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Mauern im Kopf

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Der Zweck der Grenzregimes besteht weniger in der effektiven Aussperrung von Migranten als in ihrer symbolischen Funktion in nationalen Erzählungen, in denen erklärt wird, wer zum Volk dazugehört und wer nicht. Wer innerhalb der realen oder vorgestellten Mauer lebt, wird aufgewertet, wer draußen bleibt, wird abgewertet. Manchmal ist die Abwertung extrem. In der rechtsradikalen Rhetorik sind Flüchtlinge in den vergangenen Jahren noch unter die Stufe der »Barbaren« gesunken. So waren für den ehemaligen italienischen Innenminister Matteo Salvini die afrikanischen Migrantinnen, die lebend die Küsten Europas erreichten oder tot angeschwemmt wurden, nur noch »Menschenfleisch« (carne umana)[30] – ein Wort aus dem rassistischen Science-Fiction-Roman Das Heerlager der Heiligen des Franzosen Jean Raspail über die Invasion des Abendlandes durch halb vertierte Armutsflüchtlinge aus Indien.

Grenzsicherungen sind oberflächlich betrachtet Artefakte, die der Abwehr unerwünschter Personen und Dinge (z.B. Drogen) dienen sollen. Aber genau genommen spiegeln und verkörpern sie nur die Mauern in unseren Köpfen. Es sind Beton und Stahl gewordene Metaphern, die suggerieren, dass etwas getan wird, um die sprichwörtlichen Sorgen und Ängste der braven Bürger zu beruhigen. Irgendetwas müsse man doch gegen die angeblich drohende Invasion unternehmen, gegen die vielen da draußen, die alle »zu uns« kommen wollten. Diese Redensarten, die wir alle kennen, sind irreführend, weil sie allerhand vernünftige Gründe vortäuschen, die es so gar nicht gibt. Die Grenzregimes unserer Zeit beruhen weniger auf guten Gründen und ökonomischen Vorteilen als vielmehr auf dem kollektiven Bedürfnis nach Garanten für eine halluzinierte Identität. Bei den Mauern und Zäunen haben wir es in erster Linie mit Identitätsprothesen zu tun, Placebos zur Behandlung von kollektiven Orientierungskrisen in einer unübersichtlichen Welt. Es sind zudem traurige Zeugnisse des Niedergangs der »freien Welt« oder des Glaubens an sie. Die Zäune werden zu dem Zweck gebaut, dass sich das sogenannte Volk ordentlich umzäunt und mit sich selbst identisch fühlen kann.

Manchmal geht es dabei gar nicht um die Abwehr angeblich gefährlicher, böser, fremder Menschen. So hat das Königreich Dänemark aus Angst vor Wildschweinen, die die Afrikanische Schweinepest einschleppen könnten, entlang der Grenze zu Schleswig-Holstein einen 70 Kilometer langen Stahlgitterzaun gebaut. Wildbiologen schütteln darüber den Kopf und bestreiten den Sinn des Projekts, das von der verängstigten dänischen Ferkellobby, aber eben auch von rechtsnationalen Kräften im Land gefordert wurde. Dagegen sehen viele Dänen und ihre deutschen Nachbarn in dem Zaun nichts anderes als ein weiteres Symbol der Abschottung Dänemarks.

Ernster wird es, wenn wir nicht von Wildschweinen, sondern von Menschen reden. Da wir nie in ethnisch homogenen Nationen gelebt haben, ist es normalerweise so, dass viele von »denen da draußen«, die hinter den Mauern leben, die wir hochzuziehen versuchen, längst auch »bei uns« sind. Dadurch entsteht ein enormes Verunsicherungspotenzial. Menschen, die einfach nur anwesend sind, erscheinen plötzlich in den Augen mancher als Eindringlinge, die nicht hierhergehören. Waren die Leute in dem Supermarkt in El Paso echte Mexikaner oder US-Amerikaner, die nur mexikanisch aussahen – und für wen macht das überhaupt einen Unterschied? Ist der dunkelhäutige Mann in der Schlange vor mir beim Bäcker, der mit gebrochenem Deutsch ein paar Semmeln bestellt, eine wertvolle IT-Fachkraft »aus Indien« oder nur ein illegaler, »höchstens geduldeter Ausländer«?, fragte sich vor einiger Zeit der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner in einer Parteitagsrede.[31] Solche Fragen werden auch uns nahegelegt: Nach welchen Kriterien sollen wir sortieren, und was machen wir mit den Aussortierten? Werden all diese fremd aussehenden Menschen noch gebraucht – oder können die weg?

Die verbleibenden Demokratien auf der Erde werden sich in absehbarer Zukunft nicht länger durch die Abwertung und Aussperrung des immer größer werdenden Rests der Menschheit definieren können. Der hoffnungslose Versuch, sich durch Mauern vor der Welt da draußen zu schützen, ist selbst Teil des Niedergangs der westlichen Demokratie. Wir werden nicht umhinkönnen, das Zusammenleben mit anderen auf globaler wie auf lokaler Ebene neu zu organisieren und uns besser als bisher miteinander zu verbinden. Das ist notwendig, wenn wir unseren Vorstellungen von der Würde des Menschen und von den Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft treu bleiben wollen. Ich behaupte, dass all dies möglich ist. Offenere Grenzen, als wir sie heute haben, sind ebenso wünschenswert wie machbar. Nicht sofort und überall, aber nach und nach und regional abgestimmt. Die Vorstellung von einer Welt mit lauter offenen Grenzen, die man beliebig und in jeweils beide Richtungen überschreiten kann, ist zwar noch für viele Furcht einflößend, weil sie im Widerspruch zu stehen scheint zur Bewahrung von Wohlstand und Sicherheit. Doch zugleich ist sie extrem attraktiv, auf einem Planeten, auf dem wir uns inzwischen jeden beliebigen Ort mithilfe von Google Earth zumindest von oben, aus der Perspektive von Weltraumsatelliten, anschauen können.

Die migrationspolitische Utopie des Zusammenlebens, die in diesem Buch entwickelt wird, besteht nicht in der Wiederherstellung jenes prähistorischen Naturzustands, in dem die Menschen in einer Welt ohne Staaten nach Belieben umherzogen. Wohl aber lohnt es sich, eine Ordnung anzustreben, in der Menschen ihren geographischen Lebensmittelpunkt frei wählen können, solange sie den dort bereits länger Ansässigen keinen Schaden zufügen. Das klingt wie eine einfache Utopie, die schwer zu erreichen ist. Doch gibt es zwei Gegenpositionen. Die eine Gegenposition bestreitet die Wünschbarkeit des Leitbilds durchlässiger Grenzen, die andere ihre Realisierbarkeit.

Die Kritik der Wünschbarkeit einer größeren Freizügigkeit im internationalen Verkehr besteht darauf, dass Migration ein »Problem« sei oder aber eine Vielzahl von Problemen in den Aufnahmegesellschaften verursache – Probleme, die national und international durch feinmaschige technologische Überwachung, Einschränkung und Regulierung von Bewegungsfreiheit unter Kontrolle gebracht werden sollen. Migrantinnen wird nachgesagt, dass sie den Sozialstaat, den Säkularismus, die politische Stabilität, den sozialen Frieden, das Lohnniveau unterer Einkommensgruppen, die kulturelle Integrität der Aufnahmegesellschaft, die wirtschaftliche Zukunft der eigenen Herkunftsländer, die Demokratie oder sogar das Abendland gefährden könnten. Der Bundesinnenminister Horst Seehofer ist so weit gegangen, in einem Akt hysterischer Überdramatisierung die Migration zur »Mutter aller Probleme« zu erklären.[32] Aber für diejenigen, die ihr Land verlassen haben oder verlassen wollen, ist Migration zunächst einmal ein Beitrag zur Lösung ihrer Probleme. Man sollte den Spieß umkehren: Migration an sich ist überhaupt kein Problem; die Väter aller Probleme sind vielmehr die Staaten und nationalistische Ideologien, die Migranten in ausweglose Lagen bringen.

Eine andere Gedankenkette richtet sich gegen den überzogenen Pessimismus derjenigen, die die Forderung nach offeneren Grenzen für unrealistisch halten, weil die Welt nun einmal so ist, wie sie ist. Aber die neowestfälische Ordnung militarisierter Grenzkontrollen, erzwungener Sesshaftigkeit, hoher Zahlen von toten und misshandelten Flüchtlingen bei gleichzeitiger Hypermobilität und unbegrenzter Bewegungsfreiheit der globalen Eliten ist keineswegs das Ende der Migrationsgeschichte. Was zu Ende geht, ist nur die euroamerikanische Hegemonie über den Rest der Welt einschließlich der zählebigen Idee einer zivilisatorischen Mission des Westens. Das Ende der westlichen Hegemonie bietet Chancen für konkrete Schritte in die Richtung einer Utopie offener Grenzen für alle. Erst wenn wir der Realisierung dieser Utopie näherkommen, kann die Gesellschaft auch im Inneren befriedet werden. Erst dann werden Migranten und ihre Nachkommen sich nicht mehr nach jedem Überfall oder Terroranschlag fragen müssen: »Werde ich der Nächste sein?«

Offene Grenzen für alle

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