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Eine kritische Übergangsphase

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Die Ausgangsdiagnose lautet, dass sich die Einwanderungsgesellschaft, die das offizielle Deutschland und Europa sein wollen, in einer Orientierungskrise befindet. Eine Orientierungskrise entsteht nicht schon dann, wenn eine Person oder eine Gesellschaft unsicher ist, wie sie ein gestecktes Ziel erreichen soll. Um von Krise zu sprechen, genügt es auch nicht, dass jemand sich seiner Ziele unsicher ist oder mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen will, wie wir es alle tun, wenn wir Beruf und Familie oder Freizeitspaß und Umweltschutz unter einen Hut bekommen möchten. Vielmehr entsteht eine Orientierungskrise erst dann, wenn die Grundlagen und Maßstäbe verloren gegangen sind, die man braucht, um überhaupt eine Abwägung von Werten, Zielen oder Idealen vornehmen zu können. Das Resultat ist eine tiefe Verunsicherung, wie sie der österreichische Schriftsteller Robert Musil am Beispiel von Ulrich, dem Protagonisten seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften, dargestellt hat. Ulrich ist zu Beginn des Romans ein Mann, der in all seiner Geschäftigkeit kein Ziel mehr sieht und sich irgendwann fragt, welche Absicht er eigentlich gehabt habe. Oder, noch radikaler, wer er eigentlich sei. Folglich beschließt er innezuhalten und »sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen«, um sich neu auszuprobieren und neu zu erfinden.[15] Diese Option einer kreativen Auszeit haben politische Gemeinwesen leider nicht, auch wenn sie – wie Ulrich – ebenfalls Phasen akuter Desorientierung durchlaufen.

Dabei schien zunächst alles ganz klar zu sein. Nach Jahrzehnten der Realitätsverweigerung bekannte sich das offizielle Deutschland Anfang dieses Jahrhunderts endlich dazu, ein normales, wenn auch kein »klassisches« Einwanderungsland zu sein.[16] Spätestens mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 und der Neuregelung sämtlicher Bestimmungen der Migrations- und Integrationspolitik sowie des Aufenthaltsrechts von Nichtdeutschen ist Deutschland auch rechtlich ein Einwanderungsland. Das war gewiss ein zumindest bescheidener Fortschritt. Bundeskanzler Helmut Kohl hatte noch im Jahr 1982 laut darüber nachgedacht, wie man die Hälfte der Türken in Deutschland wegen ihrer »andersartigen Kultur« wieder aus dem Land hinausschaffen könnte.[17] Die späte Einsicht, dass »die Türken« in Wirklichkeit Einwanderer waren, deren Zugehörigkeit zum nationalen Kollektiv man zu akzeptieren hatte, war ein Fortschritt. Immerhin waren die politischen Eliten zu der Einsicht in die wirtschaftliche und demographische Notwendigkeit von Einwanderung gelangt und sagten das auch öffentlich.

Nicht geklärt wurde allerdings die Frage, wie sich die Gesellschaft im Zuge der Einwanderung verändern würde und welche berechtigten Hoffnungen und Ängste die Bürgerinnen mit dieser Veränderung verbinden könnten. Das Resultat dieser mangelnden Klärung ist eine Gesellschaft, die nicht recht weiß, wohin sie will. Eine Gesellschaft ohne Eigenschaften, könnte man in Anlehnung an Robert Musil sagen. Eine Gesellschaft, die als ganze weder eindeutig rassistisch noch eindeutig offen ist, weder grausam noch mitfühlend und solidarisch.

Der Desorientierung in den Köpfen entspricht eine Uneindeutigkeit der Welt. Wir leben in einer kritischen Übergangsphase der globalen Migrationsgeschichte, in der wir, hier und jetzt, die Gelegenheit haben, entweder eine neue, freiere Ordnung zu schaffen – oder aber eine Welt zu betreten, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt. Solche Übergangsphasen, in denen das Verhältnis von staatlicher Souveränität und globaler Mobilität neu ausgehandelt wurde, gab es auch früher schon. In allen diesen Phasen ging es immer darum, bestimmte Arten von Mobilität und Migration einzuschränken, andere aber zu fördern.[18] So hat sich in Europa im Anschluss an den Westfälischen Friedensschluss von 1648 die Norm staatlicher Souveränität als Ordnungsprinzip gegen ständische und kirchliche Herrschaftsansprüche durchgesetzt. Aus dieser Norm wurde das Recht von Staaten abgeleitet, »Fremde« zu identifizieren und an der Grenze abzuweisen oder abzuschieben. Fremde konnten auch die eigenen Untertanen sein, deren Bewegungsfreiheit überwacht und eingeschränkt wurde. Diesem Recht des Staates wurde nach und nach das Recht auf Auswanderung und auf religiöses Exil zur Seite gestellt.

Interessant wurde es je nach Weltregion aber erst in einer zweiten Phase, in der Staaten auch die Fähigkeit erwarben, ihr Recht auf Einreisekontrollen praktisch geltend zu machen. Den Anfang machten Quarantänegesetze in Australien und Neuseeland, die in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden, um die Einschleppung der Cholera und anderer Seuchen abzuwehren. Europäische Staaten und ihre Kolonien gingen dazu über, den grenzüberschreitenden Personenverkehr durch die Einführung von medizinischen Tests, Sprachprüfungen oder anderen Selektionsverfahren zu kanalisieren. Zudem wurden Reisepässe eingeführt und der Tatbestand des illegalen Grenzübertritts. Grenzen waren nicht länger nur Raumteiler, sondern, im Zeitalter des Nationalismus, auch symbolische Linien, mit deren Hilfe man die Welt in geschätzte und weniger geschätzte Menschengruppen einteilte. Erst jetzt wurde Einwanderung langsam zu einem öffentlich debattierten Problem, zu einem Auslöser heftiger politischer Leidenschaften und einem Gegenstand des Regierungshandelns.

Eine dritte Phase ist die Zeit zwischen den Weltkriegen, als erstmals rassistische Diskriminierung zu einem Bestandteil der Einwanderungskontrolle wurde. Das US-amerikanische Einwanderungsgesetz von 1924, das die Einwanderung von Asiaten ausdrücklich unterbinden sollte, bildet eine wichtige Wegscheide. Soziologen, Geopolitiker und Eugeniker beschworen damals eine globale color line, eine »Farbengrenze« zwischen dem »weißen« Norden und dem »gelben«, »braunen« oder »schwarzen« Süden der Erdkugel. Einwanderung und Mobilität waren zwar weiterhin erwünscht, aber es galt nicht mehr der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Menschen.[19]

Die kurze Epoche des europäischen Faschismus bildet eine eigene vierte Phase. Die Tatsache, dass diese grausame Unordnung scheiterte, bedeutet nicht, dass auch die mentalen Grundlagen des Faschismus verschwunden wären. Bis zum Faschismus hielten die meisten Staaten im Interesse des Welthandels daran fest, dass globale Mobilität im Prinzip etwas Gutes sei. Maßnahmen zur Einschränkung und Kontrolle von Einwanderung dienten dem Ziel, Personen, die aus irgendwelchen Gründen als unerwünscht galten, vor dem Grenzübertritt zu identifizieren und auszuschließen. Besonders der Nationalsozialismus ging anders vor, indem er die freiwillige Ein- und Auswanderung durch Vertreibung, Verschleppung, Zwangsumsiedlung und schließlich Völkermord ersetzte. Selbst dieses Regime hat ein Migrationssystem geschaffen, das bestimmte Formen von (Zwangs-)Mobilität förderte. Dasselbe gilt für den Stalinismus. Die kommunistischen Regierungen in Osteuropa haben nach dem Zweiten Weltkrieg alles dafür getan, durch Vertreibung, Zwangsassimilation und die strikte Kontrolle von Ein- und Auswanderung Gesellschaften zu formen, die der polnische Anthropologe Michał Buchowski »superhomogen« nennt.[20]

Von großer Bedeutung für die westliche Welt ist schließlich die Phase der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Phase ist durch widersprüchliche Trends gekennzeichnet. Auf der einen Seite wurde die globale Bewegungsfreiheit innerhalb der zerfallenden europäischen Imperien zwischen Nord und Süd massiv eingeschränkt. So war es von 1948 bis 1962 für die Bürgerinnen der Mitgliedsländer des britischen Commonwealth ein Leichtes, nach Großbritannien einzuwandern, um ein Geschäft zu eröffnen oder in Fabriken, Restaurants, Hotels oder für die britische Bahn zu arbeiten. Schätzungsweise eine halbe Million »nichtweißer« Personen aus den inzwischen unabhängigen Ländern des Empire gelangten auf diese Weise legal nach Großbritannien. Diese Freiheit ging mit dem Ende des Empire verloren. Auf der anderen Seite wurde in den Römischen Verträgen von 1957 erstmals ein Recht auf transnationale Bewegungsfreiheit zwischen den Mitgliedsstaaten Europas festgeschrieben.

Das Schengener Abkommen wiederum zeigt wie in einem Brennglas die Verknüpfung von Freiheit und Unfreiheit. Beispiel Polen: Um als Mitglied des Schengenraums willkommen geheißen zu werden und ihre Bürgerinnen in den Genuss der europäischen Personenfreizügigkeit zu bringen, musste die polnische Regierung 2003 ein neues Ausländergesetz in Kraft setzen. Darin wurde festgelegt, dass Russen, Weißrussen und Ukrainer, die bisher spontan und ohne viel Umstände nach Polen einreisen konnten, in Zukunft ein Visum brauchen.

Die jüngsten Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa und der lange Sommer der Migration 2015 werfen die Frage auf, ob wir heute wieder einen kritischen Punkt erreicht haben, an dem eine alte Migrationsordnung stirbt, ohne dass eine neue bereits genau zu erkennen wäre. Es wird sich bald zeigen, ob das Recht auf Bewegungsfreiheit graduell auf weitere Staaten und Bevölkerungen außerhalb der Europäischen Union ausgedehnt wird. Sollte diese Gelegenheit verstreichen, wird sich wohl eine Weltordnung verfestigen, die der britische Politikwissenschaftler Stephen Hopgood als »neowestfälisch« bezeichnet hat.[21] Das ist eine Ordnung, in der konkurrierende Staaten nach einer langen Phase multilateraler Kooperation erneut ihre »Souveränität« behaupten und diese rücksichtslos gegen universalistische Normen, internationale Institutionen und nichtstaatliche Autoritäten durchsetzen. Die einseitige und eifersüchtige Kontrolle der territorialen Grenzen – oft ohne Rücksicht auf die Menschenrechte oder internationale Vereinbarungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention – ist ein zentrales Merkmal dieser neowestfälischen Ordnung. Ob sich eine solche Ordnung tatsächlich stabilisieren lässt, ist aber noch keineswegs ausgemacht. Die Ausnahmesituation der europäischen Flüchtlingsbewegung seit 2015 hat gezeigt, dass Gesellschaften auf spontane Masseneinwanderung sehr uneinheitlich reagieren. Europa spricht glücklicherweise nicht mit einer Stimme.

Um in dieser Situation weiterzukommen, genügt nicht das Wissen von Experten. Vielmehr muss darüber hinaus ein Orientierungswissen entwickelt werden, das uns über Möglichkeiten, Grenzen, Mittel und Zwecke einer ebenso klugen wie fairen Migrationspolitik informiert. Dazu ist es notwendig, einen Schritt zurückzutreten und die Dinge mit etwas mehr Distanz zu betrachten. Wie sind wir in die Situation geraten, in der wir uns alle – mit oder ohne Migrationsgeschichte, mit oder ohne deutschen Pass – heute befinden? Gibt es erstrebenswerte Alternativen zu einer Demokratie ohne Mauern aus Beton und Vorurteilen und, wenn ja, wie sähen diese eigentlich aus? Wovor genau sollen uns die Zäune und Mauern schützen, die jetzt wieder überall erträumt und auch tatsächlich gebaut werden? Was ist der Preis der Abschottungspolitik, und wer muss ihn bezahlen? Wer sind die Gewinner und Verlierer der weltweiten Wanderungsprozesse? Und wie lässt sich das schleichende soziale Gift, das in den Konflikten um Migration ausgeschüttet wird, neutralisieren? Oder ist es dafür bereits zu spät?

Dies sind für die Zukunft der Gesellschaft zentrale Fragen, die leidenschaftlich diskutiert werden – von Experten ebenso wie von Laien. Was fehlt, ist eine Bestimmung des eigentlichen Zwecks und der Utopie jeder Migrationspolitik in der Demokratie; eine Beschreibung der Hindernisse, die der Verwirklichung dieser Utopie im Wege stehen; sowie ein frischer Blick auf den Status quo der weltweiten Wanderungsbewegungen nicht nur aus der Perspektive der Regierungen, sondern auch aus der Perspektive von Migranten sowie von Menschen, die sich unter Umständen vorstellen könnten, selbst eines Tages zu Migranten zu werden und auszuwandern – und das sind viele von uns.

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