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Der Mensch – eine Migrantin
ОглавлениеFür weltweit möglichst offene Grenzen spricht, dass das Verlangen, politisch festgelegte Staatsgrenzen dauerhaft zu überschreiten und woanders zu leben, ein grundsätzliches Freiheitsrecht ist. Der Wille, den Ort zu wechseln, in die Ferne zu schweifen, andere Gegenden zu erkunden und sich bei Gefallen dort niederzulassen, ist etwas zutiefst Menschliches. In Europa hat dies der Philosoph Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) in einer Trostschrift an seine Mutter treffend formuliert. Mit feinem Spott wendet er sich gegen die Vorstellung, dass der Mensch ohne »Heimat« (patria) nicht leben könne. »So schau dir doch diese Menschenmassen an, für die kaum die Dächer der unermeßlichen Hauptstadt hinreichen: der größte Teil dieser Schar ist heimatlos.« Dies gelte für »alle Städte: es gibt keine, die nicht einen großen Anteil an ausländischer Bevölkerung hätte«. Die Heimat tragen die Menschen im Gepäck oder finden sie jeweils aufs Neue und woanders. »Unaufhörlich ist das Hin-und-Her der Menschheit.«[22] Normal ist für Seneca die Migration, nicht die lebenslange Sesshaftigkeit.
Man kann getrost noch einen Schritt weitergehen und behaupten, dass es ohne Migrationsneigung den Menschen als ein global aktives Gattungswesen gar nicht gäbe. Die Frühgeschichte unserer Spezies, die in der Zeit der Aufklärung als vorpolitischer »Naturzustand« in Szene gesetzt wurde, liefert dazu immer neue Erkenntnisse. So haben Wissenschaftler am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie sogar herausgefunden, dass unsere Vorfahren, als sie vor rund 50000 bis 60000 Jahren aus Afrika in Richtung Norden wanderten, am östlichen Rand des Mittelmeers auf Neandertaler trafen, mit denen sie gemeinsame Nachkommen hatten. Näher an der Gegenwart, vor ungefähr 4000 Jahren, war es besonders die Mobilität der Frauen, die erstmals für die Schaffung überregionaler Netzwerke und die Verbreitung neuer Metalle wie Eisen und Bronze sorgte, wie die Anthropologin Sandra Lösch von der Universität Bern herausgefunden hat.[23] Der Homo sapiens ist ein Produkt von Migration und Vermischung. Jede moderne Europäerin hat ein wenig von afrikanischen Jägern, westanatolischen Bäuerinnen und eurasischen Hirten mitbekommen. Populationsgenetisch und kulturgeschichtlich betrachtet haben wir alle einen Migrationshintergrund.
Das Resultat globaler Mobilität und Kommunikation ist, dass keine Spezies so homogen ist wie der Mensch. Wir unterscheiden uns von unseren Artgenossen in anderen Teilen der Welt nur durch Merkmale, denen erst wir selbst eine Bedeutung beimessen, zum Beispiel die Hautfarbe oder andere körperliche Eigenheiten. Das ganze Geheimnis des modernen Rassismus liegt darin, dass seine Vertreter von etwas sprechen, das es gar nicht gibt, nämlich menschliche »Rassen«. Erst recht gibt es keine vorgesehenen Gebiete auf der Erde, die willkürlich definierten Menschensorten gehören. Wenn wir von »unserem Land« sprechen, dann kann damit nicht gemeint sein, dass die Bewohner eines bestimmten Ausschnitts der Erdoberfläche die Eigentümer ebendieses Ausschnitts sind. In Europa erinnert man sich an das Alte Testament, in dem es heißt, dass die Erde allen gehört, weil sie eine Gabe Gottes an das Menschengeschlecht sei. Eine Art Allmende, die von den Erdenbewohnern treuhänderisch verwaltet wird.
Für offene Grenzen zu plädieren heißt nicht, dass es überhaupt keine Grenzen geben soll. Es gibt gute Gründe, warum Menschen seit einigen Jahrhunderten eine Vorliebe für institutionelle Flächenstaaten entwickelt haben. Staaten erfordern neben einem souveränen Machtzentrum auch territoriale Grenzziehungen. Lange Zeit ging es in der Geschichte darum, wo genau die Grenzen zwischen Staaten verlaufen und wie ausgedehnt der jeweilige Staat sein sollte. Der Streit darüber befeuerte blutige Kriege, Annexionen und als schmachvoll empfundene Gebietsverluste, die wiederum neue Kriege hervorriefen. Heute geht es in der internationalen Politik nur noch selten um den Verlauf von Grenzen und die Eroberung oder den Erwerb von Territorien – auch wenn Donald Trump unlängst den Dänen Grönland abkaufen wollte. Ernsthaft umstritten ist dagegen die relative Durchlässigkeit von Staatsgrenzen, wobei mich in diesem Buch allein die Durchlässigkeit für natürliche Personen interessieren soll (die freilich verknüpft ist mit der Offenheit für Güter, Daten und Ideen). Dieser Streit um die Freiheit der Einreise und Niederlassung von Personen wird zwischen Staaten, aber mehr noch und viel erbitterter innerhalb von Staaten geführt.
Wenn es stimmt, dass das Bedürfnis nach räumlicher Freizügigkeit gleichsam ein natürliches Recht des Menschen begründet, dann dürfen Staaten dieses Recht nur dann einschränken, wenn die Rechte anderer bedroht sind oder der Staat selbst gefährdet ist. Das ist die erste These des Buches. Allen Menschen muss es erlaubt sein, dem gesellschaftlich produzierten Zustand, in dem sie sich häufig befinden – Armut, Perspektivlosigkeit, politische Verfolgung, Dürre und Hunger –, zu entfliehen, um ein anderes, besseres und ebenfalls mögliches Leben zu beginnen. Die Frage, warum und wohin es sich zu wandern lohnt, sollte so weit wie möglich den Migrationswilligen selbst überlassen bleiben.
Eine zweite These lautet, dass Menschen nicht nur Freiheitsrechte haben, zu denen das Recht auf Bewegungsfreiheit gehört, sondern auch, dass ihnen an ihrer Freiheit gelegen ist. Das bedeutet, dass sie bereit sind, sich ihre Freiheit mit allen Mitteln zu nehmen, wenn Staaten sie ihnen vorenthalten. Politische Philosophen haben seit der Renaissance immer wieder Tiervergleiche gewählt, um die Natur des Menschen zu charakterisieren. So schien der Mensch mal Fuchs, mal Löwe und oft ein Wolf zu sein. Aber tatsächlich unterscheidet sich der Mensch ganz grundsätzlich von anderen Säugetieren dadurch, dass er – anders als Füchse und Löwen und Wölfe – kein territoriales Wesen ist, das sich nur innerhalb eines bestimmten Reviers bewegt. Wölfe oder Rentiere wandern manchmal über 1000 Kilometer, um Nahrung oder Fortpflanzungspartner zu finden. Menschen jedoch wandern buchstäblich überallhin, wenn sie nur wollen. Schon Seneca war erstaunt über die Hartnäckigkeit seiner Zeitgenossen, deren Wanderungen quer durch Europa nicht einmal die Pyrenäen aufhalten konnten. Überall, »durch unwegsames, durch unbekanntes Gelände tummelte sich menschliche Wendigkeit [humana levitas]«. Und in Bildern, die an jüngere Flüchtlingstrecks erinnern, fügte er hinzu: »Sie schleppten ihre Kinder, Frauen und vom Greisenalter gebeugte Eltern mit […]; manche Stämme verschlang auf ihrer Fahrt das Meer, manche ließen sich dort nieder, wo sie der Mangel an allen Mitteln abgesetzt hatte.«[24]
In der Moderne haben Menschen extreme Wanderungen auch ohne jede Not auf sich genommen, so als wollten sie Senecas Wort von der »menschlichen Wendigkeit« beglaubigen. Die höchsten Berge im Himalaya wurden von Europäern bestiegen, die gar keinen zwingenden Grund hatten, die Quälerei dieser Expeditionen auf sich zu nehmen. Wie hilflos wirken im Vergleich dazu all die Mauern und biometrischen Erkennungsdienste, mit denen wir uns umgeben, um Menschen abzuwehren, die getrieben von existenzieller Not die Hochplateaus des Westens anstreben. Dieser Entschlossenheit sollten wir nicht mit Angst, sondern mit Sympathie begegnen, und sei es, weil wir selbst es waren – oder unsere Nachbarn oder unsere Vorfahren –, für die irgendwann im vorigen Jahrhundert keine Mauer zu hoch und kein Risiko zu groß war, um sich auf den Weg zu machen.
Neben der Behauptung, dass es ein Freiheitsrecht auf Mobilität und den Wechsel des Wohnortes gibt, sowie der These, dass der Mensch ein Lebewesen ist, dem an diesem Recht gelegen ist, stellt dieses Buch noch eine dritte These auf: Die Verwirklichung umfassender räumlicher Bewegungsfreiheit für alle ist aufs Engste mit der Zukunft der Demokratie verknüpft. Demokratien beruhen keineswegs auf sesshaften »Völkern«, die über sich selbst bestimmen, sondern auf mobilen Einzelnen, die sich eine Vorstellung machen von ihren Völkern, um sich dann mit diesen zu identifizieren oder auch nicht. Gemäß der Utopie offener Grenzen muss sich im Prinzip jeder Mensch auf der Erde jedem »Volk« durch Zuwanderung und Einbürgerung anschließen können, ohne als Fremdkörper oder »Parasit« abgewiesen zu werden. Ebenso muss sich jeder von seinem Volk durch Abwanderung verabschieden können, ohne als Verräter oder Fahnenflüchtiger abgestempelt zu werden. Moderne Staaten haben diese Freiheit immer wieder unterbunden, indem sie in Medien und Schulen den im Kern faschistischen Mythos von Völkern als geschlossenen, ja verschworenen Gemeinschaften verbreitet haben. Die Utopie offener Grenzen ist eine notwendige Schutzimpfung gegen diesen Mythos.