werden lässt (B,220; S,12), und aktive Reich-Gottes-Arbeit sind hier gefordert (S,50). Erst in der Nachfolge Jesu wird Christologie überhaupt formulierbar (S,108. 275).
Die Interdependenz der vier genannten Kennzeichen befreiender Christologie ist deutlich. Relationalität ist das Movens des hermeneutischen Zirkels. Wenn Gott sich in Jesus Christus offenbart, die Glaubenden ihn aber erst in der Nachfolge Jesu richtig kennenlernen, sind das hermeneutische Vorgänge, die sich der Relationalität von Gott Vater, dem Sohn und den Gläubigen verdanken.