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Kapitel 2 Das Recht, woanders zu sein

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Eine kleine Geschichte der Bewegungsfreiheit

Freiheit ist nur der Abstand zwischen Jäger und Gejagtem.[33]

Bei Dao, »Komplizen«

Bisher habe ich weitgehend über unsere Gegenwart geschrieben, die uns manchmal Angst macht und in der wir die Freiheit der Bewegung ebenso wertschätzen wie die Grenzen, von denen wir glauben, dass sie uns schützen. Jetzt gilt es, einen Schritt zu tun in die Vergangenheit, die man auch mit einem fremden Land verglichen hat. Dieser Schritt wird es uns erlauben zu verstehen, dass nichts an der Ordnung der Staatsgrenzen, in der wir heute leben, selbstverständlich oder natürlich ist. Die globale Migrationsordnung, über die heute wieder viel gestritten wird, hätten Menschen in Europa und anderen Teilen der Welt vor 150 oder 200 Jahren als eine Form der Freiheitsberaubung verstanden. Die Aufklärung hat ihre eigenen dunklen Kapitel wie die Vorbereitung oder Verteidigung des Kolonialismus. Aber ihre großen Denker haben in der räumlichen Bewegungsfreiheit ein Grundrecht der Menschen gesehen, das ihnen kein Staat nehmen darf.

Einige Aufklärer sind so weit gegangen, das ganze Leben als körperliche Bewegung und die Freiheit als Barrierefreiheit zu definieren. Das Leben ist »nur eine Bewegung der Glieder« und das Herz »eine Feder«, die uns in Bewegung setzt, schreibt der große englische Philosoph Thomas Hobbes in der Mitte des 17. Jahrhunderts.[34] Dies war die Zeit, als man begann, über den Vorgang der physischen Bewegung auf radikal neue Weise nachzudenken. Physiker und Astronomen wie Isaac Newton versuchten zu zeigen, dass die Schwerkraft, die Gezeiten der Ozeane, die Erdrotation und die Flugbahnen der Kometen alle denselben Prinzipien gehorchen. Physiologen und Chemiker dachten über die Quellen der Fortbewegung von Menschen und Tieren nach und fragten sich, ob für die Bewegung eher das Herz oder das Gehirn verantwortlich sei.[35] Alle Welt war fasziniert von der Mechanik der Räder und Federn in Uhrwerken. Hobbes versuchte aus diesen Fortschritten in der Ingenieurskunst und den Naturwissenschaften Schlüsse zu ziehen für ein neues Bild der menschlichen Psyche und der Politik. Der Mensch ist demnach ganz und gar ein Produkt der Natur, die wiederum ein Produkt der göttlichen Ingenieurskunst ist. Die Natur selbst ist künstlich, so argumentiert er, und der Unterschied zwischen Natur und Kunst ist nur erfunden. Alles, was existiert, ist körperlich. Alles, was angestoßen wird, bewegt sich. Alles, was sich bewegt, muss durch die Kraft eines anderen Körpers aufgehalten werden, damit es sich nicht weiterbewegt. Alle Leidenschaften – Angst und Hoffnung, Ehrfurcht und Freude, Demut und Ruhmsucht – sind das Resultat innerer Bewegungen in unseren Körpern, durch die wir in Bewegung gesetzt und in bestimmten Bahnen gehalten werden. Niemand kann leben, dessen »Empfindungen und Vorstellungen zum Stillstand gekommen sind«.[36]

So rückt Hobbes die Bewegung der Körper und Sinne in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Verstanden als aktive Ortsveränderung ist Bewegung ein zentraler Aspekt und die Basis der Freiheit. Während spätere Generationen die Freiheit vor allem als Gedanken- oder Meinungsfreiheit auffassen, ist Hobbes der Ansicht, »dass man umso mehr Freiheit besitzt, in je mehr Richtungen man sich bewegen kann. Darin besteht die bürgerliche Freiheit [libertas civilis]«.[37]

Neben der intensiven Beschäftigung mit dem Wesen und der Freiheit der Bewegung taucht im 17. Jahrhundert die Frage auf, welche Formen die Bewegung der Körper im Raum annehmen kann. Die Gesellschaftstänze, die in dieser Zeit entstehen, sind ein gutes Beispiel für eine der Antworten. Nehmen wir die englischen und französischen Versionen des Kontratanzes, in dem Paare in einer größeren Gemeinschaft komplizierte Figuren tanzen, ohne wie später auf ihre isolierte Zweisamkeit zurückzufallen. Diese festlich-geselligen Tänze unterschieden sich von den Bällen des Adels und waren in mancher Hinsicht eher bäuerlichen Tänzen verwandt. Nicht zuletzt legten sie ein neues Körperempfinden und bewegungsfreundliche Kleidung nahe: keine mit Stäben aus Fischbein, Horn oder Stahl versteiften Korsetts, keine kuppelförmigen Reifröcke oder hauteng anliegenden Herrenhosen. Der Dichter und Arzt Friedrich Schiller sah im turbulenten, aber gut komponierten Kontratanz geradezu einen Spiegel der bürgerlichen Gesellschaft. Der für alle Bevölkerungsschichten tanzbare Gesellschaftstanz erschien ihm als ein Sinnbild für die Ausübung der eigenen Freiheit, die mit der Freiheit der anderen glücklich harmoniert: »unzählige Bewegungen, die sich auf das Bunteste durchkreuzen und ihre Richtungen lebhaft und mutwillig verändern und doch niemals zusammenstoßen«.[38]

Die Gegenbilder zu dieser Einheit von rascher Bewegung, plötzlichen Richtungswechseln und Kollisionsvermeidung sind zum einen Reglosigkeit und Erstarrung, zum anderen die ungeregelte und damit unfallträchtige Bewegung von Körpern im Raum. Erzwungener Stillstand und Stagnation waren auch zentrale Metaphern, die europäische Philosophen lange Zeit zur Beschreibung der Gesellschaften Asiens verwendeten. In dieses Bild stationärer Gesellschaften passte der in der chinesischen Oberschicht verbreitete Brauch, die Füße von kleinen Mädchen einzuschnüren, um sie am Wachstum zu hindern. Während man sich in Europa wünschte, dass Kinder im Freien toben, möglichst barfuß, hörte man mit Schrecken, dass in China die freie Bewegung der Glieder einem grausamen Schönheitsideal geopfert wurde.[39] Das Einschnüren der Mädchenfüße wurde zum Symbol für die Unbeweglichkeit und damit für die Rückständigkeit des Orients.

Das andere Gegenbild zum tänzerischen Modell einer ebenso munteren wie geordneten Bewegung war die falsche Bewegung, die in immer neuen Verkörperungen die bürgerliche Gesellschaft aufregte und beunruhigte: Vagabunden und anderes fahrendes Volk, die traumatisierten Kriegszitterer nach dem Ersten Weltkrieg, die proletarischen Massen, die sich unkontrolliert durch die Städte zu wälzen schienen, Individualisten, selbstbewusste Frauen und Deserteure, die »aus der Reihe tanzten«, und natürlich die angeblich rastlosen Juden. Der Faschismus reagierte darauf, indem er allem, was da bedrohlich ungeordnet floss und strömte, das radikal untänzerische Ideal des »Strammstehens« und der marschierenden Kolonne gegenüberstellte.

Das Verhältnis des europäischen Bürgertums zur Bewegungsfreiheit ist somit von Anfang an zutiefst ambivalent. Auf der einen Seite erklärten Philosophen wie Hobbes die »körperliche Freiheit«[40] der Bewegung zur Basis aller anderen Freiheiten und werteten sie damit enorm auf. Stillstand in jeder Form galt als unmodern und orientalisch. Im selben Zug jedoch wurde dem entstehenden modernen Staat das Recht zugebilligt, zwischen guten und schlechten, legitimen und illegitimen Formen der Bewegung zu unterscheiden und letztere zu unterdrücken. So kommt es, dass der Staat bis heute die Bewegungsfreiheit auf seinem Territorium schützt und sich zugleich das Recht vorbehält, verdächtig aussehende Passantinnen auf der Straße anzuhalten, Demonstranten einzukesseln, Kriminelle in Gefängniszellen festzuhalten, die Einreise von Ausländerinnen zu unterbinden, Flüchtlinge in Lagern zu internieren, Fluchtrouten auf leicht zu überwachende »Korridore«[41] zu verengen oder, wie im Vietnamkrieg geschehen, ganze Landstriche zu free-fire zones zu erklären, in denen auf alles geschossen wurde, was sich bewegte.

Der frühmoderne Staat setzte die Bevölkerung in Bewegung und nährte zugleich das Misstrauen gegen die »umherziehende und vagabundierende Lebensweise«, die nach Jean-Jacques Rousseau für die Geschichte der Menschheit so charakteristisch ist.[42] So erließ zum Beispiel Österreich frühzeitig besondere Gesetze gegen reisende Hausierer, Gaukler, Marionettenspieler, Tierbändiger, Scherenschleiferinnen, Akrobaten sowie Leute, die, wie es in einer Verordnung für die Markgrafschaft Mähren aus dem Jahr 1780 hieß, »unter dem Vorwande der Musik im Lande herumirren«.[43]

Als barbarisch galten zu dieser Zeit in Europa sowohl angeblich völlig immobile Gesellschaften als auch die Verbände dauermobiler Nomaden, für die Europäer ebenso wenig übrig hatten wie für Chinesen, Perser oder Araber. Schiller führte damals den Ausdruck »Völkerwanderung« in die deutsche Sprache ein.[44] Diese unglückliche Sammelbezeichnung für die Raubzüge und Neuansiedlungen von Goten, Vandalen oder Hunnen im ausklingenden römischen Reich der Spätantike suggeriert, die wandernden Gruppierungen seien damals tatsächlich ganze Völker im Sinne moderner Nationen gewesen. Die Rede von der Völkerwanderung geistert heute wieder durch die öffentliche Debatte, besonders, wenn es um Migration aus dem globalen Süden geht. Diesmal sollen allerdings wir die Römer und die Migranten die Barbaren sein.

Auch heute wird mit simplen Gegensätzen gearbeitet: Man dichtet den anderen, die an unseren Grenzen lauern, einfach alle Eigenschaften an, die schon den Persern oder Hunnen nachgesagt wurden. Zu diesen Eigenschaften gehört das Syndrom der falschen Bewegung, der Bewegung in die falsche Richtung, aus den falschen Motiven und überhaupt: der Bewegung der »falschen« Menschen. Von Anfang an ist das Nachdenken über den Wert der körperlichen Freiheit eng verknüpft mit der Frage danach, wer an der freien Bewegung gehindert werden soll und warum.

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