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Schulweg Duissern 1930

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Ich erinnere den Grund nicht, warum ich mich, ein Kind noch, sechs Jahre alt, zur Mittagszeit jenes Tages zum zweiten Mal auf den Weg zur Schule machen mußte. Daß ich dort nicht ankam, weiß ich noch genau.

Erstaunt war ich auf halbem Weg stehen geblieben. Was trieb der Mann dort oben auf dem Dach der leerstehenden Fabrik, die unser Hauptquartier, Versteck, Spielplatz der Kinder aus der Gegend war, was hatte all die Menschen, Frauen, Männer und Kinder, in den Hof gelockt, warum starrten sie zu ihm hinauf? Ich sah genauer hin und erkannte, daß der Mann kein Schornsteinfeger sein konnte, war er auch schwarz gekleidet, und daß sich vom Fabrikdach zur Ruine des Quergebäudes gegenüber, hoch über den Köpfen der Leute, ein Drahtseil spannte. Ich hörte den dumpfen, rhythmischen Schlag eines Tamburins und blechernes Klirren, und dann zwängte sich aus der Menge eine hagere Frau mit pechschwarzem Haar, wohl eine Zigeunerin, die zu den Klängen des Tamburins tanzte, daß ihre Röcke flogen. Dabei rief sie etwas, das ich nicht verstand, und wies nach oben. Wieder warf ich den Kopf in den Nacken und sah den schwarz gekleideten Mann zu einer Stange greifen und prüfend einen Fuß auf das Seil setzen, bis es heftig zu wippen begann.

Im Hof drehte sich noch immer die Frau zum Takt des Tamburins im Kreis. Als endlich die Menge zu einem regelrechten Auflauf angeschwollen war, bestieg der Mann mit großer Vorsicht das Seil. Mir war, als hielte er sich beim Vorwärtsschreiten an der jetzt quer zum Körper gehaltenen Stange fest. Auf halbem Weg über dem Hof strauchelte er. Mir stockte der Atem, ich spürte ein Sausen im Kopf, hörte es aufstöhnen in der Menge und schloß die Augen. Als ich sie wieder öffnete, sah ich ihn mit nur einem Fuß auf dem Seil schwanken. Ich wandte mich ab, wollte seinen Sturz in die Tiefe nicht erleben, und nur dem erleichterten Raunen der Menge entnahm ich, daß er sich zum Dach des Quergebäudes gerettet hatte. Dort stand er jetzt mit ausgebreiteten Armen wie ein großer schwarzer Vogel.

Die Zigeunerin hatte aufgehört, das Tamburin zu schlagen, drängte sich jetzt sammelnd durch die Menge, die sich aufzulösen begann und lichter wurde, bis nur noch wenige übrig blieben. Ich sah sie das im Tamburin gesammelte Geld zählen und als sie fertig war, hörte ich sie aufschreien – ein empörter, schriller Aufschrei war es.

»Vier Mark siebzehn – mehr ist sein Leben wohl nicht wert!«

Die Groschen, die ich spenden konnte, ehe ich bedrückt die Schule Schule sein ließ und nach Hause zurücklief, hatten die Summe auf keine fünf Mark gebracht – genau waren es vier Mark und siebenundvierzig Pfennig.

Die Zeit berühren

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