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ELISABETH OBERBÜCHLER * ca. 1713
Todestag unbekannt Das Schicksal einer protestantischen St. Johanner Bauerntochter
ОглавлениеIn den Salzburger Gebirgsgauen Pongau und Pinzgau fallen die Lehren Martin Luthers auf einen besonders fruchtbaren Boden. Die Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen im streng katholischen Kirchenstaat Salzburg scheinen sich unter den Erzbischöfen Johann Ernst Graf von Thun und Hohenstein und Franz Anton Graf von Harrach zu beruhigen. Doch als Leopold Anton von Firmian den erzbischöflichen Stuhl besteigt, ist es mit dem Religionsfrieden vorbei. Das Ziel des neuen Landesfürsten ist es, die katholische Kirche in Salzburg wieder zur alten „Macht und Herrlichkeit“ zu führen. Der von einer hemmungslosen Religiosität charakterisierte Landesherr formuliert seine Überzeugung in bildhafter Sprache: „Lieber Dornen und Disteln auf den Äckern als Protestanten im Lande.“
Firmian schickt 200 Soldaten in die Gebirgsregionen des Pongaus und Pinzgaus, um seine Macht zu demonstrieren und sie durchzusetzen. Protestanten werden zu Rebellen erklärt und fallen damit nicht mehr unter die Religionsfreiheit des Westfälischen Friedens. Der fanatische Landesfürst lässt zudem Jesuiten aus Bayern holen, die auf den Dorfplätzen predigen und die Evangelischen zur Rückkehr zum alten Glauben zwingen wollen. Als der Erfolg ausbleibt, lässt er in den Jahren 1731/32 auf Rat seines Hofkanzlers Hieronymus Cristani von Rall alle Protestanten des Landes verweisen. Firmian unterzeichnet am 31. Oktober 1731 das Emigrationspatent, das in offenem Widerspruch zur Vereinbarung des „Westfälischen Friedens“ von 1648 steht. In diesem ist ausdrücklich eine dreijährige Frist für eine Ausweisung vorgesehen. Der österreichische Kaiser Karl VI. ist zwar mit Firmians Vorgangsweise nicht einverstanden, begnügt sich jedoch, den erzbischöflichen Landesherrn zu einer milden Anwendung zu mahnen.
„Angesessene“ (d.h. Grundbesitzer) müssen je nach Größe ihres Grundbesitzes und Vermögens zehn Prozent als „Nachsteuer“ bezahlen, um die leeren Kassen des Fürsterzbischofs aufzufüllen. Innerhalb weniger Monate werden durch Firmians gnadenlose Härte mehr als 20 000 protestantische Salzburger*innen aus dem Land vertrieben. Auch die erst 18-jährige Bauerntochter Elisabeth Oberbüchler muss dieses grausame Schicksal erleiden und landet schließlich in der ostpreußischen Provinz rund um Königsberg (heute: russische Enklave Kaliningrad).
Bereits im Juli 1731 schickt Firmian Soldaten in die südlichen Salzburger Landesteile und lässt wichtige Orte und Pässe besetzen. Die Ankündigung von Truppen des österreichischen Kaisers Karl VI. führt zur Versammlung von etwa 150 Pongauer Protestanten des „Salzbundes“, die durch Eintauchen der Finger der rechten Hand in ein Salzfass bekunden, dass sie sich vom Lutherischen Glauben nicht werden abbringen lassen. Für den Erzbischof stellt dies das Verbrechen der Rebellion dar.
Doch dann kommt Rettung vom preußischen König Friedrich Wilhelm I., denn dieser unterzeichnet am 2. Februar 1732 das Immigrationspatent, in dem er die heimatlosen Salzburger*innen unter den Schutz des preußischen Staates stellt und ihnen eine neue Heimat in Ostpreußen anbietet. Das Gebiet zwischen den Flüssen Memel und Ister ist zwischen 1709 und 1711 durch die Pest drastisch entvölkert worden. Er schickt seinen Kommissar Göbel, der ein paar hundert Menschen erwartet. Doch zwischen dem 30. April 1732 und dem 15. Juli 1733 ziehen nicht weniger als 14 700 Salzburger Protestant*innen Richtung Norden. Der größte Teil der Exulant*innen wird von Stettin per Schiff nach Königsberg gebracht. Am 28. Mai 1732 kommt das erste Schiff in Königsberg an. Die beschwerliche Reise per Schiff fordert allerdings zahllose Todesopfer, vor allem unter den Kindern. So sterben von den 10 700 Personen auf 19 Seetransporten 515 Menschen.
Unter den Neuankömmlingen ist auch die erst 18-jährige Elisabeth Oberbüchler aus St. Johann im Pongau. Mit acht Geschwistern wächst sie auf einem Bergbauernhof auf. Sie ist von Kindheit an nach dem evangelischen Glauben aufgezogen worden und mit der Bibel bestens vertraut. Als am 20. Juli 1731 in St. Johann eine Kommission mit dem Hofkanzler Cristani von Rall auftaucht, bekennen sich allein in diesem Pongauer Ort 2700 Menschen zum Lutherischen Glauben, darunter auch die gesamte Familie Oberbüchler. Am 24. November 1731 erscheinen Soldaten auf dem Oberbüchler-Hof und zwingen die Familie mit roher Gewalt mitzukommen. Die erwachsene Elisabeth und zwei ihrer Brüder werden nach Salzburg verfrachtet, um sie aus dem Land zu vertreiben. Die Ausstellung der Auswanderungspässe dauert jedoch fünf Wochen, so dass bereits Schnee gefallen ist, als sie sich in Richtung Bayern auf den Weg machen müssen. Über Rosenheim und Schongau kommen sie am 27. Dezember endlich nach Kaufbeuern, wo Katholiken und Protestanten konfliktfrei leben.
Die gastfreundliche Stadt nimmt die ca. 750 Exulant*innen auf, kann sie aber auf Dauer weder beherbergen noch ihnen Arbeit verschaffen. Elisabeth und ihre Schwester allerdings kommen bei einem Goldschmied unter. Als dann aber das Angebot des preußischen Königs eintrifft, machen auch sie sich auf den Weg. Als sie hören, dass sich auch ihre Brüder in Preußen ansiedeln wollen, schließen sie sich dem immer stärker werdenden Strom der Emigranten in Richtung Norden an. Nach einem langen und beschwerlichen Fußmarsch kommen die Salzburger Exulant*innen endlich in Brandenburg an, wo sie vom Herrscherpaar Friedrich Wilhelm I. und seiner Gattin, Kurfürstin Sophie Dorothea, empfangen werden. Die Kurfürstin ist vom Anblick der Exulant*innen in Salzburger Tracht so angetan, dass sie dem Hofmaler Antoine Pesne den Auftrag erteilt, drei von ihnen zu porträtieren: einen alten Mann, eine Frau und das junge Mädchen Elisabeth Oberbüchler. So entsteht das reizende Porträt der jungen Protestantin in ihrem roten Wams. Sie scheint die Strapazen der Auswanderung während der Wintermonate glänzend überstanden zu haben, denn sie wirkt auf dem Ölbild in keiner Weise übermüdet oder krank. Der Glaube und der Zusammenhalt untereinander dürfte sie gestärkt haben. Von da an verlieren sich ihre Lebenslinien. Es ist anzunehmen, dass ihr Weg mit Heirat und Familiengründung vorgezeichnet war.
Sie dürfte wie der Großteil der Salzburger Vertriebenen nach Ostpreußen gekommen sein. Vor allem in den Kreisen Gumbinnen, Pillkallen, Stallupönen und Darkehmen werden nämlich den Salzburger*innen landwirtschaftliche Flächen zur Verfügung gestellt. So werden im Jahr 1734 in diesen Regionen bereits mehr als 11 500 Salzburger*innen angesiedelt. Als Bergbäuerinnen und Bergbauern verstehen sie sich hervorragend auf die Pferde- und Viehzucht und mit ihrem Einzug in das flache ostpreußische Gebiet an der Ostsee bringen sie auch den Kartoffelanbau nach Norddeutschland, der in Salzburg schon länger bekannt ist.
Zwei Jahrhunderte später werden die Nachfahren der protestantischen Salzburger Aussiedler*innen genau in diesem Gebiet Ostpreußens an der Nordsee erneut zu Emigrant*innen. Denn in den Märztagen 1945 wird die Schlacht von Heiligenbeil (heute: Mamonowo) zu einer der letzten großen Kesselschlachten des Zweiten Weltkrieges. Im Rahmen der Schlacht um Ostpreußen wird die 4. Armee von den sowjetischen Truppen mit dem Rücken zum zugefrorenen Haff eingeschlossen. Diese deutsche Armee hatte es im Winter 1944/45 geschafft, die Zivilbevölkerung Ostpreußens zu einem großen Teil über das gefrorene Haff nach Westen zu schleusen. Doch nun sind sie von den deutschen Truppen abgeschnitten und von der russischen Armee eingekesselt. In einem zweimonatigen Kampf im März und April 1945 fallen 80 000 deutsche Soldaten oder werden verwundet, 50 000 kommen in russische Gefangenschaft.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden die Landkreise, in denen die Salzburger Protestant*innen eine neue Heimat gefunden haben, als russische Enklave aus dem alten deutschen Gebiet ausgegliedert und als Enklave Kaliningrad zu einem russischen Sperrgebiet erklärt. Für die verbliebene deutsche Bevölkerung (ca. 25 000 Menschen), die gegen Kriegsende nicht vor den Russen in den Westen fliehen können, besteht zunächst ein Ausreiseverbot. Ihre Vertreibung beginnt erst auf Befehl Stalins vom 11. Oktober 1947. Bis 1992 ist die Enklave Kaliningrad (Oblast Kaliningrad) für westliche Besucher*innen gesperrt. So sind die Nachfahr*innen der Salzburger Exulant*innen mehr als 200 Jahre später wieder zu Vertriebenen geworden. Als Erinnerung an ihre Verbundenheit mit der ursprünglichen Heimat wird von der Sektion Königsberg des Deutschen Alpenvereins im Jahr 1927 in 1 630 Metern Höhe direkt vor dem Massiv des Hochkönigs die Ostpreußenhütte errichtet.