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Zwei, drei, viele Berliner Mauern
ОглавлениеNoch einmal: Die körperliche Freiheit, sich über Grenzen hinweg zu bewegen, soll nur dann eingeschränkt werden dürfen, wenn die Rechte anderer bedroht sind oder der Staat selbst gefährdet ist (zum Beispiel in Zeiten von Kriegen oder Pandemien). Die meisten Probleme, die wir im Zusammenhang mit Migration diskutieren, rühren nun allerdings daher, dass die Bedrohung von Rechten und Staaten nicht ebenso objektiv messbar ist wie die Geschwindigkeit oder die Temperatur eines Gegenstands. Vielmehr kann die Befindlichkeit des Bedrohtseins manipulativ erzeugt und geformt werden.[25] Zahlreiche Beiträge in den Medien zur Debatte um die Zukunft der Migration verstärken Gefühle von Angst. Diese Angst aber ist ganz unsinnig und muss einer anderen Haltung weichen. Europa ist und bleibt ein Einwanderungskontinent. Die Vorstellung, dass man Einwanderung beliebig steuern oder gar stoppen könnte, ist illusorisch. Realistisch ist, wer diese Tatsache mit einer gewissen Demut akzeptiert.
Die Perspektive einer allmählichen und wohlüberlegten Öffnung der Grenzen für alle gehört ebenso zur Demokratie wie das Haltungsideal zivilisatorischer Demut oder Bescheidenheit, das uns lehrt, die Dinge und die Menschen so zu nehmen, wie sie sind. Wer die Triebfedern menschlicher Mobilität versteht und akzeptiert, wird den Trend zur Abwehr von Migranten durch immer restriktivere Gesetze, die Verlagerung von Grenzkontrollen in ferne Weltregionen sowie die Befestigung von Staatsgrenzen durch Mauern, Zäune und biometrische Daten nur als Zeichen eines wachsenden Realitätsverlusts deuten können. Ein Sinnbild dieses Realitätsverlusts ist das bizarre Projekt des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Donald Trump, eine angeblich undurchdringliche Mauer entlang der Grenze zwischen den USA und Mexiko zu bauen. Im Stadtteil Otay Mesa im Süden von San Diego konnte man im November 2017 die Errichtung von acht Prototypen einer Mauer sehen, die in die engere Auswahl eines Designwettbewerbs kamen, den die Regierung ausgeschrieben hatte. Es wird berichtet, dass alle Modelle sehr beindruckend aussahen. Keines jedoch hielt bei den anschließenden Tests durch Militärexperten den Anforderungen an die erwartete Robustheit stand. Wirklich unüberwindbar war keine der Mauern.[26]
Das amerikanische Beispiel ist besonders schlagend wegen seiner wahnhaften Züge und der immer wieder zur Schau gestellten sinnfreien Grausamkeit des Projekts. Reporter haben aufgezeichnet, wie sich Trump gelegentlich der Phantasie hingab, Migrantinnen aus Lateinamerika beim Grenzübertritt in die Beine schießen zu lassen oder aber Wassergräben entlang der Grenze auszuheben, in denen sie von Krokodilen gefressen werden.[27]
Die fixen Ideen von unübersteigbaren Mauern oder von Gräben, die zu Gräbern werden, reihen sich ein in eine lange Reihe von Grenzschutzprojekten, mit denen sich auch andere Staaten in der jüngeren Vergangenheit gegen ihre Nachbarn abgegrenzt haben. Sichtbares Symbol der Festung Europa sind Grenzanlagen in Slowenien, Ungarn, Bulgarien, Nordmazedonien, Spanien und Frankreich, deren Zäune aus verzinktem Stahl mit rasiermesserscharfen Widerhaken verstärkt sind. Die Widerhaken sind darauf angelegt, Menschen, die die Zäune übersteigen wollen, zu verstümmeln. Flüchtlingsorganisationen berichten immer wieder von schwerverletzten Migranten, die an den Grenzen verbluten. Berüchtigt ist auch der drei Meter hohe Zaun mit Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräten und Bewegungsmeldern, den Ungarns autoritärer Staat an den Grenzen zu Serbien und Kroatien installiert hat. Der ungarische Zaun verfügt über Lautsprecheranlagen, die in einer Endlosschleife vor einem Grenzübertritt warnen, unter anderem auf Arabisch, Urdu und Farsi – den Sprachen der verhassten Migránsok, die mit allen Mitteln von Europa ferngehalten werden sollen. Weiterhin gibt es neue Grenzzäune zwischen Israel und Ägypten, Griechenland und der Türkei, Bulgarien und der Türkei, Österreich und Slowenien sowie Griechenland und Nordmazedonien. Ein Teil der Grenze zwischen Tunesien und Libyen wird neuerdings durch einen fünf Meter hohen Zaun befestigt, den die Bundeswehr und eine Abteilung des amerikanischen Verteidigungsministeriums finanziert haben. Elisabeth Vallet und Françoise Conea, zwei kanadische Expertinnen, haben ausgerechnet, dass weltweit an fast 70 neuen Grenzmauern gebaut wird, die, wenn sie fertig sind, zusammen ungefähr 40000 Kilometer lang sein werden.[28] Das entspricht ziemlich genau dem errechneten Umfang des Äquators. Man stelle sich das vor: eine Mauer einmal rund um die gesamte Erdkugel.
Der amerikanische Juraprofessor Harold Hongju Koh von der Universität Yale fühlte sich schon 1993 an die Errichtung einer »schwimmenden Berliner Mauer« erinnert, als die amerikanische Marine dazu überging, Flüchtlingen aus Haiti den Seeweg nach Florida abzuschneiden und sie ohne Anhörung zurückzuschicken.[29] Seitdem hat man versucht, solche mehr oder weniger sichtbaren Berliner Mauern auch in der Ägäis, der Sahara und anderen Weltregionen aufzubauen. Oft verlassen sich die Agenturen der Einwandererabwehr auf die tödliche Macht der Naturräume, die Migranten durchqueren müssen, um an ihr Ziel zu gelangen. Dem Mittelmeer ist immer wieder genau diese Funktion zugeschrieben worden. Gestorben wird auch in der Hitze der Sonora-Wüste Arizonas, unter deren Sand eine unbekannte Zahl von Migranten aus Lateinamerika begraben liegt. In Südafrika kursieren Geschichten von Flüchtlingen, die während des Bürgerkriegs im Nachbarland Mosambik und auch danach versucht haben, sich durch den grenznahen Kruger-Nationalpark zu schlagen, vorbei an Wildhütern und Touristen, vor allem aber an Löwen, Nashörnern und giftigen Schlangen. Immer wieder werden Gebeine oder Habseligkeiten von Migranten gefunden, die den Tieren zum Opfer gefallen sind.