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Anfänge und Aufstieg der Mobilitätskontrolle

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Zu Lebzeiten Francisco de Vitorias hatten territoriale Grenzen kaum praktische Bedeutung für Reisende, weder in Europa noch anderswo. Es gab weder Reisepässe noch Personalausweise. Der moderne Nationalstaat lag noch in weiter Ferne. Reisen war anstrengend und gefährlich. Räuber und wilde Tiere konnten einem in die Quere kommen, aber niemand, der Ausweise kontrollierte. Allenfalls brauchte man manchmal Empfehlungsschreiben, um unbehelligt das Gebiet einer weltlichen oder auch geistlichen Landesherrschaft durchqueren zu können. Außerdem wurden an bestimmten Stellen Zölle auf mitgebrachte Waren erhoben. Europa ähnelte darin dem islamisch-arabischen Reich, in dem Grenzen, abgesehen von der physischen Grenze zwischen Land und Meer, für reisende Muslime keine Rolle spielten. Auch hier mussten zwar Zollgebühren entrichtet werden, aber nicht an territorialen Grenzen, sondern an den Toren von Städten. Nichtmuslime brauchten das Zertifikat eines beliebigen muslimischen Bürgen oder einer Bürgin, um auf islamischem Gebiet ohne Steuerverpflichtungen zu verweilen. Während sich heute die politische Macht gerade an den Staatsgrenzen zeigt, war es bis in die frühe Neuzeit so, dass die Macht mit zunehmender Distanz zu der Stadt, wo die Herrschaft ihren Sitz hatte, abnahm und ausfranste. Wo heute scharf gezogene Grenzen die Reisenden aufhalten, existierten damals Zonen des Übergangs zwischen verschiedenen Herrschaftszentren. Die Idee eines identitätsstiftenden »nationalen« Territoriums war Muslimen ebenso fremd wie christlichen Europäern.[51]

Allerdings galt die Reisefreiheit nur eingeschränkt für Frauen, deren Platz zu Hause sein sollte. Erst im 19. Jahrhundert traten auch sie langsam als autonom Reisende in Erscheinung. Keine Reisefreiheit gab es außerdem für unfreie Untertanen auf dem Land. In Europa konnten Gutsherren bis ins 18. Jahrhundert den Bewegungsradius ihrer Knechte und Mägde beliebig einschränken und kontrollieren. Die Grenze der Welt lag für diese weitgehend rechtlosen Frauen und Männer nicht weit hinter der Grenze des Gutshofs, auf dem sie arbeiteten. Auf die Einschränkung des Rechts, woanders zu sein, reagierten die Betroffenen nicht selten mit Flucht.

Tatsächlich waren Flucht und Abwanderung immer ein großes Problem von Wirtschaftsordnungen, die auf unfreier Arbeit beruhten. Dies galt in besonderem Maße für die europäischen Kolonien. Die Spanier hatten Glück, dass die zentral- und südamerikanischen Regionen, in die sie vorstießen, dicht besiedelt waren. Allein Tenochtitlan (heute Mexiko-Stadt) hatte 1519, als die spanischen Eroberer es erstmals erblickten, bereits 150000 bis 200000 Einwohner und war größer als jede spanische Stadt der damaligen Zeit. Das Reservoir an Indios, aus dem die Kolonisatoren kontinuierlich Arbeitskräfte für die Silberminen von Mexiko oder Peru rekrutieren konnten, war nahezu unerschöpflich.

Im britisch dominierten nördlichen Amerika war die Lage eine ganz andere. Die Beziehungen zwischen Siedlern und Ureinwohnern waren von tiefem Misstrauen geprägt. In Virginia suchten die einheimischen Powhatan-Indianer die Nähe der Kolonistenfamilien manchmal nur aus einem einzigen Grund – um sie zu töten. So etwa im März 1622, als sie die Bevölkerung der Siedlung Jamestown dezimierten. Vor dem Hintergrund solcher Ereignisse erschien es vielen Grundbesitzern lebensgefährlich, Indianer in feste Beschäftigungsverhältnisse zu integrieren oder sie gar zu Zwangsarbeit zu verpflichten. Dort, wo sie es versuchten und überlebten, etwa in Maryland, mussten die Siedler feststellen, dass die neu gewonnenen Feldarbeiter bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Nimmerwiedersehen von den Plantagen ins Innere des Landes verschwanden.[52]

Die Gefährlichkeit der indianischen Ureinwohner für die Siedler und ihre Familien sowie ihre extreme Fluchtneigung waren ein zentraler Grund für die Einfuhr und den Einsatz afrikanischer Sklaven auf den Plantagen im Süden der USA. Sklaven sind im Unterschied zu anderem Dienstpersonal Menschen, denen ihre körperliche Freiheit und damit ihre Bewegungsfreiheit mit Gewalt genommen wurde. Weil das so ist, dürfen sie, wie Hobbes mit dankenswerter Klarheit schrieb, »rechtmäßig ihre Fesseln und ihr Gefängnis aufbrechen und ihre Herren töten«.[53]

Meistens jedoch zogen auch die Sklaven die Flucht vor, ähnlich wie europäisches Dienstpersonal oder zur Arbeit zwangsverpflichtete Ureinwohner. Fliehen war dabei mehr als das bloße Weglaufen vor der Herrschaft. Die Organisation der Flucht kam einer komplexen sozialen Unternehmung gleich. Sklaven fälschten ihre eigenen Entlassungspapiere, organisierten großräumige Netzwerke von Helfern und Verstecken, ließen sich in Kisten von den Plantagen ihrer Herren schmuggeln, sangen Gospels mit verschlüsselten Nachrichten oder versuchten, wenn sie hellhäutiger als andere waren, als Weiße oder als freie »Mulatten« durchzugehen. Vor allem aber übten sie sich in der Kunst der genauen Beobachtung ihrer Überwacher, eine Praxis, die die kanadische Autorin Simone Browne mit dem französischen Wort sousveillance bezeichnet, was so viel heißt wie: Wachsamkeit von unten.[54]

Die durch Flucht errungene Freiheit war immer zerbrechlich, weil europäische Gutsherren und amerikanische Sklavenhalter ihre entflohenen Arbeitskräfte weiträumig suchen ließen, um sie wieder einzufangen und zu bestrafen. In den USA gab es regelrechte Steckbriefe für entlaufene Sklaven, auf deren Ergreifung Belohnungen ausgesetzt wurden. Die Höhe der Belohnungen richtete sich nach dem Wert des flüchtigen »Eigentums«. Umgekehrt warnten in Städten wie Boston lokale Unterstützerinnen die Flüchtlinge auf Plakaten vor Polizisten, die als »Sklavenfänger«, »Kidnapper« und »Bluthunde« bezeichnet wurden.[55]

Die Sklaverei und der Kampf für ihre Abschaffung bildeten somit ein großes Experimentierfeld: Erstmals knüpften private und öffentliche Herrscher die Gewährung unterschiedlicher Grade von Bewegungsfreiheit an die Hautfarbe. Mit der Amerikanischen Revolution weitete sich dieses Feld ins Transnationale, nachdem versklavte Afrikaner versuchten, hinter die britischen Linien zu gelangen. Berühmt ist das Beispiel der 3000 schwarzen Loyalisten, die nach New York flohen, um sich dort 1783 registrieren und dann als freie People of Color in die kanadische Atlantikprovinz Nova Scotia evakuieren zu lassen. All das erinnert von weitem an heutige Zustände – Menschen, die vor Gewalt und Unterdrückung fliehen, Helferinnen, die sich vor die Geflüchteten stellen, schließlich Städte und Länder, die den Ruf sicherer Häfen genießen.

Überall begann man mit selektiven Grenzschließungen zu experimentieren. Staatsgrenzen wurden nicht mehr nur als durchgezogene Linien auf der Erde verstanden, sondern zunehmend auch als stufenlos verstellbare Filter, mit denen man unerwünschte Personen draußen halten konnte, während andere Personen Einlass fanden. In Europa galt die Faustregel, dass sich die Durchlässigkeit von Außengrenzen mit dem jeweiligen sozialen Stand der Reisenden veränderte. Angehörige der unteren sozialen Klassen hatten es schwerer als andere, ungehindert Grenzkontrollen zu passieren. Wegen der politisch unruhigen Zeiten um das Jahr 1848 herum ließ man in Österreich und Deutschland reisende Handwerksgesellen besonders lange an Grenzkontrollen warten, wo sie allerlei Fragen und Demütigungen zu erdulden hatten. Das britische Ausländergesetz (Alien Act) von 1905 sah gründliche Grenzkontrollen nur für die ausländischen Passagiere der untersten Kabinenklasse von Schiffen vor, während die besser Untergebrachten ohne Kontrolle passieren konnten. Ähnliches galt für Reisende aus Russland, die an der Ostgrenze des Deutschen Reichs aus den Zügen geholt und sogar desinfiziert wurden, wenn sie die billigen Plätze gebucht hatten.[56] Da, wo Ausweiskontrollen ohne Rücksicht auf den sozialen Stand einer Person eingeführt wurden, etwa an den Außengrenzen des kaiserlichen Österreichs seit 1853, kam es immer wieder zu heftigen Beschwerden bürgerlicher Reisender aus Sachsen und anderen Provinzen, die bis in höchste Kreise ihr Recht auf Bewegungsfreiheit reklamierten.[57] Ein Sprecher der sächsischen Grenzpolizei empörte sich 1862 über das vergleichsweise strenge österreichische Grenzregime und bezeichnete Sachsen wegen seiner relativ offenen Grenzen als »Land der Humanität«.[58]

Gegen das Selbstlob, ein Land der Humanität zu sein, sprach, dass sich die Mitglieder der unteren sozialen Klassen nicht einmal in ihrer Heimat frei bewegen konnten. Handwerker unterlagen der Pflicht, Arbeits- und Wanderbücher mit sich zu führen. Im Königreich Sachsen war jeder Aufenthalt von mehr als 24 Stunden an einem Ort, wo man als Fremder galt und unbekannt war, meldepflichtig. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine Gendarmerie eingerichtet, deren Aufgabe darin bestand, die Reisetätigkeit der Bevölkerung im eigenen Land zu kontrollieren. Niemand sollte aus der Reihe tanzen. Wandergesellen wurde gelegentlich unter Androhung von Strafen eine bestimmte Marschroute vorgeschrieben, auf der sie sich, so eine polizeiliche Anordnung aus dem Jahr 1844, »ohne Abweichung vom graden Wege«[59] zu einem vorgeschriebenen Ort zu bewegen hatten. Die »körperliche« oder auch »natürliche Freiheit«,[60] von der Hobbes sprach, wurde durch Passkontrollen, Dienstbücher und Wanderverbote zunehmend eingeschränkt.

Aber schon damals war klar, dass den Menschen an der Freiheit der Bewegung gelegen war und sie nicht bereit waren, sich im Laufstall eines nationalen oder landesherrschaftlichen Territoriums einsperren zu lassen. Als hätten sie Hobbes gelesen, kritisierten in der Mitte des 19. Jahrhunderts Mitglieder des Chemnitzer Handwerkervereins, dass die bessergestellten Leute reisen dürften, wie es ihnen beliebte, während »die reisenden Handwerker auf alle nur erdenkliche Weise im Gebrauche ihrer natürlichen Freiheit beschränkt« würden.[61]

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