Читать книгу MITTELSCHICHT FÜR ALLE - Volker Schmitz - Страница 9
Das neue Denken
ОглавлениеEine kleine, aber wachsende Schar von Unternehmern, Unternehmerinnen und Forschenden ist anderer Meinung. Sie entzieht sich dem offiziellen Denkmodell, setzt ihre eigene Agenda und treibt sie mit höchstem Tempo voran. Ihre Hoffnung sind die zukünftigen Chancen einer hochdigitalisierten innovativen Wirtschaft. Technologische Fortschritte stellen für sie kein Problem dar, sondern die Lösung. Diese Techno-Optimisten sind davon überzeugt, dass Roboter und künstliche Intelligenz zunehmend die Menschen bei der Arbeit unterstützen und ersetzen werden, aber beides positiv ist. Die Entwicklung soll sich sogar beschleunigen, weil irgendwann die künstliche Intelligenz der menschlichen überlegen sein und sich selbst immer weiter optimieren wird. Ihr Prophet ist der US-amerikanische Erfinder, Zukunftsforscher und Autor Ray Kurzweil. Sein Endziel ist die Singularität, der Zustand, in dem wir die Grenzen unserer menschlichen Biologie überwinden und mit der Technologie verschmelzen. „Es wird keinen Unterschied geben, nach der Singularität, zwischen Mensch und Maschine oder zwischen physischer und virtueller Realität“, so Kurzweil.27
Auch wenn die Singularität noch in weiter Ferne liegt, ermöglicht dieses neue Denken immer wieder ganz andere Lösungen als das alte. Wenn das Endziel die autonome Produktion ist, mit so wenig Menschen wie möglich, welchen Unterschied macht es dann, ob die Arbeitsbevölkerung in Europa zukünftig um 30, 40 oder 50 Millionen Menschen zurückgeht? Das Kernproblem des alten Denkens, die Demografie, begrenzt nicht mehr das Wirtschaftswachstum. Vorbei die Zeiten, in denen das Wachstum des Bruttosozialprodukts mit der Bevölkerungsentwicklung verbunden war. Der Input an Arbeitskräften ist kein begrenzender Faktor mehr für den Output an Gütern und Dienstleistungen. Im Gegenteil: Wenn Roboter produzieren, steigert der Bevölkerungsrückgang den Wohlstand pro Kopf. Der Traum der Techno-Optimisten sind selbstlernende Systeme, die irgendwann ohne viel menschliche Hilfe immer schneller neue Roboter, Abläufe und Verfahren entwickeln und herstellen. Damit verliert auch die zweite Wachstumsgrenze, die Arbeitsproduktivität, ihre Bedeutung.
Das alte Denken sieht in Europa Demografie und Produktivitätszuwachs als Engpässe für die wirtschaftliche Entwicklung. Das neue Denken der Techno-Optimisten beseitigt dieses Nadelöhr. Doch ihre Fantasien konzentrieren sich meist nur auf die technischen Aspekte. Die gesellschaftlichen Konsequenzen bleiben nebulös. Die kurze Geschichte des Internetzeitalters veranschaulicht, wie die weitere Zukunft aussehen könnte. Das Internet hat seine Breitenwirkung über innovative Unternehmen entfaltet, die in historisch ungekannter Schnelligkeit weltweit dominierende Marktstellungen erlangt haben. Online-Händler, Suchmaschinen und soziale Medien waren vor 15 Jahren noch eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Randerscheinung. Heute bewegen die zehn größten IT-Unternehmen der Welt die Börsen in den USA und China, sie sind weit mehr wert als alle deutschen Unternehmen zusammen. Die sozialen Konsequenzen dieser neuen Konzerne und ihrer Marktführerschaft haben sich dabei ebenfalls in atemberaubendem Tempo entfaltet. Gigantische Gewinne für die Aktionäre, Spitzengehälter für eine begrenzte Anzahl von hochqualifizierten Fachkräften, gewaltige Arbeitsplatzverluste in den etablierten Branchen, deren Geschäftsmodelle sie vernichten. Europäische Politiker träumen davon, auch global bedeutende IT-Unternehmen in ihren Ländern zu beheimaten. Tatsächlich wären 100 anstelle von zehn digitalen Marktführern bei den heutigen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht nur ein technologischer Fortschritt, sondern vermutlich auch eine soziale Katastrophe. Die gängigen gesellschaftlichen Reaktionsmuster zeigen sich dem Entwicklungstempo der Unternehmen und den Konsequenzen für Arbeitsmärkte und Sozialsysteme derzeit nicht annähernd gewachsen.
Gefährdet die Digitalisierung also zwangsläufig die bestehenden Sozialstaaten? Entscheidend werden das zukünftige Tempo und die Qualität von Wirtschaftswachstum und Arbeitsplatzverlusten sein. Im positivsten Fall beschert uns die Digitalisierung ein Wirtschaftswachstum, das eine Vielzahl neuer, gut bezahlter Arbeitsplätze schafft ohne die Umwelt weiter zu belasten. Die arbeitende Bevölkerung bringt die richtige Qualifikation dafür mit und ist voll beschäftigt. Die Politik darf den Überfluss verwalten, um die Arbeit und den Sozialstaat müssen wir uns keine Sorgen machen. Doch was geschieht, wenn dieses digitale Schlaraffenland nicht Wirklichkeit wird und es einfach so weitergeht wie bisher, nur digitaler? Das Wachstum bleibt gering, die Diskussion um Demografie und Rentenfinanzierung begleitet uns auch zukünftig, die Digitalisierung kostet nicht so viele Arbeitsplätze wie befürchtet. Die Eliten des technokratischen Mainstreams werden mit den bewährten Methoden den Status quo verwalten und den Sozialstaat mit leichten Änderungen erhalten.
Was aber passiert, wenn die Digitalisierung zwar neues Wachstum bewirkt, aber gleichzeitig massiv Arbeitsplätze vernichtet? Wenn sie steigende Gewinne für diejenigen schafft, die Kapital besitzen, hohe Gehälter für eine kleine Kaste von digitalen Führungskräften und keine Arbeit mehr für die Masse, deren Qualifikation nicht ausreicht? Wenn sie nicht fünf oder zehn Prozent Arbeitslosigkeit bringt, sondern 30 oder 50 Prozent? Dies wird die etablierten Sozialstaatsmodelle sprengen und gesellschaftliche Verwerfungen hervorbringen, für deren Regelung sich die Gewinner und Gewinnerinnen der Digitalisierung nicht verantwortlich fühlen und die der Staat mit den alten Konzepten nicht mehr lösen kann. Müssen wir uns dann zwischen einer digitalen und einer sozialen Gesellschaft entscheiden? In den offiziellen Planungen der gegenwärtigen Politik ist dieser Fall nicht vorgesehen, er wird schlicht öffentlich ignoriert. Doch dieses Risiko zu verdrängen wird uns nicht vor seinem Eintreten schützen.