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2. Der in den Armen gegenwärtige Christus

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Es ist das bleibende Verdienst von Boff und Sobrino, durch die Übernahme der Inkarnations- und Nachfolgechristologien aus der Tradition und ihre hermeneutische und relationale Durchgestaltung die Befreiungstheologie auf eine solide christologische Grundlage gestellt zu haben. In ihren Frühschriften ist jedoch nur angelegt, was schon bald zum Proprium der Befreiungstheologie werden sollte: die Wiederentdeckung der Gegenwart Christi in den Armen. Derjenige, der gekommen ist, den Armen das Evangelium zu verkünden, ist aus nachösterlicher Perspektive – als der Auferstandene – selbst in den Armen dieser Welt gegenwärtig (Mt 25). Was Bartholomé de las Casas zu Zeiten der Conquista für die Indios proklamiert hatte, wird nun zur guten Nachricht für die Armen des gesamten Subkontinents. Die Befreiungstheologie gibt damit nicht zuletzt eine eigenständige Antwort auf die Theodizeefrage. Die Kenosis Jesu Christi, seine Gegenwart im Leiden, spricht den Armen kontrafaktisch30 zu ihren Lebensverhältnissen eine Würde vor Gott zu. Die Christologie erlangt dadurch identitätsstiftende Funktion. Im Zuspruch des Mit-Seins Jesu Christi gewinnen die Armen ihre Selbstachtung zurück.

Der 1989 in San Salvador von den Todesschwadronen ermordete Ignacio Ellacuría31 geht noch einen Schritt weiter, wenn er von einer „historischen Soteriologie“ (823) spricht. Das gekreuzigte Volk ist nicht nur „die geschichtliche Fortdauer des Lebens und des Todes Jesu“ (835), sondern darin auch „Fortführer des Erlösungswerkes Jesu“ (838).32 Den zweiten Punkt erläutert er jedoch nicht weiter (vgl. 849). Es ist vor allem dieser aktivische Aspekt, der zu heftigem Widerspruch gegen die Befreiungstheologie geführt hat. Die Rede vom gekreuzigten Volk kann sich jedoch auf die Tradition der Gottesknechtslieder berufen. Es entwickelt sich eine neue Martyriologie, die nicht nur die ermordeten Priester und einfachen Gläubigen, die in der Nachfolge Jesu ihr Leben ließen, umfasst, sondern auch jene unbekannten Opfer der Unterdrückung, die nach Jon Sobrino ein materiales Martyrium33 erlitten haben. Sobrino selbst ist nur durch Zufall der Todesschwadron der Armee entgangen, die seinen Ordensbruder Ellacuría und fünf weitere Ordensmitglieder, sowie die Haushälterin und ihre Tochter auf dem Gelände der Universidad Centroamericana (UCA) ermordet haben.

Die Aufnahme des generativen Themas der Gegenwart Jesu Christi in den Leiden der Armen und Unterdrückten in der Befreiungstheologie ist gewissermaßen eine moderne Variante von Luthers hermeneutischer Grundregel, „dass Gott nur in Leiden und Kreuz zu finden ist“.34 Die Befreiungstheologen ‚nennen die Dinge beim rechten Namen‘.35 Anders als Luther entwerfen sie allerdings eine korporative theologia crucis.36 Dieser Gemeinschaftsbezug ist konstitutiv für die Befreiungstheologien, deren afrikanische und asiatische Varianten wir am Ende dieses Ganges durch die christologischen Entwürfe der Dritten Welt näherhin in den Blick nehmen werden. Zunächst einmal wenden wir uns aber den Christologien zu, die im Kontext der Kulturen und Religionen Afrikas und Asiens entworfen wurden.

Interkulturelle Christologie

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