Читать книгу Dialoge, Monologe, Interviews - Walter Rupp - Страница 10
Lenin
Оглавление*Im Fegefeuer
POLITIKER: Altersvorsorge. – Vorsorge – Sorge. *Er atmet langsam
LENIN: Endlich darf ich mich mal wieder frei bewegen.
POLITIKER: Sie stören mich!
LENIN: Wer kam bloß auf diese Schnapsidee, mich einbalsamiert auf dem Roten Platz in Moskau in einen Sarkophag zu legen und auszustellen, statt mich in ein Grab zu legen.
POLITIKER: Können Sie sich nicht ruhig verhalten. Ich muss mich konzentrieren. Lebensqualität. Leben – Qualität. *Atmet wieder tief
LENIN: Seit 1924 liege ich in einem Mausoleum. Können Sie das verstehen?
POLITIKER: Trotzdem Herr Wladimir Iljitsch Uljanow, stören Sie mich nicht! Recht auf Arbeit. *Er atmet wieder tief
LENIN: Legen Sie sich mal 70 Jahre regungslos in einen Sarkophag, um sich täglich begaffen zu lassen. Sie haben ja keine Ahnung, wie man sich da vorkommt: wie im Zoo.
POLITIKER: Das war nun einmal so. Das ist vorbei. Das haben Sie hinter sich. *Atmet tief: Mitbestimmung.
LENIN: Wenn ich die antreffe, die mir das angetan haben … Leider darf man sich hier nicht mehr rächen. Das Fegefeuer ist für mich eine Erholung im Vergleich zum Roten Platz.
POLITIKER: Chancengleichheit. Gleichheit – ohne Unterschied. *Atmet tief.
LENIN: *Ärgerlich: Lassen Sie doch dieses blöde Repetieren! Chancengleichheit, Friedensliebe, Gerechtigkeit, Völkerfreundschaft. Werden diese hohlen Phrasen, immer noch unters Volk gestreut? Ich kann sie nicht mehr hören.
POLITIKER: Langsam begreife ich, wie gedankenlos ich geredet habe.
LENIN: Sind Sie Politiker?
POLITIKER: Es fällt mir auf einmal schwer, diese Phrasen in den Mund zu nehmen.
LENIN: *Liest ein Plakat: Zukunftssicherung! Wer hat denn diesen Schwachsinn geschrieben? Wie kann man etwas sichern, was man noch nicht kennt?
POLITIKER: Das waren unsere letzten Wahlplakate.
LENIN: Das müsste doch der Dümmste begreifen, dass das nicht zusammenpasst: Sicherung und Zukunft.
POLITIKER: Vielleicht haben wir zu viel versprochen. Aber wir mussten erst einmal die Wahlen gewinnen, damit wir die Versprechen wieder zurücknehmen konnten.
LENIN: So ist es: Erst wenn man sich durch Lügen das nötige Vertrauen erworben hat, kann man sich wieder erlauben, die Wahrheit zu sagen.
POLITIKER: Meine Lügen wurden mir nicht angerechnet. Das hatte ich eigentlich nicht erwartet.
LENIN: Das ist auch nicht zu verstehen.
POLITIKER: Meine Lügen waren so groß, dass das auch der Dümmste hätte merken müssen.
LENIN: Das finde ich gut, dass die Leute die Konsequenzen für ihre Dummheit selbst tragen müssen. Ich halte Dummheit für schlimmer als Bosheit.
POLITIKER: Wie kommen Sie zu dieser merkwürdigen Ansicht?
LENIN: Weil schlechte Menschen wenigstens ab und zu einmal gut sein können, Dumme aber immer dumm sind.
POLITIKER: Zum Glück hatte ich meine Lügen so häufig wiederholt, dass die Leute überhaupt nicht mehr hinhörten.
LENIN: So haben Sie keinen Schaden angerichtet.
POLITIKER: Als Milderungsgrund wurde auch anerkannt, dass in meinen Reden kein einziger Gedanke von mir stammte, und ich meine Reden so schlecht abgelesen habe, dass ich unmöglich verstanden werden konnte.
LENIN: Die Gedanken stammten nicht von Ihnen? Wer hat dann für Sie gedacht?
POLITIKER: Ich hatte ja einen Redenschreiber mit reicher Erfahrung als Werbetexter und Ideenspender für Wahlkampfspots, der so allgemein gültige Sätze schrieb, dass man sie für Einweihungsfeiern, Festveranstaltungen, Parlamentsdebatten oder als Hirtenbriefe hätte übernehmen können.
LENIN: Sie brauchten sie nur abzulesen?
POLITIKER: Das hat mir jetzt manchen Ärger erspart.
LENIN: Das Reden habe ich mir nie abnehmen lassen. Ach, was war das für eine Freude, zu erleben, wie die Leute an meinen Lippen hingen, wenn ich von der klassenlosen Gesellschaft sprach. Es ist mir jedes Mal gelungen, Ihnen eine Wirklichkeit zu schildern, die es niemals geben kann.
POLITIKER: Und für diese Lügen müssen Sie jetzt geradestehen.
LENIN: Was heißt Lügen? Es stellte sich gottlob heraus, dass mir die Leute nicht glaubten, und dass ich mich belogen habe. Jetzt muss ich lernen, die Wirklichkeit unverfälscht zu sehen.
POLITIKER: Ich wäre längst frei, wenn die Sache mit den Body-Guards nicht gewesen wäre.
LENIN: Body-Guards brauchte ich nicht. Hinter mir stand wie ein Mann das ganze Volk.
POLITIKER: Man hat mir die Kosten für den Steuerzahler vorgehalten.
LENIN: Es ist erstaunlich, wie gut man hier über die Zustände auf der Welt Bescheid weiß. Unser Geheimdienst hätte sich da ein Beispiel nehmen können. Was waren das für Stümper.
POLITIKER: Gottlob konnte ich nachweisen, dass diese Beträge für Body-Guards im Vergleich zu der unter Parlamentariern sonst üblichen Verschwendung, kaum der Rede wert sind. Aber leider konnte ich nicht beweisen, dass ich eine so herausragende Person bin, die man schützen müsste.
LENIN: *Sehr stolz: Das Volk hat sogar über den Tod hinaus zu mir gehalten. Die Leute standen vor dem Mausoleum Schlange. Das soll mir mal einer nachmachen.
POLITIKER: Und dass Sie sich verehren ließen, hat man Ihnen nicht übel genommen?
LENIN: Man hat eingesehen, dass sich eine Leiche, die am Verwesen ist, gegen Verehrung nicht wehren kann.