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Kapitel 1 Jemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen
ОглавлениеMigration und Migrationsangst in der neuen Weltordnung
Die großen Tore werden geschlossen und verriegelt. Ich versuche den Feldwebel der Wache zu überreden, dass er die Fischersleute hereinlässt. »Sie sind in Todesangst«, sage ich. Wortlos dreht er mir den Rücken zu. Über unseren Köpfen stehen die Soldaten auf den Stadtmauern, die vierzig Männer, die zwischen uns und der Vernichtung postiert sind, und starren hinaus über den See und in die Wüste.[10]
J.M. Coetzee, Warten auf die Barbaren
Die Bilder ähneln sich und strömen in schneller Abfolge auf uns ein: Ein junger oder mittelalter Mann, weiß, ledig und, wie wir später erfahren, sexuell frustriert, stürmt mit Pistolen oder einem Maschinengewehr in einen Supermarkt in El Paso, Texas, in eine Moschee in Christchurch, Neuseeland, in eine Synagoge in Pittsburgh oder in eine Shisha-Bar in Hanau und tötet in kurzer Zeit so viele Menschen, wie er kann – bis er festgenommen oder erschossen wird oder sich selbst richtet. Vorher war er viel im Internet unterwegs, wo er seinen Hass auf Flüchtlinge, Schwarze, Latinas, Muslime, Jüdinnen oder Ausländer aller Geschlechter und Altersgruppen ins Maßlose verstärkte. In einem Pamphlet erklärte er vor der Tat, dass die von ihm aufgesuchten Opfer einer feindlichen, verschworenen Gruppe angehören und eine Lebensgefahr für das eigene »Volk« darstellen. In dem Pamphlet werden Begriffe aufgenommen, die aus der Sprache der legalen Politik oder sogar der Regierung bekannt sind. Von Migranten als »Invasoren« oder von der drohenden »Umvolkung« ist die Rede.
So die wiederkehrenden Nachrichten über Angriffe auf Menschen, die aussehen oder sprechen, als seien sie von irgendwoher eingewandert. Die Angriffe folgen einem Muster mit hohem Wiedererkennungswert. Ebenso eingespielt sind die Reaktionen der Öffentlichkeit auf diese Taten. Die einen sprechen wortreich davon, wie »sprachlos« sie seien, und behaupten, dass der Angriff »uns allen« gegolten habe, während er in Wirklichkeit nur den Mitgliedern ganz bestimmter Minderheiten galt, die von der Mehrheit und vom Staat nicht geschätzt und folglich auch nicht ausreichend geschützt werden. Andere zeigen Verständnis für den Hass oder offene Schadenfreude.
Keineswegs sprachlos sind in der Regel die Überlebenden der Anschläge sowie die Angehörigen und Freundinnen der Opfer, die mit jeder abgefeuerten Kugel mitgemeint waren. Nach einem Massaker im August 2019 an irgendwie südamerikanisch aussehenden Kundinnen in der Cielo Vista Mall in El Paso machten sich in den Einwanderermilieus der USA Angst und Wut breit. Rasch fanden diese Emotionen eine Sprache. »Werde ich der Nächste sein?«, fragten sich Latinos wie zum Beispiel Andrew Torres, ein 24-jähriger Absolvent der Universität in El Paso: »Will I be next?«[11] Die gleiche Frage konnte man ein halbes Jahr später auf einer Demonstration nach einem rassistischen Anschlag in Hanau hören. »Bin ich vielleicht die Nächste, weil ich schwarze Haare habe?«
Rassistische Massaker in den USA oder in Deutschland sind bei all dem nur die Spitze des Eisbergs. Im Jahr 2017, für das die deutsche Polizei erstmals Daten zur Gewalt gegen Muslime gesammelt hat, gab es mindestens 950 Angriffe auf Moscheen und andere muslimische Einrichtungen, darunter Brandanschläge, Morddrohungen, Hassbotschaften auf Hauswänden, Angriffe auf Frauen, die ihr Haar bedecken, oder die Entweihung von Gebetsräumen mit Schweineblut.[12] Ist es das, was passiert, wenn die Grenzen geöffnet werden und immer mehr Migranten »zu uns« kommen? Sind Spaltung und Zerfall der Gesellschaft eine Konsequenz von Einwanderung? Droht gar ein neuartiger Bürgerkrieg, der sich langsam zusammenbraut aus verstreuten Gewalttaten, wachsendem Misstrauen und einer verrohten öffentlichen Sprache?
Nach dem Blutbad an Besuchern einer Shisha-Bar in Hanau im Februar 2020 kommentierte Michael Klonovsky, ein bekannter Redenschreiber der AfD, dass der »Bürgerkrieg zwischen ethnisch-kulturell auf einem Territorium zwangsvermischten Gruppen« das vorhersehbare Ergebnis jeder Politik sei, die die »Aufnahme von Fremden« übertreibe. Die Präsenz der Fremden »kitzelt aus Menschen, die diesem verantwortungslosen Experiment ausgesetzt werden, einen der elementarsten Instinkte heraus: das Revierverhalten«.[13] Die Fremden – das sind die, die zu anders sind und von denen es zu viele gibt; folglich müssen sie weg. Das Denkmuster, das dieser Sprache zugrunde liegt, folgt zwar keinem Instinkt, ist aber tatsächlich alt und begleitet die globale Migrationsgeschichte wie ein konstantes Störgeräusch im Hintergrund. Wenn wir genau hinhören, bemerken wir einen unauffälligen Wechsel zwischen Argumentation und Drohung. Es ist wie in Gangsterfilmen, in denen der Schutzgelderpresser sagt: »Wenn du nicht zahlst, wird es Ärger geben.« Der Angesprochene weiß, dass der Erpresser hier nicht einen objektiven Kausalzusammenhang beschreibt, sondern etwas anderes meint: »Wenn du nicht zahlst, mache ich Ärger.« Das ist kein Argument, sondern eine Drohung.
Die neurechte Migrationskritik, die sich gegen offenere Grenzen ausspricht, versteckt sich hinter falschen Tatsachenbehauptungen. Der Rassismus wird als eine normale, vorhersehbare Reaktion auf Migration dargestellt. Wenn dies wahr wäre und Menschen instinktiv wie Wölfe ihre Reviere gegen Eindringlinge verteidigen würden, wäre es tatsächlich verantwortungslos, »revierfremde« Individuen in den menschlichen Wolfsgebieten auszusetzen. Aber den konstruierten Kausalzusammenhang gibt es nicht. Der Rassismus ist keine natürliche, vorprogrammierte Reaktion auf Migration, sondern eine formbare Haltung. Er beruht auf einer bestimmten Art, die Wirklichkeit der anderen zu lesen.
Der genannte Redenschreiber ist nur einer von vielen, die einen kausalen Zusammenhang zwischen der Öffnung von Grenzen – oder auch nur der Rettung von Migrantinnen im Mittelmeer – und der wachsenden, oft geradezu hysterischen Abwehrhaltung gegenüber Einwanderern und Geflüchteten in der Bevölkerung nahelegen. Wer für offene Grenzen für alle eintritt, vermehrt demnach unabsichtlich die Zahl derer, die für geschlossene Grenzen eintreten. Die Migrationskritik deutet jedes kriminelle Vergehen eines Asylbewerbers, jede Rangelei zwischen nordafrikanischen Jugendlichen und Bademeistern im Freibad, jede verschleierte Frau auf der Straße als ein Zeichen an der Wand, das vom kommenden großen Krieg der Kulturen kündet – um im nächsten Schritt diese Deutung dem Publikum als die einzig richtige vorzutragen.
Diese Art der Migrationskritik ist beunruhigend realitätsfern und manchmal geradezu abergläubisch. Ich erinnere an den Bundestagsabgeordneten, der sich vor einiger Zeit über ein bekanntes Modehaus in Stuttgart beschwerte. Der Grund: In den Schaufenstern des Hauses waren Puppen mit Kopftüchern zu sehen – modische Kopftücher, wie sie einst Sophia Loren im Cabrio trug. Für den bedauernswerten Abgeordneten waren die ausgestellten Schaufensterpuppen allerdings keine harmlosen Werbemittel, sondern ein besonders perfides Medium der schleichenden »Islamisierung« Deutschlands und Europas. Überall sehen manche Menschen »Zeichen« des kommenden Unheils. Die vermeintliche Islamisierung ist dabei keineswegs das einzige Gespenst, das durch abendländische Köpfe geistert. Französische Intellektuelle wie Alain Finkielkraut warnen bereits vor der nicht minder großen Gefahr einer »Afrikanisierung Europas«.[14]
Der paranoide Euro-Nationalismus, der von solchen Gespenstern umgetrieben wird, ist eine Antwort auf die tiefe Unsicherheit und den fehlenden Konsens unserer Gesellschaften in der Frage des Umgangs mit Migration und Asyl. Eine andere Antwort ist der strikte Humanitarismus der Befürworter einer Seebrücke über das Mittelmeer und anderer Pro-Asyl-Aktivistinnen. Weißer, »identitärer« Nationalismus und weltbürgerlicher Humanitarismus sind Neuorientierungen in einer Gesellschaft, deren Mitglieder sich jedoch mehrheitlich noch nicht sicher sind, was sie überhaupt wollen sollen.