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Phase 2: Der Kampf um einen neuen Gesellschaftsvertrag

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So entfaltet sich abseits des Status quo die gesellschaftliche und politische Dynamik. Immer mehr Menschen in Europa sorgen sich um die Umwelt und die Zukunft ihrer Kinder, auch wenn es ihnen im globalen Vergleich materiell noch gut geht. Viele engagieren sich für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“: die alternative Wirtschaft, in der Umwelt und Lebensqualität an erster Stelle stehen. Sie verspricht eine breitere Verteilung von Arbeit mit mehr Freizeit für die Erwerbstätigen und geringeren Einkommensunterschieden. Ihr Ziel ist ein entschleunigtes Wirtschaftswachstum. Produzenten und Konsumenten werden in ihrer Freiheit eingeschränkt, das betrifft insbesondere die Biotechnologie-Branche, die stärker nach ethischen Kriterien reguliert werden soll. Ohne Eingriffe in die Marktwirtschaft ist diese Vision schwer zu verwirklichen. Dafür ist aber die Entkoppelung der Sozialsysteme vom Arbeitsmarkt kein Tabu mehr. In der alternativen Wirtschaft stagniert die Mittelschicht, bleibt aber intakt.

Völlig anders sieht die Zukunft in den Augen der Digitalisierungseliten aus, einer neuen gesellschaftlichen Gruppe, die sich in Europa und der restlichen Welt in den vergangenen Jahren herausgebildet hat. Zu ihr zählen in diesem Szenario nicht nur die Topführungskräfte aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft, sondern eine breitere Oberschicht von Menschen mit einer hohen technisch-wissenschaftlichen Qualifikation, einem hohem Einkommen, großem Finanzvermögen und erheblichem gesellschaftlichen Einfluss. Dazu gehört ebenfalls die gut verdienende Gruppe von Dienstleistenden, die für sie und die Wirtschaft unentbehrlich sind. Diese Elite umfasst alle Gewinner und Gewinnerinnen der Digitalisierung. Mit starkem Engagement in der öffentlichen Debatte versucht sie der öffentlichen Kritik zu begegnen, die der schnelle technologische Wandel hervorruft. Dabei treten ebenfalls Eckdaten für einen möglichen neuen Gesellschaftsvertrag zu Tage. Das Gegenangebot der technologisch-wirtschaftlichen Eliten an die gefährdete Mittelschicht lautet in etwa folgendermaßen: Die digitale Wirtschaft und Wissenschaft darf frei investieren und forschen, um die Innovation in allen Bereichen voranzutreiben. Damit sorgt sie für Wachstum, Umweltschutz, bessere Gesundheit und längeres Leben. Dass die Mittelschicht an allem beteiligt wird, kann nicht garantiert werden, da die Arbeitsleistung, mit der diese bisher ihr Geld verdient hat, immer weniger benötigt wird. Zum Ausgleich gibt es das bedingungslose Grundeinkommen, das den Sozialstaat revolutionieren soll – weg von der differenzierten Leistungsvielfalt hin zu einer Leistung für alle und alles: Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung, Einheitsrente inklusive medizinischer Grundversorgung in einem. So ausgestattet kann die für Produktion und Dienstleistung nicht mehr benötigte europäische Bevölkerung zumindest begrenzt an der Fülle der neuen Produkte teilhaben. Und, um etwas hinzuzuverdienen, auch ihre Arbeitskraft auf einem noch freieren und effizienteren Arbeitsmarkt ohne Mindestlöhne anbieten. Ein Anspruch auf Arbeit, der rechtlich noch nie bestand, ist ebenso wenig angedacht wie eine Verpflichtung etwas zu tun.

Der Diskussionspegel innerhalb der Gesellschaft steigt. Einige Gruppen aus der Mittelschicht sehen mit dem Angebot der Digitalisierungseliten ihre Hoffnung auf ein Grundeinkommen steigen, das sie seit langem fordern. So entsteht eine ungewöhnliche Koalition aus politisch linken Gruppierungen, utopischen sozialreformerischen Kreisen, Menschen, die Sozialhilfe beziehen, Studierenden, freiberuflich Tätigen, Älteren mit Niedrigrenten, Teilzeitbeschäftigten sowie von Abstiegsangst verunsicherten Teilen der Mittelschicht. Sie alle befürworten das Grundeinkommen, allerdings bei reguliertem Arbeitsmarkt, in dem weiterhin Mindestlöhne gezahlt werden. Große Teile der Gewerkschaften und Parteien aus dem mittleren politischen Spektrum lehnen das Grundeinkommen dagegen vehement ab, gerade weil es die Arbeitsorientierung als Basis der Gesellschaft in Frage stellt. Ebenso viele ältere Beschäftigte kurz vor dem Ausscheiden aus dem Berufsleben, die ihre Anstellungsverträge durch Transformationsgarantien erhalten konnten.

Der gesellschaftliche Diskurs spitzt sich zu. Gegnerinnen und Gegner der alternativen Wirtschaft machen mobil und starten eine Kommunikationsoffensive gegen das alternative Modell. Ihre Argumentation: Die Digitalisierung macht auch vor der alternativen Wirtschaft nicht Halt. Hochproduktive Arbeit für viele gleichmäßig zu verteilen wird in einer alternativen Wirtschaft immer schwieriger werden. Weil das Produktivitätswachstum mit der Weltwirtschaft nicht mithält, verschlechtert sich die internationale Wettbewerbsposition. Das Kapital wird seinen Preis für die Automatisierung fordern, die wirtschaftliche Ungleichheit auch im alternativen Modell steigen oder die Investitionen zurückgehen. Eine ethische Regulierung der Innovation ohne globale Übereinkünfte schneidet inländische Hersteller und Verbraucher von wichtigen technologischen Entwicklungen ab. Im globalen Vergleich fallen die Kompetenzen zurück, die Stellung im Welthandel verschlechtert sich weiter. Importe können schließlich nur noch bezahlt werden, indem man Kredit im Ausland aufnimmt. Irgendwann werden die internationalen Finanzmärkte unruhig. Die Einfuhr zu finanzieren und Kredite zurückzuzahlen lässt sich nur noch bewerkstelligen, indem man Vermögenssubstanz verkauft: Immobilien, Bodenschätze, Unternehmen und Infrastruktur gehen in ausländische Hände über. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik wird von den globalen wirtschaftlichen Notwendigkeiten diktiert, nicht mehr von den Vorstellungen der alternativen Gesellschaft. Die Erinnerung an das „griechische Schicksal“ macht die Runde.

Die Befürworter des alternativen Modells halten dagegen. Sie plädieren zwar für eine offene Gesellschaft, wollen die alternative Wirtschaft jedoch dem direkten Druck der Weltmärkte entziehen, indem sie den Außenhandel regulieren. Das führt aus ihrer Sicht nicht zu wirtschaftlichen Nachteilen, weil materielles Wirtschaftswachstum nicht gewollt ist. Als Vorteile führen sie neben dem Umweltschutz einen stärkeren sozialen Zusammenhalt und eine geringere wirtschaftliche Ungleichheit an.

Viele Bürgerinnen und Bürger sind skeptisch und wägen ab. Im globalen Kontext ist eine alternative Nischenwirtschaft immer eine Wette auf die Zukunft der restlichen Welt. Wenn diese durch Digitalisierung und Innovation immer schneller wächst und ihrer Bevölkerung neue, attraktive Lebensformen, Produkte und Dienstleistungen bietet, steigt ihr weltpolitisches Gewicht – und vielleicht auch ihre Attraktivität für nachwachsende Generationen aus der alternativen Wirtschaft. Gleichzeitig ist nicht völlig auszuschließen, dass der digitale Kapitalismus eines Tages in eine finale Krise stürzt, verursacht durch überzogenes Wachstum, ausufernde soziale Ungleichheit und unkontrollierte Innovation. Dann könnte die alternative Wirtschaft zum globalen Vorbild werden. Vorausgesetzt, die weltweite wirtschaftliche Expansion hat zu diesem Zeitpunkt nicht bereits die globale Umwelt und Sicherheit so nachhaltig geschädigt, dass es auch für alternative Gesellschaften keine geschützten Rückzugsorte mehr gibt. Viele befürchten, dass ohne einen globalen Konsens die europäische Mittelschicht in einer alternativen Wirtschaft vom Rest der Welt abhängig wird. Allerdings hat auch das Modell der Digitalisierungseliten seine Nachteile. Auf immer neue Höhen treibt es den Wettstreit um globale Konkurrenzfähigkeit. Und während die europäische Elite um ihren Platz in der Welt kämpft, verliert die Mittelschicht ihre soziale Stellung. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Ungleichheit verschärft sich massiv. Dafür locken das Angebot des bedingungslosen Grundeinkommens und die Befreiung von der Pflicht, monotone, sinnentleerte und menschenunwürdige Tätigkeiten ausüben zu müssen.

MITTELSCHICHT FÜR ALLE

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