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Knokke Belgien 1929
ОглавлениеDie Anrede »kleiner Mann« war mir schon vor meinem fünften Jahr geläufig, und spätestens seit jenem Sommer, als ich in Madonnas Obhut war, hielt ich ihn für treffend. Sie war achtzehn, zierlich, mit großen braunen Augen und braunem Haar, war mein Kindermädchen und ich nannte sie Donna. Ich wollte nicht, daß man sie für mein Kindermädchen hielt – hätte aber nicht sagen können, für was sonst. Ich fand sie schön und es paßte mir, daß ich erkrankte und sie mich, während die Eltern sich am Strand oder auf der Promenade des Seebads ergingen, im Hotelzimmer betreuen mußte.
Draußen strahlte die Sommersonne. Ich lag im Bett bei der offenen Verandatür und sonnte mich. Das Fieber plagte mich weniger als daß da ein Gitter war zwischen mir und Donna, ein Dutzend weiße Holzlatten, und ich wünschte sehr, sie möge das Gitter herunterklappen. Sie tat es nicht und sicher entging ihr, daß ich deswegen schmollte.
Bald hörte ich nicht mehr hin, mochte sie auch noch so anheimelnd aus dem Märchenbuch lesen, mir ihr französischer Tonfall noch so melodisch in den Ohren klingen. Ich wollte das Gitter entfernt haben. Wie aber sollte ich das begründen? Verstohlen probierte ich, ob sich ein Fuß zwischen die Latten zwingen ließ. Es schmerzte, doch es gelang. Und mit dem Fuß berührte ich Madonnas Knie. Weil sie es duldete, hörte ich bald gar nichts mehr, gingen mir die Märchen völlig verloren. Wonniglich ließ ich meinen Fuß, wohin ich ihn geschoben hatte, und spürte ihre samtweiche Haut überm Strumpf. Die Zeit verging wie im Fluge. Ich wünschte, Donna würde ewig auf dem Stuhl bei meinem Bett bleiben.
Als zur Mittagszeit die Zimmertür sich öffnete und die Mutter eintrat, klappte Madonna das Märchenbuch zu, als wäre sie bei etwas ertappt worden. Ich wollte meinen Fuß retten und fand mich im Gitter gefangen. Madonna war errötet, das aber hatte nur ich bemerkt. Sie wirkte sehr kühl, als sie der Mutter half, mich aus dem Gitter zu befreien – erst die Ferse, dann den ganzen Fuß.
»Was du bloß anstellst«, sagte die Mutter.
Ich aber antwortete nicht und war dankbar, daß auch Madonna schwieg.