Читать книгу Hitlers Double. Tatsachenroman - Walter Laufenberg - Страница 14
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ОглавлениеDenver ist mal wieder zum Scheißeschreien. Dreimal um den Block, dann um den nächsten - take it easy - und noch einen weiter, rund immer rund. Bis sich endlich ein uralter Firebird aufscheuchen läßt. Lautprustend und mit lahmem Flügelschlag macht er eine Parklücke frei. Aber dann zwei Blocks weit gehen müssen bis zu Helga’s Pub. Lästig. Doch ein anderes Lokal, nein. Wenn Helga auch eine Deutsche ist. Wie diese Frau im Fleisch steht. Und hat noch keinen Mann, wundert Dean O’Casey sich.
Kurz vor Helga’s Pub, dem Lokal des Denver Press Club, holt Billy H. Winters ihn ein. Auch zu Fuß und mit dem Autoschlüssel in der Hand. Auch in dieser steifen Gangart, die mit jedem Schritt das Fremdartige der Fortbewegung herausstreicht. Schon mehr zur Entschuldigung als aus Trotz. Der eine weiß so gut wie der andere, wohin es geht. Natürlich, denkt der eine wie der andere.
„Die schwarze Glaswand da“, schimpft Dean los, „die müssen sie letzte Woche hingehustet haben. Nie gesehen vorher. So ein Riesending von Spiegelfassade, einfach brutal.“
Billy weiß, daß Dean nicht oft Gelegenheit hat, die City aus der Fußgängerperspektive zu betrachten. Nur immer im Wagen unterwegs zwischen Büro, Gericht und Gefängnis. Ein gut beschäftigter Rechtsanwalt. Der Anwalt der Stadt, dessen Telefonnummern, und zwar die vom Büro wie die private, viele im Notizbuch haben - und zur Vorsicht auch im Kopf. Wenigstens alle, die in Denver mit Drogen, illegalem Glücksspiel und Prostitution einen schnellen Dollar machen.
„Eine neue Bank, kanadisch“, erklärt Billy H. Winters. „Leider nicht von mir. Aber ich kann ja nicht alles machen. Wir können gar nicht so schnell neue Bauten hochziehen, wie bei den Bänkern das Geld wächst.“ Ein Bauunternehmer und so gut im Geschäft wie der Anwalt.
„Verflucht, eine City habt ihr uns hier hingesetzt, man kommt sich fast so verarscht vor wie in Manhattan.“
„O Dean, my dear, geht’s schon wieder los? Würden Sie nur einmal Ihr Besserwissermaul halten. Warum sollten wir wohl nicht eine Skyline haben wie New York? Ist dieser faulende Big Apple etwa was besseres als unser Denver?“
Ein Windstoß rollt die Vierzehnte Straße herauf. Mund zu, Kopf runter und mit fast geschlossenen Augen weiter. Dagegen an und sich nichts draus machen.
Nicht so der Anwalt. „Danke, Billy“, murmelt er mit fast geschlossenen Lippen.
„Danke wofür?“
„Na, für den Wind, der einem alle Löcher mit Dreck zustopft. Ist doch auch euer Werk.“
„Ja, das Problem der Fallwinde ist sehr störend, zugegeben, aber das kriegen wir noch in den Griff.“
„Windfallen bauen, das könnt ihr, Windfallen in Downtown Denver wie in Downtown Manhattan. Immer neue Windfallen. Und gelernt habt ihr noch nichts dabei.“
Billy H. Winters verzichtet auf eine Antwort. Er weiß, wenn dem Anwalt danach ist, alles beschissen zu finden, kommt man mit keinem Argument gegen ihn an. So versucht er, die Sache lustig zu sehen: „Warum eigentlich nicht gleich oben in Broomfield parken, an der hundertachtundzwanzigsten Avenue am besten. Ein netter Drei-Stunden-Spaziergang. Und die Möglichkeit, auf achtzehn Loch zu spielen.“
„Jetzt interessiert mich nur noch ein einziges Loch: Diese ausgedörrte, sandsturmmalträtierte Kehle.“
Helga ist tatsächlich zurück. Ein Glück. Dieser Wattebausch auf Beinen, weiß Billy, wird alles wieder heilen. Aber Hamilton ist auch schon da, wartet am Tresen. Der Mann, der einfach nur Hamilton heißt, weil es so über seinem Juweliergeschäft steht, in Riesenleuchtschrift. Genauer gesagt, über jedem der neun Schaufenster, die er bei jeder Vorstellung wie einen Doktortitel anführt: Ich bin der Neun-Schaufenster-Hamilton.
Drei frische Coors stehen auf dem runden Stammtisch in der Ecke, noch ehe Dean dazu kommt, sich über die verdammt trockene Luft im Club zu beklagen. Ein Spruch, den er nie leid wird. Für Helga immer wieder ein sportlicher Anreiz, ihn zu unterlaufen. Schon ist sie beim nächsten Punkt des festgelegten Zeremoniells. Bei Pitt S. Cherrytree. Von der Küche aus sofort bei ihm anläuten, daß die drei Herren gerade an ihrem Ecktisch Platz nehmen. Strenge Anweisung von Cherrytree, der damit sicherstellt, daß ihm nichts Wichtiges entgeht, wie er sich ausdrückt.
Pit S. Cherrytree - das S von Samuel läßt er immer weg, deshalb sagt es jeder besonders gern - ist der Herausgeber des Anzeigenblattes mit der größten Verbreitung in ganz Colorado. Immer scharf darauf, eine Nachricht zu bringen, die nicht über den Ticker der Agenturen gekommen ist. Da ist ihm jeder Stadtklatsch recht. Womit er einen guten Grund hat, sich bei Helga einzufinden, beinahe jeden Abend - bis auf die zwei Monate Pause, die Zeit der Urlaubsvertretung, die ja nun endlich vorbei ist. Einen guten Grund hat er, ja, genau wie jeder der drei am Stammtisch: Wer würde bei so einer Frau den anderen das Feld kampflos überlassen?
Viel Betrieb an der Theke. Nicht nur an der Schmalseite sitzt man, wo die Vorsichtigen zu sitzen pflegen, die nur mit dem Rücken an der Wand schlucken. Alle Barhocker besetzt. Leute von der Presse auch. Aber hauptsächlich Leute, von denen die Presse was will. Oder die wissen, was sie wollen und wie man es mit Hilfe der Presseleute durchsetzt.
„Helga!“ „Helga!“ Aus allen Richtungen. Und Helga wieder überall gleichzeitig. „Als ob Sie während meiner Ferien nichts zu trinken gekriegt hätten, meine Herren.“ Als kämen sie nach einem halben Jahr auf dem Kabelleger das erste Mal an Land, amüsiert sie sich. Dabei war doch jeden Abend geöffnet. Warum sind sie nicht gekommen? Bill Pandosy, das war schon die richtige Urlaubsvertretung. Wie der sich hinter der Theke tummelt, wie schnell der die Bierchen zapft, toll. Als hätte er sein Leben lang nichts anderes gemacht. Hat sich wirklich schnell eingearbeitet. Ein Thekentalent.
Pit S. Cherrytree tritt in die Arena. Schon in der Tür läßt er das Jackett von den Schultern rutschen, das er dann wie seine Muleta quer durchs Lokal schwingt, zielsicher der Stuhllehne auf die Hörner. Aber kein Applaus. Schwer, wie tödlich getroffen, sinkt er auf den Stuhl: „Coors, Coors, ein, zwei, drei, vier - und für dich auch eins, liebe Helga! Man soll ja dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul zubinden.“
„Ein Cherrytree rauscht lauter als ein ganzer Blätterwald“, knurrt Dean O’Casey ihn sofort an.
„Ja, plappern gehört zum Handwerk“, tut der ihn ab. „Und Handwerk hat Gold in der Kehle.“
„Hier erst mal ein goldiges Bier für die Kehle.“ Das ist Helga. Vier Augenpaare umspielen ihre Formen, während sie die Gläser verteilt. Das ist wie ein vierfaches Gestreicheltwerden und tut irgendwie gut. Eigentlich arbeite ich wohl für nichts anderes als das. Bestimmt nicht für das Geld, das ich als Pächterin hier verdiene. Habe ja doch keine Gelegenheit, es auszugeben.
Der schwere Dirndlstoff rauscht immer lebhafter hin und her zwischen der Theke und den Tischen. „Helga gleitet wieder dahin wie auf Rollerskates“, versucht Billy H. Winters sich an einem Kompliment. Das vorgebundene weiße Schürzchen, es winkt ihm von Bier zu Bier neckischer zu. „Nein, Helga bewegt sich wie im Tanz“, überbietet ihn Pit S. Cherrytree. „In einem Tanz mit sich selbst, bei dem alle anderen nur das Nachsehen haben.“
„Eine Frau, die einen zum Trinken verführt - und zum Nichtdraufachten, wieviel man trinkt“, macht Hamilton sich Luft. Was Dean O’Casey zu der Feststellung bringt: „Die Deutschen sind halt geschickt. Die rollen die Front mit einem Lächeln auf. Da weiß man nicht mehr ...“ Und weil Helga gerade wieder an den Tisch kommt: „Aber zwei Monate nicht da, das darfst du mir nie mehr antun, liebe Helga.“ Heftige Zustimmung rundum.
„Versprochen, ganz sicher“, sagt sie. Und das klingt mehr resignierend als freundlich. Und ganz ohne ein Lächeln. Trotzdem rundum zufriedene Mienen. Die Augen der Herren werden immer lebhafter, werden zupackender. Und erst wenn Helga sich runterbeugt zu ihnen. Daß sie den Atem anhalten in der Erwartung, jetzt müßten sie gleich aus dem Mieder fallen, die schweren Brüste.
„Alles was recht ist, unsere Wirtin ist die hübscheste Wirtin von ganz Denver.“ Das ist der Mann des Rechts, wie er seinem Bedürfnis nachgibt, einen Toast auf Helga auszubringen.
„Danke, Herr Doktor.“
„Ganz sicher“, pflichtet Cherrytree ihm bei, „ist unsere Helga ein aus den Wolken entsprungenes Engelchen.“ Dabei schaut er in die Runde, als wollte er für seinen Spruch kassieren. Helga dankt wieder artig. Und eilt schon wieder davon. Dieser Cherrytree soll sich ja in seiner Freizeit mit schöngeistigen Büchern beschäftigen, überlegt sie. Sogar Gedichte soll er lesen. Kein Wunder, daß er so komisch redet.
„Ja, sie ist einfach Spitze“, meint der Bauunternehmer. Und alle drei sehen Hamilton an. Doch wartet der geschickterweise, bis Helga wieder an den Tisch kommt: „Helga, du bist ein Juwel. Du gehörst eigentlich in meine Auslage, in mein bestes Fenster, in das auf der Ecke.“
„O danke, danke, Mister Hamilton - aber ich kann nicht gut stillhalten.“
„Dann käme ja auch das phantastische Kleid nicht mehr so zur Geltung, Engelchen“, wird Cherrytree direkt.
Das Kleid hat es ihnen angetan, klar. Spreewälder Tracht, aber davon haben die Herren natürlich keine Ahnung. War doch richtig, es von daheim mitzubringen. Dabei hatte ich erst Bedenken, daß es zu folkloristisch wäre, zu deutsch. Aber es kaschiert eben besonders gut. Schon komisch, was für ein Gerede gestandene Männer sich einfallen lassen, um einer Enddreißigerin ihre Begeisterung zu zeigen. So liebebedürftig alle, als ob sie in ihrer Kindheit zuwenig Liebe abgekriegt hätten. Ja, da wird die Grundlage für alles gelegt, für alles, was später gut wird - oder aber schiefgeht. Deshalb sollen das ja die wichtigsten Jahre sein, diese ersten Jahre, die mit der engsten Verbindung von Mutter und Kind. Und eine Mutter, die in der Zeit keine Zeit hat für ihr Kind, - Helga muß sich energisch zur Ordnung rufen: Die Herren erwarten von mir, daß ich ihnen einen schönen Abend biete. Dazu sind sie hier, und dazu bin ich da. Punktum.
Danach funktioniert wieder alles wie gewünscht. So wie Helga sich den Männern serviert, wird jedes dumme Gefasel verständlich. Dieser endlose graziöse Tanz um den Gast. Und für jeden einen Blick, der ihn fühlen läßt: Ich bin ihr ganz besonderer Lieblingskunde. War wohl doch richtig, einen Mann für die Vertretung zu nehmen. Wenn der auch nicht viel Umsatz gemacht hat. Bei Helga konnten sich junge Frauen als Aushilfen nie halten. Die holten sich hier ihren ersten psychischen Knacks. Zu deutlich wurde ihnen vorgeführt, daß sie mit ihren gerade drei- oder viermal Sechs noch nicht mit einer richtigen Frau konkurrieren können. Bei Helga sitzt eben jedes Kleid, jede Bluse, jeder Pullover haarscharf vor der Kippe zum Gehtnichtmehr. Aber immer noch davor. Und wie sie sich bewegt, das ist ein einziges Geständnis: Ich bin glücklich mit meinem Körper.
„Ein Pfund schöner als das andere“, soll sie einmal eine Kundin ausgelacht haben, die ihr boshaftfreundlich attestiert hatte, sie sei aber schlanker geworden. Frauen fällt es schwer, sich für Helga zu begeistern. Dazu gehört zuviel Selbstlosigkeit. So ist der Denver Press Club zum reinen Männerlokal geworden. Schon damals, am ersten Tag, den Helga am Tresen verbrachte, mußte sie nein sagen. Damals schon. Und dann immer wieder. Sie lehnt seit Jahren alle Heiratsangebote ab, erzählt man sich, die im Suff gelallten wie die ernsthaften. Immer nur: „Keine Zeit zur Familiengründung - meine Familie, das sind Sie alle hier.“ Dabei diese Herzlichkeit, dieses Lächeln ohne alles bardamenhaft Geschäftstüchtige. Deshalb immer das volle Lokal, deshalb immer all die Männer, die stöhnen: „Ein schönes Bier bitte“ und Helga meinen, die an ihren Zigaretten saugen und auf Helgas Busen starren, die sich erst spät verabschieden - und dann aufstehen wie vom Fernseher weggezerrt.
So auch an diesem kühlen Maiabend des Jahres 1967. Es wird zwei Uhr in der Nacht, bis der Club sich etwas geleert hat. Und es ist drei Uhr, als die Vier an ihrem Ecktisch endlich das Lokal für sich haben. Und die Wirtin dazu. Bill Pandosy, den Zapfer, hat sie längst heimgeschickt. Helga schließt die Tür ab und läßt die Rollos herunter, zieht zusätzlich auch noch die Vorhänge zu. Sie weiß, nun wird es noch lange dauern, bis sie Feierabend hat. Denn das sind keine Leute, die man rauswerfen kann. Oder auch nur vorsichtig rausdrängen. Die nicht. Da muß man lächeln, reden, zuhören und mittrinken. Und wenn es noch so schwerfällt diesmal. Immerhin halten die Vier sich ja nicht an einem verschalten Bier fest. Die haben nicht einfach nur den Aufbruch verpaßt, die machen richtig Umsatz. Champagner - und vom teuersten: Pommery. Und weil der Anwalt und der Juwelier schon jeder eine Flasche ausgegeben haben - und Helga selbst ebenfalls eine - ist klar, daß die nächsten beiden Flaschen schon so gut wie verkauft sind. Helga hält den Abend für gelungen. Seit Jahren der schwerste Abend, ja, aber doch ein guter. Dagegen schimpft Pit S. Cherrytree, der Abend sei schon gelaufen:
„Nichts Neues erfahren. Einfach nichts passiert. Scheiße. In heiße Luft investiert.“
„Dann muß der Colorado Courier halt wieder in Patriotismus machen. Von der ersten bis zur letzten Seite: mein Vaterland“, reizt Hamilton ihn.
„Was dagegen, daß ich als glühender Patriot, als begeisterter Amerikaner mein Herz auf der Zunge trage?“
„Schon gut, schon gut. Aber Zunge mag ich nur in Madeira-Sauce“, Hamilton in Feierabendhochstimmung.
„Ich verstehe die Anspielung, aber ich bin kein Ochse. Ich habe eine kinderreiche Familie gegründet. Ich, Pit Cherrytree, bin ein Amerikaner, wie er gebraucht wird. Und ich frage den, der den schönen amerikanischen Namen Hamilton trägt: Wer hier könnte sich wohl vorstellen, etwas anderes zu sein als ein Amerikaner?“
„Hoppla, jetzt wirft der Cherrytree aber alles andere als bunte Blüten auf unsere liebe Helga“, kontert Hamilton.
„Ach so, Helga, ja das ist doch ganz was anderes. Helga ist unsere Wirtin. Die darf eine Deutsche sein.“
„Charmant, sehr charmant“, genießt der Juwelier die Verwirrung seines Kontrahenten.
Der hats grad nötig, mich zu verteidigen, denkt Helga. Und zieht sich in die Küche zurück. Sie sieht wieder den schönen Bernsteinschmuck im Schaufenster bei Hamilton liegen, in der hintersten Ecke im letzten von den neun Schaufenstern. Die Broschen und Ketten mit den dicken honiggelben Steintropfen, mit den geheimnisvollen Einschlüssen, die sie von Kindheit an fasziniert haben. Bernstein, das Gold meiner ostdeutschen Heimat. Bei Hamilton erklärt ein kleines Schild zwischen den Preziosen, daß es sich um russischen Folkloreschmuck handle. Ihn darauf aufmerksam machen? Nein. Als Deutsche muß man sich zurückhalten. Gut, der Krieg ist schon zwanzig Jahre vorbei, gut zwanzig Jahre sogar, aber deutsch, das klingt hier immer noch wie Nazi.
Was Helga in der Küche nicht mitkriegt, das ist die weitere Erörterung des Themas Amerikaner. Daß Amerika die totale Überfremdung droht, wie Billy H. Winters es ausdrückt. „Weil hier jeder Hinterwäldler abstauben will.“ Daß die Amerikaner in Gefahr sind, von fremdrassigen Menschen überschwemmt zu werden. So Dean O’Casey. „Nachdem wir schon jüdisch durchrasst sind bis zum Gehtnichtmehr“, ergänzt Hamilton. Und Pit S. Cherrytree bissig: „Ich verstehe, meine Herren. Deshalb also die Begeisterung für Helga. Nur weil sie eine Deutsche ist. Weil sie zu dem Volk gehört, das die Endlösung der Judenfrage erfunden hat.“
„Auch den Kommunismus haben sie erfunden, die Deutschen“, gibt der Anwalt noch eins drauf. Und verschluckt den nächsten Satz, zu dem er schon Luft geholt hat, weil Helga an den Tisch zurück kommt. Mit Salzstangen und gerösteten Erdnüssen. „Dann schmeckt der Champagner noch besser“, sagt sie. Und einige Augenblicke zu lange sagt niemand in der Runde was. Helga sieht verwundert von einem zum anderen. Hat sich mein Laden so verändert in der Zeit, wo ich nicht da war?
„Die Dinger schmecken so, daß man nicht mehr aufhören kann“, mault Dean O’Casey. „Und dann hängt das Zeug in allen Winkeln und Ecken fest und läßt einem keine Ruhe. Da gibts nur eins: kräftig nachspülen.“
Kein Widerspruch. Man kaut und schüttelt zwischendurch die Backen mit einem Schluck Champagner. Um vier Uhr die vierte Flasche. Helga forciert jetzt das Trinken ein wenig. Nicht um die vier Herren auszunehmen, die sich vom Coors-Bier über den Bourbon bis zum Pommery vorgearbeitet haben - die müßten sowieso bald genug haben -, nein, sie fühlt sich müde und doch mehr geschwächt, als sie erwartet hatte. Aber sie läßt sich das nicht anmerken. Immer noch die perfekte Gastgeberin.
Inzwischen sind die Herren beim Thema Kindererziehung angekommen. Ein Gerede, das unweigerlich überzugehen pflegt auf die griechischen Götter, weiß Helga. Vom Kindererziehen haben sie ja alle vier keine Ahnung. Und ich, ich selbst, kommt ihr dabei ein lästiger Zwischenruf in den Sinn. Ein Gedanke, den sie schnell verscheucht. Die Vorstellungen der Herren von den griechischen Göttern werden nur bei Aphrodite konkret. Direkt plastisch. Helga muß sich vorübergehend auf ihren Olymp, die Bretter vor den Zapfhähnen, zurückziehen, um nicht als Göttin auf den Altar des Alkohols gehoben zu werden. Die Vergleiche fallen schlecht aus für Aphrodite. Die acht Hände scheinen zu allem bereit.
Bei der letzten Flasche Champagner sind die Vier sich einig: Die Götter leben noch. „Ja, sie sind nicht gestorben“, „Nein, sie weilen unter uns“, bestätigt man sich gegenseitig. Das dionysische Prinzip erweist sich als das letzte Prinzip Hoffnung. Bewundernswerte Zecher, staunt Helga jedesmal aufs neue. Noch das verdrehteste Gerede bringen sie in ordentlichen Sätzen, beinahe druckreif. Wenn auch für Cherrytree nichts zu drucken abfällt. Die Herren werden nicht laut und fallen sich nicht in die Arme - nicht einmal ins Wort. Sie sitzen um den runden Tisch wie in einer Konferenz. Absolut diszipliniert. Als wäre ihnen aus dem Bewußtsein, sehr wichtig zu sein, ein Korsett gewachsen. Dabei weiß ich immer noch nicht: Sind sie nun Freunde oder tun sie nur so, weil jeder sich Hoffnung macht, die anderen ausstechen zu können? Ja, natürlich geht es um mich. Aber lieber keine Antwort bekommen auf diese Frage.
Wie immer als Schlußakkord der Wunsch nach einem Kaffee. Kaum geäußert, ist Helga schon bei der Arbeit. Mein Pflichtgefühl arbeitet so automatisch wie die Espressomaschine, überlegt sie. Aber irgendwas stimmt doch nicht mit mir. Bin ich wirklich noch so geschwächt? Oder habe ich etwa zuviel getrunken?
„Für dich natürlich auch einen, Helga. Geht auf meine Rechnung“, ruft Cherrytree, der offenbar seinen ungalanten Patriotismus ausgleichen will.
Das heftige Brodeln und Prusten der Maschine füllt den viel zu groß gewordenen Raum. Für Helga jedesmal ein schöner Nachhall von Italienurlaubstagen. Vor langer, langer Zeit. Und dieser aufregende Duft. Helga zieht es vor, dreimal zu gehen statt das große Tablett zu nehmen. Vielleicht tut mir die Bewegung gut, überlegt sie. Zuletzt bringt sie ihre Tasse auf den Tisch. Sie setzt sich mit einem unterdrückten Seufzen zu ihren Gästen. Gerade will sie in eine bequeme Sitzposition rutschen, als sie schon wieder hochfedert und zur Küche eilt. Der Bauunternehmer will den Kaffee mit Milch trinken. Der Rechtsanwalt auch. „Ich bleibe bei schwarz“, ruft Hamilton ihr nach. Und Cherrytree in ungewohnter Kürze: „Ich auch!“
Es dauert eine Weile, bis die Wirtin zurückkommt. Verlegen, ratlos: „Kein Tropfen Milch da. Dabei hatte ich ausdrücklich darauf hingewiesen, daß immer Milch da sein muß. Tut mir sehr leid, meine Herren.“
„So geht der Abend halt schwarz zuende. Das paßt zur Nacht“, versucht Hamilton ihr über die Peinlichkeit hinwegzuhelfen.
Doch Dean O’Casey wütet plötzlich los: „Nein und nochmal nein! So laß ich mich nicht abspeisen. Diese verdammte deutsche Mißwirtschaft, die verdirbt einem den ganzen schönen Abend!“
„Ich glaube, ich spinne“, lacht der Juwelier. Was aber bei dem Mann des Rechts nicht gut ankommt. „Soll das heißen, daß ich spinne?“, brüllt er.
„Ich habe gesagt: Ich spinne.“
„Also ich spinne!“ Der Stuhl des Anwalts fährt nach hinten gegen die Wand.
„Aber, aber, was ein ausgewachsener Winkeladvokat ist, der dürfte doch nicht so empfindlich sein“, versucht der Bauunternehmer auf seine direkte Weise zu vermitteln.
„Winkeladvokat?“ Der Anwalt rafft mit weitem Armausholen seine imaginäre Robe und setzt zu einem alles vernichtenden Plädoyer an, heftig schnaufend. Da bleibt kein Stein auf dem anderen von den Wohnblocks, die Winters hochgezogen hat. „Mieseste Qualität alles. Und dann noch durch die eigene Hausverwaltungsfirma die Mieter ausquetschen lassen bis aufs Blut. Mafiamethoden. Das betrifft doch auch unsere liebe Wirtin. Ich wette, die wußte bisher noch gar nicht, daß der ehrenwerte Billy H. Winters es ist, der ihr die Daumenschrauben angesetzt hat. Ihr Vermieter.“
„Nein, das wußte ich nicht“, gesteht Helga, mehr verwirrt als sie es in dieser Situation sein dürfte.
„Ich aber auch nicht, ehrlich gesagt“, gibt Winters sich betroffen. „Ich weiß doch nicht, wer alles in meinen Häusern wohnt und wer sich da vielleicht nicht ganz wohl fühlt.“
„Vom Sich-Wohlfühlen spricht der Blutsauger, der Gangster, der es wagt, mich als Winkeladvokaten zu beschimpfen!“ Schon will der Anwalt sich in höchster Erregung auf seinen Gegner stürzen.
„Aber, aber meine Herren! Nur keine Aufregung. Bitte, bitte. Ich lasse Sie doch nicht auf dem Trockenen sitzen. Oder haben Sie das etwa schon mal erlebt bei Helga?“ Damit steht die Wirtin zwischen den Streitenden, legt dem Anwalt die Hand auf die Schulter und drückt ihn so sanft wie unwiderstehlich auf seinen Stuhl. „Kaffee mit Milch gefällig“, sagt sie dann betont dienstbeflissen. Und: „Bitte sehr“, beugt sie sich tief über die Kaffeetasse des Anwalts, greift in ihr Spreewälder Mieder und holt die rechte Brust heraus. Von unten mit der ganzen Hand drumgefaßt und von oben mit abgeknicktem Daumen kräftig dagegen gehalten - die blauen Äderchen unter der weißen Haut der Brust fast so deutlich wie auf ihrem Handrücken, erschreckend, so rabiat gequetscht zu sehen, was so verletzlich ist, und diese drei dicken grau-weißen Tropfen auf ihrem Zeigefinger - da plötzlich springen zwei Strahlen, haarfeine Milchstrahlen aus der gepressten Knospe. Den einen Strahl richtet sie geschickt in die Tasse, der andere geht weit daneben auf den Tisch. Und der Kaffee, der ihre Brust naßdampft, wird bläßlich, so verlegengehorsam, wie nie zuvor ein Milchkaffee ausgesehen hat.
„Sie wollten ihn auch mit Milch, nicht wahr“, wendet Helga sich Billy H. Winters zu und läßt damit die Stille erst auffällig werden, die eingetreten ist.
„Ja, richtig“, kommt es kleinlaut. Und während Helga sich über die Tasse des Bauunternehmers, ihres Vermieters, wie sie jetzt weiß, beugt und ihre Brust neu in den Griff nimmt, hört sie: „Mir auch bitte.“ Und: „Mir natürlich auch.“
Nur die Wirtin selbst trinkt den Kaffee schwarz. Aber sie bleibt dabei stumm wie die anderen, die heiße Tasse mit beiden Händen umklammert, als brauchte sie etwas zum Sichdranfesthalten. Auch die vier Herren halten ihre Tassen in den Händen. Halten sie als hätten sie Angst, daß ihnen der bläßlich-weiße Kaffee gestohlen wird. Diese argwöhnischen Blicke, mit denen einer den anderen abtastet. Und kein Wort. Bis es ans Kassieren geht. „Den Kaffee berechne ich nicht“, sagt Helga, „der war unbezahlbar. Im übrigen - meine Herren, um das Kind sollten Sie sich keine Gedanken machen. Das Kind ist weit weg, drüben in Deutschland. Bei seinem Vater, der leider keine Aufenthaltsgenehmigung für die Staaten kriegt. Ich aber, ich bin glücklich, Sie bald wieder hier am Tisch vereint zu finden.“
Mit einem ungewöhnlich förmlichen: „Ich danke für Ihren Besuch, gute Nacht, meine Herren“ läßt sie die vier Milchbrüder hinaus. Zu Cherrytree aber noch unter der Tür: „Nicht alles, was sich pressen läßt, ist für die Presse, wenn ich bitten darf.“