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Die Geschichte des digitalen Sozialstaats
ОглавлениеDie Orientierungslosigkeit des technokratischen Mainstreams ist der ideale Nährboden für populistische Aufsteiger am linken und rechten Rand des politischen Spektrums. Sie fordern die etablierten Parteien heraus, indem sie sich gegen den Markt oder die offene Gesellschaft wenden. Der tiefe Graben, der die westlichen Demokratien durchzieht, und die visionäre Lücke der alten Eliten werden dadurch umso sichtbarer. „Die westliche Demokratie muss diesen selbstdestruktiven nationalistischen Tendenzen mit einer eigenen großen Erzählung über unsere Gegenwart und vor allem unsere Zukunft… entgegentreten“,28 verlangt der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer.
Kann eine große Erzählung, ein Narrativ, helfen, auch die Herausforderungen der Digitalisierung zu bewältigen? Eine positive, zukunftsweisende und glaubwürdige Geschichte kann die Komplexität der Welt auf ein paar eingängige Formulierungen verkürzen. Sie kann Ängste nehmen, Hoffnung wecken, vor allem Zustimmung bewirken. Wer das Sagen haben will, braucht ein Narrativ. Vielleicht sind die Wählerinnen und Wähler dadurch kurzfristig besser zu beeinflussen, aber nicht die Zukunft.
Die Globalisierung hat die Mittelschicht am unteren Rand aufgelöst. Die Digitalisierung wird sie vielleicht mitten ins Herz treffen. Ein neues Narrativ, eine schlüssige oder wenigstens vordergründig plausible und beruhigende Geschichte über die zukünftigen Segnungen der Digitalisierung, aufgepeppt mit ein paar wirtschaftshistorischen Einsprengseln, dürfte daran wenig ändern. Darauf zu setzen hieße, die politischen Erfahrungen der Bevölkerung zu unterschätzen. Was zählt, ist nicht ein weiteres, die Realität verkürzendes Narrativ, sondern wer die Zeche zahlt. Die Mittelschicht in den Industrieländern hat aus der Geschichte des Neoliberalismus und der Globalisierung gelernt: Sie ist es, die die Rechnung präsentiert bekommt, wenn sich nicht alles so positiv entwickelt wie angekündigt. Warum sollte dies in Zukunft anders verlaufen?
Noch existiert die große Erzählung über die zukünftige Digitalisierung nicht. Doch erste Konturen zeichnen sich bereits ab. Die wichtigste Behauptung ist: Die Arbeit verschwindet durch die Digitalisierung nicht, sie ändert sich nur. An dieser neuen Arbeit kann teilhaben, wer die richtige Qualifikation mitbringt. Also benötigen wir noch mehr und neue Bildung. Dabei sollte, natürlich, der Staat helfen – mit Bildungsförderung von der Vorschule bis zur Pensionierung, damit alle ihre Chance bekommen. Selbstverständlich arbeitsmarktgerecht. Globalisierung ist auch weiterhin nötig, alles andere kostet Wachstum. Europa sollte gemeinsam stark sein, sonst hat es in einer zukünftigen Welt zwischen den USA, Asien und Russland keine Chance. Die Demokratie bleibt zentral, ihre Vorteile müssen nur besser kommuniziert werden. Vielleicht hat sie auch noch Verbesserungspotenzial. Bedingungsloses Grundeinkommen? Nicht nötig, die Arbeit bleibt ja erhalten und damit auch der Sozialstaat, der auf Arbeit gründet. Außerdem unterminiert es die Arbeitsethik und die Solidarität.
Natürlich ist diese kurze Darstellung eine grobe Vereinfachung. Die folgenden Kapitel setzen sich mit der Glaubwürdigkeit dieser Geschichte detailliert auseinander. Mit der Verteilung der Arbeit, dem Nutzen von Bildung, den Vor- und Nachteilen des Grundeinkommens. Und nicht nur damit. Sie zeigen auch, auf was es ankommen wird, wenn das offizielle Narrativ sich einmal mehr für viele nicht bewahrheitet und die Digitalisierung sich als ein weiteres Elitenprojekt herausstellt. Wenn Roboter, künstliche Intelligenz und andere Innovationen nicht nur wirtschaftliches Wachstum schaffen, sondern auch massive Arbeitsplatzverluste. Der heutige Sozialstaat wird die Mittelschicht dabei im Stich lassen. War er einst angeblich eine Hängematte, wird er zukünftig bestenfalls noch als Krückstock dienen. Die Waage zwischen digital und sozial neigt sich zugunsten der neuen Digitalisierungseliten, der alte Sozialstaat wird für zu leicht befunden. Die europäische Mittelschicht hätte dann innerhalb von 100 Jahren Aufstieg und Niedergang vollendet. Ihren Anteil am Volkseinkommen streichen die Gewinner und Gewinnerinnen der Digitalisierung ein, eine immer kleiner werdende Gruppe von Menschen, die Kapital oder zukunftsorientiertes Fachwissen besitzen. Wieviel sie von ihrem Einkommen an die arbeitslosen Massen zurückgeben und auf welche Weise, ist die Kernfrage des zukünftigen Sozialstaats und der Demokratie.
Politik und Sozialstaat sind nicht auf dieses Worstcase-Szenario vorbereitet. Sollte es nicht eintreten, können wir alle und vor allem unsere Kinder dankbar sein. Aber es nützt nichts, es zu verdrängen oder zu verleugnen. Im Gegenteil: Durch die Auseinandersetzung mit seinen Risiken werden wir dazulernen. Wir können dadurch besser verstehen, welche Weichen wir vielleicht in Kürze stellen müssen, um uns nicht nur mit den Herausforderungen der Digitalisierung auseinanderzusetzen, sondern auch von ihren unbestrittenen Vorteilen zu profitieren und sie der ganzen Gesellschaft zukommen zu lassen. Noch besteht diese Möglichkeit. Der Raum zwischen Utopie und Dystopie kann von uns gestaltet werden.