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Phase 1: Die Vorboten des Umbruchs
ОглавлениеZunächst scheint alles so weiterzugehen wie bisher. In den meisten europäischen Industrieländern mit liberaler Demokratie und Marktwirtschaft dominiert der technokratische Mainstream. Von Existenzkrise keine Spur, dafür deutliche Zeichen einer Orientierungs- und Legitimationskrise. Sein Wirtschaftswachstum: umstritten. Seine Verteilungsgerechtigkeit: unbefriedigend. Sein Umweltschutz: mangelhaft. Seine Demokratie: nicht mehr selbstverständlich. Immer offensichtlicher werden die seit langem prognostizierten weltwirtschaftlichen und geopolitischen Gewichtsverlagerungen am Beispiel Chinas, das seine ökonomische Bedeutung inzwischen auch politisch geltend macht. Außer der Einsicht, dass die, vom Westen für gut befundenen, Zeiten der europäischen Hegemonie unwiderruflich vorbei sind, zeichnet sich für die Stellung Europas innerhalb einer zukünftigen Weltgesellschaft keine zukunftsorientierte Strategie ab.
Für die kommenden Jahrzehnte, die nächsten Generationen haben die wirtschaftlichen und politischen Eliten keine Vision. Anstatt strategische Ziele zu entwickeln und zu verfolgen, dominiert „Muddling Through“ das wirtschaftliche und politische Tagesgeschäft. Den Denkhorizont bestimmt der nächste Jahresbericht, die kommende Wahl, ein aufflammender politischer Krisenherd. Als Benchmark dienen quantitative Kurzfristziele, man vergleicht sich mit Vorperioden, Nachbarländern und dem Durchschnitt der EU oder OECD. Konjunktur zählt mehr als Struktur, das schnelle Zehntelprozent Bruttosozialprodukt mehr als eine langfristige Weichenstellung. Die ökonomische und politische Ereignisdichte lässt den Akteuren kaum noch Zeit zum Atemholen. Die Gegenwart der westlichen Mittelschicht steht so sehr im Vordergrund, dass wenig Raum bleibt systematisch ihre Zukunft zu sichern. Diese Aufgabe wird bestenfalls an Kommissionen zur Begutachtung delegiert.
Dem Tempo der Digitalisierung tut dieses Kurzfristdenken keinen Abbruch. Sie breitet sich unaufhaltsam in allen wirtschaftlichen, öffentlichen und privaten Bereichen aus. Und zwar in ihrer gesamten Bandbreite, die zusätzlich Biotechnologie, Nanotechnologie und Umwelttechnik mit all ihren Untergruppen und Querverbindungen umfasst. Das erhöht die Produktivität, beschleunigt das Wirtschaftswachstum, bringt innovative Produkte auf den Markt und verbessert bestehende technische Verfahren. Und schafft neue Arbeitsplätze um den Preis vieler alter. Diese Entwicklung verstärkt einen Trend, der schon seit Jahrzehnten kritisch beobachtet wird: das Absinken des „labour shares“, des Anteils der Löhne und Gehälter am Sozialprodukt. Unaufhaltsam zeigt seine Entwicklung nach unten. Im Gegenzug steigen die Gewinne der Unternehmen, die Börsenhöchststände eilen von Rekord zu Rekord, die Ungleichheit der Einkommensverteilung ebenfalls.
Innerhalb des Westens tobt der Verteilungskampf. Die Globalisierung, die noch etwas Wachstum und Einkommensverbesserungen für die Spitzenverdiener versprach und Stagnation und Arbeitsplatzverluste für die Mittelschicht, wird rückabgewickelt – angeführt von den USA. Europa versucht sich zu wehren und schmiedet neue Handelsallianzen. Viele Arbeitslose in Europa finden keine neue Beschäftigung mehr. Einige Regierungen suchen einen Kompromiss zwischen Innovation und dem Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, indem sie den Arbeitsmarkt mit Transformationsgarantien regulieren, die den Kündigungsschutz bei Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz verlängern. Eine von Wissenschaft und NGOs angeregte internationale Einigung über die Steuerung und Kontrolle der Digitalisierung bleibt unrealisiert. Die Politik hat zwar keine Strategie, um die sozialen Konsequenzen der Digitalisierung abzudämpfen, dafür aber ihr wirtschaftliches und militärisches Potenzial komplett in den internationalen Wettbewerb integriert. Die Digitalisierung soll nicht nur den Menschen nützen, sondern auch der Macht der Staaten. Es ist von Aufholjagd, Konvergenz, Überholen oder Zurückfallen die Rede.
Doch die steigenden Arbeitslosenzahlen, die wirtschaftliche Ungleichheit und die Umweltbelastung haben ihren Preis: Unruhe und Kritik innerhalb der europäischen Bevölkerung. Sie glaubt nicht mehr an den herrschenden technokratischen Mainstream, der sich weiterhin am Status quo orientiert, und sucht nach neuer Orientierung.