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Die Zweiteilung der Menschheit
ОглавлениеIn Europa entstand der Gedanke einer globalen Migrationsordnung mit der »Entdeckung« und der kolonialen Besiedelung Amerikas. Damals kam die Frage auf, wie man die Inbesitznahme und Unterwerfung des neuen Kontinents und seiner Menschen überhaupt rechtfertigen kann. Waren nicht alle Menschen gleichermaßen Geschöpfe desselben Gottes? Wir sprechen von einer Zeit, in der sich die bekannte Welt plötzlich ins Unermessliche ausdehnte, auch wenn man immer noch glaubte, dass sich die Sonne um die Erde dreht und das Universum mit den Kategorien des alten christlichen Glaubens verstanden werden kann. Eine Schlüsselfigur dieser Zeit ist der spanische Mönch und katholische Theologe Francisco de Vitoria, der das Recht auf globale Bewegungsfreiheit verteidigte – allerdings nur für Europäer und Christen.
Seine Vorlesungen »Über die Indianer«, gehalten in den Jahren von 1537 bis 1539 an der Universität Salamanca, verdeutlichen einmal mehr, dass es jeder europäischen Konzeption einer Migrationsordnung von Anfang an immer auch um die Förderung von globaler Mobilität ging, nicht nur um deren Einschränkung. Kurz nachdem die spanischen Eroberer von der mexikanischen Golfküste kommend ins bereits besiedelte Land ausschwärmten, um es zu erkunden und physisch in Besitz zu nehmen, suchte Vitoria nach guten Gründen, um die Conquista – diese ganz besondere Art von transatlantischer Migration – zu rechtfertigen. Das bis heute Verblüffende an seinen Ausführungen ist, dass er einige Argumente vorbringt, die eine Utopie offener Grenzen zu stützen scheinen.
Der Theologe akzeptiert den Gedanken, dass die Erde eine Art Allmende ist, die von ihren Bewohnern nur treuhänderisch verwaltet wird und nicht von den Nationen in Parzellen aufgeteilt und mit Zäunen umgeben werden darf. Daraus folgt, dass die Spanier das Recht haben, überallhin zu reisen und sich aufzuhalten, wo es ihnen beliebt, jedenfalls so lange, wie dies »nicht mit einem Schaden für die Barbaren einhergeht«. Die Indios, die er Barbaren nennt, haben sich an das universelle Gebot zu halten, dass es »unmenschlich« ist, »Fremde und Reisende ohne besonderen Grund schlecht zu behandeln«.[45] Dieses Gebot gilt für den Verkehr zwischen Europäern und amerikanischen Ureinwohnern genauso, wie es für den Verkehr zwischen Spaniern und Franzosen gilt. Beide sollen jeweils in das andere Land reisen und sich dort niederlassen dürfen, sofern den aufgesuchten Fremden daraus kein Nachteil entsteht.
»Sie jagen uns fort vom gastlichen Strande«, zitiert der spanische Theologe aus der Aeneis des lateinischen Dichters Vergil. Es ist ein denkwürdiger Satz, der genauso von Flüchtlingen heute stammen könnte oder von denen, die in den vergangenen Jahren Geflüchtete im Mittelmeer gerettet und manchmal vergeblich versucht haben, sie an Land zu bringen. In der Antike galt die Weigerung, in Friedenszeiten fremde Schiffe am eigenen »gastlichen Strand« anlegen zu lassen, als ein sicheres Zeichen barbarischer Verkommenheit. Das Wasser, die Meere und auch die Häfen gehören allen, schreibt Vitoria. Deshalb »dürfen Schiffe von jeder beliebigen Richtung her anlegen«.[46]
Vitoria geht freilich einen Schritt weiter, da für ihn auch diejenigen Barbaren sind, die, wie es zumeist der Fall war, die Spanier willkommen hießen und nicht verjagten. Die Indios haben mit ihrer Willkommenskultur für Europäer, die sie bald bereuen sollten, ihre Pflicht im Sinne des europäischen Völkerrechts erfüllt. Für Vitoria sind sie trotzdem Barbaren, wenngleich keine natürlichen Sklaven. Sie sind »nicht vollkommen verrückt, aber sie unterscheiden sich nur wenig von Verrückten«.[47] Zwar haben sie als Menschen gewisse Rechte, aber deutlich weniger als christliche Europäer. Denn sie sind halb verrückt und unkultivierte Einfaltspinsel, die sich gegen die Natur versündigen (eine Chiffre für unerwünschte Sexualpraktiken). Außerdem wollen sie aus Tradition Menschen opfern und sie »zur Speise machen«. Deshalb, so Vitoria, müssen sie »der Leitung weiserer Leute überstellt werden«.[48] Die barbarischen Praktiken der Indios rechtfertigten, wie später der NS-Jurist Carl Schmitt in seiner Darstellung Vitorias hämisch anmerken sollte, »humanitäre Interventionen«.[49] So einfach ist das: das zivilisierte Europa gegen die Barbaren, Katholiken gegen Kannibalen. Die einen wollen mit den Menschen global verkehren, die anderen sie lokal verzehren.
Soweit das Weltbild Francisco de Vitorias, der zu den Gründervätern des modernen Völkerrechts zählt. Mit ihm war der Gedanke der Freiheit der Meere und damit auch eines Rechts auf globale Bewegungsfreiheit entstanden. Damit einher ging der Gedanke einer Pflicht zur Gastfreundschaft einschließlich der Öffnung der Häfen für alle. Allerdings waren die Rollen für diejenigen, die das Recht zum Reisen, und diejenigen, die die Pflicht zur Gastfreundschaft hatten, höchst ungleich verteilt. Diese Rollenverteilung beruhte auf dem Bild, das sich Spanier vom Wesen der Indios machten, die sie für hoffnungslos rückständig hielten. Was für die Migration von spanischen Soldaten, Kaufleuten, Missionaren und Siedlern galt, sollte daher keinesfalls auch für die Indios gelten. Dass sich in ferner Zukunft auch die Nachfahren von Indios auf den Weg nach Europa machen könnten, mochte sich Vitoria nicht vorstellen. Erst viel später ließ sich der Aufklärer Charles de Montesquieu auf das Gedankenspiel ein, wie es denn wäre, wenn eines Tages »Indianer und Mestizen«[50] in Spanien landen würden, um sich dort niederzulassen und ein neues Leben anzufangen, ohne den Einheimischen schaden zu wollen. Wäre das nicht fair und vorteilhaft für alle Beteiligten?