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Einleitung Eine Freiheitsstatue für Europa
ОглавлениеOffene Grenzen für alle? Alle sollen überallhin fahren dürfen, um zu arbeiten und zu leben, wo es ihnen gefällt? Das finden viele sicher illusorisch, unrealistisch, ja geradezu gefährlich. Nichts könnte dem Zeitgeist mehr widersprechen.
Dabei ist es – so die These dieses Buches – nicht die Öffnung, sondern die dauerhafte Schließung der Grenzen, die illusorisch, unrealistisch und zudem für die Betroffenen nicht selten lebensgefährlich ist. Gewiss, die vorübergehende Schließung von Staatsgrenzen kann manchmal sinnvoll sein, zum Beispiel um die Ausbreitung eines Virus zu verzögern. Das haben wir nach dem Ausbruch der Coronapandemie im Jahr 2020 gelernt, als nicht nur Europa die Grenzen dichtmachte, sondern auch China oder afrikanische Länder Visa annullierten und den Luft- und Schiffsverkehr von und nach Europa und in die Welt aussetzten. Sogar innerhalb Deutschlands gab es zeitweilig Einreise- und Beherbergungsverbote in bestimmten Bundesländern und Landkreisen. Selbst ein internationaler Gesundheitsnotstand rechtfertigt allerdings nur kurzzeitige Reisebeschränkungen, da sich Erreger nicht um Landesgrenzen scheren, wie die Weltgesundheitsorganisation schon bei früheren Pandemien feststellte. Reisebeschränkungen für gesunde Menschen ohne ansteckende Krankheiten sind noch viel schwieriger zu rechtfertigen. Und doch unterbinden zunehmend engmaschige, asymmetrische Grenzkontrollen die Freizügigkeit der Mehrheit der Menschheit dauerhaft und ohne vernünftigen Grund. Die Lockdowns, die wir während der weltweiten Coronakrise erlebt haben, sind für sie der Normalzustand. Dieser Zustand muss durch Lockerungsmaßnahmen im großen Stil überwunden werden.
Man kann nicht behaupten, dass die gegenwärtige Ordnung globaler Migrationskontrollen und Einreisebeschränkungen vernünftig ist. Es ist verrückt, dass ein kleiner Teil der Menschheit fast überallhin reisen und sich überall niederlassen kann, während der andere, viel größere Teil zur Sesshaftigkeit verdammt ist. Wer das normal und gerecht findet, kann nicht gleichzeitig das Hohelied auf die Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte singen. Aber auch wenn man bereit ist, diese Prinzipien aufzugeben, ist es naiv zu glauben, man könnte im historischen Westen durch Zäune aus Stahl und biometrischen Daten dauerhaft eine »weiße« Parallelgesellschaft aufrechterhalten oder wiederherstellen – eine Parallelgesellschaft, die sich von der übrigen Menschheit abschottet. Über kurz oder lang führt kein Weg daran vorbei, die Durchlässigkeit der Grenzen von Staaten für Migrationswillige in alle Himmelsrichtungen zu erhöhen. Damit meine ich die »großen« territorialen Grenzen zwischen Staaten, aber auch die »kleinen« Grenzen zwischen den Neuankömmlingen und den Einheimischen innerhalb von Staaten.
Das Buch plädiert für eine praktische Orientierung an einer Utopie offener Grenzen. Das bedeutet zweierlei: offene Grenzen zwischen letztlich allen Staaten, auch außerhalb des Westens, und für alle ihre Bürgerinnen.1 Offene Grenzen heißt, dass Menschen ohne Visum – oder mit einem an der Grenze ausgestellten Visum – in andere Staaten einreisen können und sich in diesen Staaten niederlassen dürfen, solange sie niemandem Schaden zufügen. Das klingt utopisch und ist auch so gemeint. Aber wer diese Utopie zurückweist, läuft Gefahr, sich an ihre hässlichen Alternativen zu gewöhnen.
Es gibt zwei solche hässlichen Alternativen: eine Welt geschlossener Grenzen für alle und eine Welt offener Grenzen für nur wenige. Die erste Welt wäre furchtbar, würde aber immerhin die Gleichbehandlung der Bürger aller Staaten sicherstellen, deren Reise- und Niederlassungsfreiheit auf einem vergleichbar niedrigen Niveau eingefroren würde. Die Coronapandemie hat uns einen Vorgeschmack davon gegeben. Plötzlich durften auch die Deutschen mit ihren roten Reisepässen, die ihnen bis dahin den Zugang zur ganzen Welt öffneten, nicht einmal mehr nach Österreich, Holland oder Mallorca fahren, ja nicht einmal in ein anderes Bundesland. Eine Zeit lang und ganz plötzlich war die Welt sehr klein geworden.
Noch schlimmer wäre freilich eine Welt, in der das Recht auf Bewegungsfreiheit dauerhaft ungleich verteilt wäre. Und es ist diese Welt, die zunehmend Wirklichkeit wird. Der Grad der Bewegungsfreiheit oder, wie die Soziologin Anja Weiß sagt, der sozial-räumlichen Autonomie hängt heute maßgeblich vom Zufall der Geburt sowie vom Vermögen einer Person ab. Wer in Ländern wie Deutschland, der Schweiz oder Österreich geboren wurde, kann sich, wenn nicht gerade eine Seuche ausgebrochen ist, nahezu weltweit nach Jobs umschauen, weltweit Beziehungen pflegen und darüber nachdenken, ob man in den Ferien in der Südsee mit Haien tauchen, in Japan Skifahren oder doch lieber in den Bergen Kirgisiens wandern möchte. Nur die Bürger einiger weniger Staaten können für sich die globale Ausdehnung des Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit realisieren, während der Rest der Menschheit festsitzt.[1]
Was das bedeutet, kann man am »Global Passport Index« ablesen, einer kommerziellen Webseite, die den Wert von Reisepässen nach der Zahl der Staaten bewertet, in die man mit ihrer Hilfe visafrei einreisen kann. Deutschland, Dänemark und Schweden befinden sich ganz oben auf der Liste, während ganz unten Länder wie Afghanistan, Irak oder Nigeria stehen.[2] Die Wertlosigkeit vieler Pässe im internationalen Verkehr wird noch verschärft durch die organisierte Willkür von Konsularbeamten, die bei der Vergabe von Visa über einen beträchtlichen Ermessensspielraum verfügen. Jüngere, relativ mittellose Antragstellerinnen im globalen Süden, die sich nicht mit der Bürokratie auskennen, haben kaum eine Chance, die für ihre Reisepläne entscheidenden Stempel, Unterschriften und Dokumente zu bekommen. Die Situation wird noch dadurch verschärft, dass eine globale Elite sich Aufenthaltstitel und Staatsbürgerschaften völlig legal einfach kaufen kann, während für andere selbst die eigene Staatsbürgerschaft ein hohles Versprechen auf Teilhabe am eigenen Gemeinwesen bleibt.
Warum die Rede von einer Utopie? Weil die Idee offener Grenzen immer noch – obwohl es immerhin die Europäische Union gibt – auf rechtlich oder psychologisch tief verankerte Vorstellungen von eigensinnigen Völkern, souveränen Staaten und ganzheitlichen Kulturkreisen trifft. Sie rebelliert gegen den vermeintlich gesunden Menschenverstand sowie gegen die sorgfältig kultivierte Angst vor denen, die hinter den hohen Mauern leben, die moderne Staaten zur Abwehr irregulärer Einwanderer gebaut haben. In diesem Sinne sind offene Grenzen utopisch. Anders jedoch als ältere literarische Utopien habe ich nicht vor, den Plan für eine perfekte Gesellschaft zu präsentieren, in der es keine echten Konflikte mehr gibt, sondern nur noch unterhaltsame Reibereien. Von einer solchen Utopie soll hier ausdrücklich nicht die Rede sein.
Warum ist eine Utopie offener Grenzen notwendig? Weil die Welt so, wie sie im Moment aussieht, nicht akzeptabel ist. »Die Gewalt an den Grenzen und durch Grenzen«, schreibt der kamerunische Philosoph Achille Mbembe, »ist zu einem der Hauptmerkmale unserer Zeit geworden«.[3] Besonders an den Grenzen der vermeintlich freien Welt wird viel gestorben. Um das zu ändern, muss die Debatte über die Regelung globaler Mobilität radikal neu geführt werden. Nur offenere Grenzen können das massenhafte Leid abwenden, das die Grenzregimes der Gegenwart produzieren, die immer mehr zu Todesstreifen und militärischen Einsatzgebieten werden. Von Anfang 1996 bis März 2020 sind mindestens 75000 Menschen bei dem Versuch, in ein anderes Land zu gelangen, qualvoll ums Leben gekommen, im Mittelmeer ertrunken oder in Wüsten verdurstet. Die Dunkelziffer ist erheblich höher.[4]
Viele von denen, die nicht unterwegs starben, wurden auf der Flucht gekidnappt oder, wie in Libyen, als Sklaven verkauft. Noch mehr starben zu Hause, weil sie sich eine Abwanderung nicht leisten konnten oder über keine ausreichenden Kontakte verfügten, um abzuhauen. Die flüchtlingsfeindliche Regierung des famosen, inzwischen abgewählten Donald Trump in den USA hat in jüngerer Zeit eine Situation geschaffen, die Schwarze und Muslime aus Somalia, Eritrea, Ghana, Nigeria, Haiti oder Dschibuti dazu bewogen hat, sich auf den Weg durch die Bundesstaaten Minnesota oder New York zur amerikanisch-kanadischen Grenze zu machen, weil sie in den USA bei Asylverfahren kein Gehör fanden oder von Abschiebung bedroht waren. Einige von ihnen sind unterwegs an Unterkühlung gestorben oder haben Finger und Zehen durch Frost verloren.[5]
Dieses unnötige Leid wird oft heruntergespielt. Die Leichen an den neuen Todesstreifen werden als Kollateralschaden einer alternativlosen Politik betrachtet, als Unfallopfer oder als Opfer von kriminellen Schleusern. In Leserbriefen rechter Zeitungen heißt es oft, dass die Migranten selbst schuld seien. Warum steigen sie auch in diese Schlauchboote. Warum bleiben sie nicht da, wo sie hingehören. So wird die Aufmerksamkeit von dem Preis abgelenkt, den andere für die Migrations- und Grenzschutzpolitik wohlhabender Länder zahlen müssen.
Hinzu kommt noch etwas anderes: Je unüberwindbarer Grenzen sind, desto mehr werden diejenigen, die draußen bleiben sollen, zur Projektionsfläche von Angst- und Gewaltphantasien. Alle Mittel scheinen recht zu sein, um die »Barbaren« von den Toren der »Zivilisation« fernzuhalten. Im März 2020 wurde bekannt, dass Griechenland nicht nur geschlossene Lager betreibt, in denen Migrantinnen unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten werden, sondern auch geheime Gefängnisse, sogenannte black sites, die keinerlei rechtlicher Kontrolle unterliegen. Wir haben in den vergangenen Jahren gelernt, dass die Staaten der Europäischen Union in Libyen Milizen finanzieren, die afrikanische Migranten in Lagern foltern oder als Geiseln festhalten, um Schutzgelder von Verwandten zu erpressen. Derweil haben Flüchtlinge in Lateinamerika lange Zeit versucht, in Mexiko auf einen Güterzug in Richtung USA zu springen, den sie La Bestia nennen, weil immer wieder Menschen von dem fahrenden Zug stürzen und dabei zu Tode kommen oder verstümmelt werden. Wer es dennoch über die Grenze schafft und vielleicht mit seiner Familie reist, dem kann es passieren, dass er oder sie in die Fänge der US-amerikanischen Grenzpolizei gerät, die im Frühjahr 2018 dazu überging, irregulär einreisende Familien zu trennen. Daraufhin gingen Bilder von Kindern in Käfigen um die Welt, von denen einige sogar zur Adoption freigegeben werden sollten. In Europa und den USA gibt es inzwischen eine ernsthafte öffentliche Debatte darüber, ob die Flüchtlingslager, für die westliche Länder verantwortlich sind, »Konzentrationslager« genannt werden dürfen oder »nur« den Internierungslagern des Vichy-Regimes im besetzten Frankreich während des Zweiten Weltkriegs ähneln.[6]
Die globale Abwehr von Einwanderern richtet sich nicht nur gegen die da draußen, sondern auch gegen diejenigen, die es bereits ins Innere der euroamerikanischen Wohlstandszone geschafft haben. Wer Chinesen, Afrikanerinnen oder Muslime nicht ins Land lassen möchte, wird im nächsten Schritt darüber nachdenken, wie er die Chinesinnen, Muslimas oder Afrikaner, die bereits zur eigenen Bevölkerung dazugehören, wieder loswird und ihrer Rechte beraubt. Wer den Gedanken aufgibt, dass sich im Prinzip jeder Mensch durch Einwanderung und Einbürgerung dem eigenen Volk anschließen kann, zerlegt dieses Volk in echte und unechte Bürger, Rechtssubjekte und rechtlose Untertanen. Das hat Tradition. So sprach der einflussreiche französische Nationalist und Antisemit Charles Maurras nach dem Ersten Weltkrieg von echten Franzosen und bloßen Papierfranzosen (Français de papier), so wie man auch heute wieder von »Papierdeutschen« spricht, die angeblich nicht wirklich dazugehören. Geschlossene Grenzen sind nicht zu haben ohne eine Ideologie der Ungleichheit.
Schroffe Abgrenzungen nach außen pflanzen sich im Innern der Gesellschaft und in den Köpfen fort. Das war auch früher schon so in der europäischen Geschichte. Nachdem der spanische Klerus im ausgehenden 16. Jahrhundert von den Indianern und Wilden in Amerika gehört und sie zu fürchten gelernt hatte, gewann er zunehmend den Eindruck, dass auch die eigenen Bauern und einfachen Leute irgendwie den Indianern glichen.[7] Auch heute werden »sichere«, das heißt geschlossene Außengrenzen nicht zufällig von denjenigen gefordert, die ebenso energisch für die Schließung anderer Grenzen von Zugehörigkeit und sozialer Mobilität eintreten und das Volk auf einen Stamm reduzieren möchten. Umgekehrt folgt daraus, dass die Utopie offener Grenzen notwendig ist, weil ohne sie die Demokratie selbst in Gefahr gerät.
Schließlich ist die Utopie offener Grenzen notwendig, um eine Orientierung für die Unzufriedenen zu schaffen. Wenn die Welt in einem inakzeptablen Zustand ist, brauchen wir die Utopie eines künftigen Soll-Zustands, für den es sich zu streiten lohnt. »Müssen wir nicht mal wieder größer denken?«, fragt ganz zu Recht die Journalistin Ferda Ataman.[8] Utopien sind auch heute, in einem gründlich desillusionierten Zeitalter, eine unersetzliche Energiequelle. Anders als die totalitären Utopien des 20. Jahrhunderts soll aber die Utopie offener Grenzen den Menschen nicht aufgezwungen werden. Vielmehr beansprucht diese Utopie, die Menschen so zu nehmen, »wie sie sind oder bald werden können«.[9] Die Einzelnen sollen selbst entscheiden, wo und wie sie leben wollen.
Die klassischen Einwanderungsländer, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika, haben vor langer Zeit mit der Idee gebrochen, dass die Demokratie ein Volk innerhalb geschlossener Grenzen voraussetzt. Die USA wurden als eine weiße Siedlerkolonie gegründet, auf Kosten bereits Einheimischer und verschleppter afrikanischer Sklaven. Zugleich aber haben sie das Versprechen relativ offener Grenzen gegeben und auch lange Zeit eingelöst. Das hat im Lauf des 20. Jahrhunderts Millionen von Flüchtlingen und Exilanten das Leben gerettet. Bis vor kurzem galt »Amerika« ganz selbstverständlich als das ferne Land, in das man zur Not immer noch fliehen konnte, wenn daheim alle Stricke reißen: das Land der letzten Zuflucht. Auch wenn sich das inzwischen geändert hat, wahrscheinlich unwiderruflich, lohnt es sich doch, an dieses Versprechen zu erinnern und es woanders zu erneuern.
Denken wir an die amerikanische Freiheitsstatue. Lady Liberty, wie sie genannt wird, stellt die römische Göttin der Freiheit dar und blickt nach draußen in Richtung des offenen Meeres. Welchen Eindruck mag sie wohl auf Millionen von Einwanderern gemacht haben, die sich auf Schiffen der amerikanischen Ostküste näherten? Zumal die neoklassizistische Statue, die in ihrer Rechten eine Fackel hält, nach ihrer Errichtung einige Jahre als Leuchtturm für ankommende Schiffe fungierte. Wer von weither übers Meer kam und die Freiheitsstatue sah, wusste, dass er es fast geschafft hatte. Viele mochten zudem von dem berühmten Gedicht »The New Colossus« (1883) gehört haben, das die amerikanische Dichterin Emma Lazarus verfasst hatte und das später in die Bronzetafel im Sockel der Freiheitsstatue eingraviert wurde: »Give me your tired, your poor, / Your huddled masses yearning to breathe free, / The wretched refuse of your teeming shore …« [Gebt mir eure Müden, eure Armen, / Eure geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, / Den elenden Unrat eurer gedrängten Küsten …]. Nicht umsonst diente die Freiheitsstatue als Kulisse in Filmen wie Charlie Chaplins The Immigrant von 1917.
Falls es mit den Vereinigten Staaten von Europa noch einmal etwas werden sollte, würde es uns gut zu Gesicht stehen, ebenfalls eine Freiheitsstatue zu errichten, vielleicht im Mittelmeer vor Sizilien. Möchte nicht auch Europa für die Welt außerhalb seiner Grenzen, insbesondere die afrikanische Postkolonie, ein Versprechen bereithalten? Oder ist Europa immer noch einem kolonialen Denken verhaftet, das die Feindseligkeit gegenüber den ehemals Kolonisierten auf die heutigen Migranten überträgt? Tatsächlich scheint dies die grimmige Botschaft Europas an den globalen Süden zu sein: »Ihr Müden, ihr Armen, ihr geknechteten Massen, die frei zu atmen begehren, Verdammte und Ausgestoßene an den gedrängten Küsten da draußen – bleibt wo ihr seid. Denn ihr gefährdet unsere Freiheit und unseren Wohlstand.«
Damit sind wir im Herzen der Debatte angekommen. Zahllose Politiker und Intellektuelle fordern, keine oder möglichst wenige Flüchtlinge anzuerkennen und besonders Muslime und Armutsmigranten auszuschließen. Charlie Chaplins Protagonist in dem oben genannten Film, der sich als »hungrig und pleite« bezeichnet, hätte da schlechte Karten. Wenn es nach dem Willen vieler reicher Staaten und ihrer Eliten ginge, würde die Welt nach dem Vorbild einer Ständeordnung organisiert. Welche Rechte jemand hat, wäre abhängig vom Besitz. Im Gegensatz dazu wirbt dieses Buch für die inzwischen unzeitgemäße Idee gleicher Rechte für alle weltweit. Das würde heißen: offene Grenzen als Perspektive und Leitmotiv jeder Migrationspolitik.
Dabei ist zu beachten, dass offene Grenzen nicht dasselbe sind wie überhaupt keine Grenzen. Maximal offen sind die Grenzen zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten des Schengenraums. Dass wir von Aachen nach Belgien oder in die Niederlande radeln oder in den bayerischen Alpen nach Österreich wandern können, ohne irgendwo angehalten und kontrolliert zu werden, heißt nicht, dass die betroffenen Länder ihre territorialen Grenzen aufgegeben hätten. Offene Grenzen sind solche, die im Notfall auch geschlossen werden könnten, zum Beispiel um im Vorfeld eines Fußballspiels Hooligans aus dem Nachbarland zu stoppen oder die Ausbreitung einer Seuche zu verlangsamen.
Das Problem sind nicht territoriale Grenzen als solche, sondern Grenzregimes, die sich systematisch gegen einen großen Teil der Menschheit richten, dem ohne vernünftigen Grund die Freizügigkeit verwehrt wird. Das sind typischerweise Menschen, die anders aussehen als die meisten Europäer, die zu anderen Göttern beten oder einfach nur ärmer sind als der europäische Durchschnitt. Selektive Grenzregimes müssen nach und nach zugunsten weniger selektiver, weniger diskriminierender Migrationsregeln abgebaut werden. Mehr Einwanderung mag kurzfristig die Folge einer solchen Öffnungsprogrammatik sein. Sie ist aber nicht ihr Zweck. Der Zweck der allmählichen und wohlüberlegten Öffnung von Grenzen ist die Sicherung von Freiheit und Gleichheit für alle, egal wo sie herkommen oder hinwollen.