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Der gute alte Sozialstaat ist überfordert

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Wie schnell wird die Arbeit verschwinden? Von der altehrwürdigen Universität Oxford ging schon 2013 ein Weckruf aus, der durch alle westlichen Industrieländer hallte. In den nächsten 10 bis 20 Jahren werden 47 Prozent der Arbeitsplätze in den USA durch Roboter und künstliche Intelligenz relativ leicht ersetzbar sein. Dies prognostiziert eine Studie der Autoren Carl Benedikt Frey und Michael A. Osborne von der Oxford Martin School.19 Die Untersuchung der beiden Forscher enthält konkrete Vorhersagen für eine Vielzahl einzelner Berufe. Sie erzielte ein weltweites Medienecho und setzte in kurzer Zeit viele nationale und internationale Nachprüfungen und Gegenrechnungen in Gang. Regierungsinstitute, Arbeitsmarktforscher und internationale Unternehmensberatungen veröffentlichten in immer kürzeren Abständen neue Studien, die zu ähnlichen oder deutlich weniger dramatischen Ergebnissen kamen.

Wenn es eine Quintessenz aller Studien gibt, dann die: Niemand kann heute vorhersagen, wie schnell die digitale Disruption den Arbeitsmarkt umgestalten und wie weit sie gehen wird. Vor allem zwei entscheidende Fragen sind völlig offen: Werden mindestens so viele neue Jobs geschaffen wie alte verschwinden? Und: Welcher Anteil dieser neuen Arbeitsplätze wird hochqualifiziert und gut bezahlt sein, welcher nur Niedriglohnjobs für Geringqualifizierte bieten? Das fehlende Wissen wird häufig durch Glaubensakte ersetzt. Immer wieder wird zur Beruhigung auf die historische Tatsache verwiesen, dass bisher noch jede industrielle Revolution – und um nichts anderes handelt es sich bei der Digitalisierung – mehr und besser bezahlte Arbeitsplätze geschaffen hat als es vorher gab. Die Nachkommen der Weber, die einst Aufstände gegen die neuen Textilmaschinen starteten, können heute als gut bezahlte IT-Fachkräfte und Marketingexpertinnen arbeiten. Vergessen wird dabei allerdings, dass es in den Übergangsphasen auch erhebliche und lang andauernde gesellschaftliche Verwerfungen gab. Dauerarbeitslosigkeit, schlechtere Arbeitsbedingungen, sozialer Abstieg und Armut wurden für Millionen Menschen in diesen Umbruchzeiten zur bitteren Realität. Wie in jeder Revolution zahlten ihre Opfer den Preis für die Veränderung. Bäuerinnen wurden zu schlecht bezahlten Arbeiterinnen, freie Handwerker gingen als Facharbeiter in die Fabriken, die Chancenlosigkeit trieb viele Jüngere in die Emigration. Die Geschichte bietet keinen eindeutigen Wegweiser für die Digitalisierung. Der Blick zurück auf die industriellen Umbrüche des 19. Jahrhunderts spendet keinen Trost für die Erwerbstätigen, die fürchten ihr zukünftig zum Opfer zu fallen. Von den menschenunwürdigen Arbeits- und Lebensbedingungen zu Beginn des Manchester-Kapitalismus bis zu den Anfängen des modernen Sozialstaats brauchte es rund 150 Jahre.

Aber haben wir heute nicht völlig andere Verhältnisse? Zumindest in den alten europäischen Industriestaaten wurde der Sozialstaat nach dem Zweiten Weltkrieg fest verankert. In Deutschland hat er ebenso wie der Rechtsstaat sogar Verfassungsrang.20 Tatsächlich wird dies die entscheidende soziale Frage der Digitalisierung werden: Kann der Sozialstaat die zu erwartenden sozialen Umbrüche und Risiken der Digitalisierung ausreichend kompensieren? Oder wird er sich unter der Last des Abstiegs und Zerfalls der Mittelschicht als Schönwetter-Sozialstaat entpuppen? Bereits in den 1990er Jahren wurde er als Antwort auf die Langzeitarbeitslosigkeit und den demografischen Wandel reformiert. Als Reaktion auf eine Massenarbeitslosigkeit muss er bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet werden. Kritiker finden ihn heute schon zu teuer. Manche halten ihn nicht mehr für zeitgemäß und fordern ein bedingungsloses Grundeinkommen. Sicher ist: Die Gefährdung der Arbeit durch die Digitalisierung wird unweigerlich den Sozialstaat, die zentrale soziale Errungenschaft des 20. Jahrhunderts, auf den Prüfstand stellen. Wenn er den Einzelnen nicht genug Teilhabe ermöglicht und der Gesellschaft nicht genug Zusammenhalt, wird sein Versagen unweigerlich die europäischen Demokratien mit in den Abgrund reißen.

Kommt es zu einer anhaltenden Massenarbeitslosigkeit, stehen die westlichen Gesellschaften, insbesondere die alten europäischen Industriestaaten, vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Ein Blick zurück zeigt warum. Mitte der 1990er Jahre war die Arbeitslosigkeit in Europa auf zehn Prozent angestiegen. Schon diese Arbeitslosenquote wollten die Beschäftigten der Mittelschicht und die Unternehmen nicht durch Dauerzahlungen auffangen. In den Jahren danach wurden die Sozialsysteme in vielen europäischen Staaten reformiert. „Nachhaltige soziale Gerechtigkeit durch einen aktiven Wohlfahrtsstaat“ nannte sich das neue Konzept der Europäischen Union.21 Die Unternehmen und ihre Beschäftigten wurden entlastet, dafür den Arbeitssuchenden neue Pflichten auferlegt und ihre Bezüge gekürzt. Rentenreformen reduzierten zukünftige solidarische Altersbezüge und förderten die private Vorsorge. Im Ergebnis wurden soziale Risiken von der Gesellschaft zu den Individuen verschoben. Wenn die gesellschaftliche Solidarität schon diese Bewährungsprobe nicht bestanden hat, was ist von ihr zu erwarten, wenn 30, 40 oder 50 Prozent der Mittelschicht keine Arbeit mehr hat und der Rest hochbezahlte Tätigkeiten in der digitalisierten Wirtschaft ausübt? Der Sozialstaat wird weitgehend durch die Mittelschicht finanziert, ihre Beiträge und Steuerzahlungen sorgen für Sozialhilfe, Arbeitslosenunterstützung, Krankenversicherung und Rente. Dieses Modell wird nicht mehr funktionieren, wenn die Mittelschicht schrumpft und in immer mehr Unterstützungsberechtigte und weniger Zahlende zerfällt.

Doch die aktuelle Agenda der Sozialpolitik bewegen diese Fragen kaum, sie wird dominiert von der alten analogen Ökonomie. Die sozialpolitische Debatte läuft, mit verschiedenen Nebengleisen, in etwa auf folgender, inzwischen allseits bekannter Argumentationsschiene ab: Die Bevölkerung der Industrieländer schrumpft, der jährliche Produktivitätszuwachs ist in den vergangenen Jahrzehnten gesunken. Das zukünftige Ergebnis ist mit Glück ein geringes Wachstum, mit Pech eine stagnierende Wirtschaft. Die europäischen Länder beschäftigt diese Thematik seit Jahren. Staatsverschuldung, Rentenhöhe, Krankenversicherungskosten – in den meisten Industrieländern wird die Diskussion des Sozialsystems von Demografie und Produktivitätswachstum bestimmt. Fast jeden Monat erscheinen Studien und Vorausberechnungen mit Warnhinweisen. Durch dieses Framing sind inzwischen alle europäischen Bürger auf die Alternativlosigkeit von Leistungskürzungen und Beitragserhöhungen eingestimmt, wenn das Problem nicht durch noch mehr Staatsschulden vor sich her geschoben werden soll. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Lawrence Summers hat bereits die „säkulare Stagnation“ ausgerufen. Er ist der Meinung, dass uns ein geringes Wirtschaftswachstum noch lange begleiten kann, wenn die Politik nicht gegensteuert.22

Doch kann sie überhaupt etwas gegen die anhaltende Wachstumsschwäche tun? Politiker, Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Forschungsinstitute und Unternehmensberater schlagen immer wieder die gleichen Lösungen vor. Es sind die Klassiker aus dem neoliberalen und keynesianischen Politikbaukasten. Sie laufen auf kleine Drehungen an vielen Stellschrauben hinaus, die wir alle schon gehört haben: mehr in Infrastruktur investieren, zum Beispiel Straßen erneuern, Schulen moderner ausstatten, Breitbandnetze verlegen. Die Studierenden dazu bringen, öfter MINT-Fächer zu belegen. Natürlich weiter deregulieren, damit die Unternehmen besser investieren können. Auch der Arbeitsmarkt muss noch flexibler werden. Alle sollen länger arbeiten, mehr Frauen berufstätig werden und die Einwanderung steigen, damit wir zusätzliche Arbeitskräfte bekommen. Die Globalisierung ist selbstverständlich fortzusetzen und schließlich sollten wir, also der Staat, die Innovation stärker fördern.

Die Digitalisierung erscheint in diesem Rahmen meist nur als Hinweis auf die Zukunft, als zusätzliches Problem, als „Herausforderung“. Auseinandergesetzt hat sich mit ihr auch das deutsche Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Es hat die Arbeit weiter gedacht und verkündet in seinem „Weissbuch Arbeiten 4.0“: „Infolge des technologischen und wirtschaftlichen Wandels wird es keine massenhafte Automatisierung von Arbeitsplätzen geben.“23 Sind die größten Ängste also unbegründet? Oder werden besorgte Bürgerinnen und Bürger vermuten, bei den politischen Erklärungen zur Digitalisierung handele es sich um einen ehrenwerten Versuch der Beruhigung, gerade weil die sozialen Risiken der Digitalisierung so bedrängend sind und die Bevölkerung ihnen weitgehend hilflos ausgeliefert ist? „Wo…Abwehr und Vermeidungshandeln so gut wie ausgeschlossen sind, bleibt als (scheinbar) einzige Aktivität: ein Beruhigen, das Angst macht …“ konstatierte der Soziologe Ulrich Beck für die moderne Risikogesellschaft.24 Nach dieser Logik werden pauschale Beruhigungen nichts nutzen, im Gegenteil, die Angst noch vergrößern. Sie schaffen keine Ruhe, sondern verstören mehr durch die Hilflosigkeit der Politik. Sie sind die Offenbarung, dass sie zwar beste Vorsätze, aber wenig Mittel hat, mit den kommenden Problemen sicher umzugehen. Auch nicht mit deren Geschwindigkeit. Der neue deutsche Bundestag, gewählt 2017, hat zu einem bewährten Mittel der politischen Konsensbildung gegriffen und eine Enquete-Kommission zum Thema künstliche Intelligenz gebildet. Der Abschlussbericht soll nach dem Sommer 2020 vorliegen. Spätestens ein Jahr danach wird bereits der nächste Bundestag gewählt. Vielleicht machen dann die Fakten, die die IT-Konzerne in der Zwischenzeit geschaffen haben, eine nächste Enquete-Kommission erforderlich.

Das Erstaunliche an dieser Haltung zur Digitalisierung ist die Tatsache, dass der massenhafte Arbeitsplatzverlust in offiziellen politischen Verlautbarungen kaum vorkommt. Das Gesellschaftsmodell basiert weiter auf Arbeit, Vollzeitarbeit bleibt das Leitmotiv. Nach Ansicht des deutschen Politikers Thorsten Schäfer-Gümbel geht es darum, „…in der zersplitterten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts das digitale Synonym des Achtstundentags herauszuarbeiten und diesen Kern in zukunftsfähige Politik zu übertragen.“25 Daher müssen auch die gegenwärtigen Grundprinzipien des Sozialstaats nicht in Frage gestellt werden. Der Sozialstaat soll „linear“ weiterentwickelt werden, als „Fortführung des Bewährten…mit digitalen Mitteln“.26

Was passiert, wenn die Digitalisierung keinen Achtstundentag für alle mehr hergibt, vielleicht nicht einmal mehr für viele, auch nicht sein Synonym? Dieser Fall steht im aktuellen Denken des politischen Mainstreams meist nicht im Vordergrund. Es beschäftigt sich weiter mit der Verteilung der sozialen Kosten, die durch die Alterung der Gesellschaft und das geringe Wachstum entstehen. Verursacht hat diese Kosten die Babyboom-Generation der 1950er- und 1960er-Jahre. Sie hat die größte wirtschaftliche Expansionsparty aller Zeiten gefeiert, den Massenkonsum zelebriert, weniger Kinder bekommen als ihre Eltern und das Ganze mit einem stetig wachsenden Raubbau an der Umwelt sowie einem gigantischen Schuldenberg finanziert. Bekommen ihre Kinder nun die Quittung dafür? Muss die nächste Generation froh sein, wenn sie mit Mühe das Einkommensniveau ihrer Eltern halten kann, während sie deren Alter finanziert?

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