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Zirkus Köln 1932
ОглавлениеSchon die Anreise war voller Spannung, allein im D-Zug nach Köln, acht Jahre alt und mit dem Taschengeld von zwei Fünfmarkstücken im Brustbeutel. Um zwölf war ich am Duisburger Hauptbahnhof, obwohl ich nur eine Stunde zu fahren und erst spätnachmittags anzukommen brauchte – Sarrasani, Kindervorstellung im Zirkus, mit Tünnes und Schäl, mit Tigern, die durch brennende Reifen sprangen, wild brüllenden Löwen, rasanten Pferden und Elefanten, die nichts vergaßen und sich zu rächen verstanden für Unrecht, das Jahre zurücklag. Auf rollenden Rädern im Abteil durchlebte ich, was ich zu sehen erhoffte – den Mann, der Feuer spie und Schwerter schluckte, das Trio am fliegenden Trapez, die Menschenpyramide, den Seiltänzer und die Jongleure. Ich hörte die Zirkusmusik und das Knallen der Peitschen, das Hop-Hop der Artisten, wenn sie im Sägemehl Rad schlugen, und ich roch den Geruch unterm Zirkuszelt. Für das Erlebnis Zirkus wäre ich nicht bloß nach Köln, sondern quer durch Deutschland gereist.
Mit klopfendem Herzen, fürchtend, die besten Plätze könnten schon vergeben sein, stand ich Schlange vor der Kasse und empfand es als Triumph, als ich eine Logenkarte erstand. Lang vor der Zeit belegte ich meinen Platz. Als endlich die Lichter aufflammten und der Zirkusdirektor hoch auf weißem Roß in die Arena ritt, gab ich mich der Erfüllung meiner Träume hin. Ich jubelte mit Tünnes und Schäl, bangte für das Trio am Trapez, den Seiltänzer hoch überm Netz, und sah mich auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes, eines mächtigen Elefanten, und wenn der Löwe fauchend die Tatzen gegen den Dompteur hob, steigerte sich meine Bewunderung ins Grenzenlose.
Sarrasani. Jene Vorstellung in Köln im achten Jahr meines Lebens übertraf alle Erwartungen. Ich hatte Löwen und Tiger erwartet, Pferde, Elefanten und Artisten, nur sie nicht, die Seejungfer Annabella mit den strahlenden Augen und dem langen dunklen Haar. Es faszinierte mich, daß sie von der Hüfte abwärts ein Fisch und keine Frau war. Wie ein Fisch würde sie durch das Becken gleiten, in das die Arena jetzt verwandelt war, und als sie sich von der Plattform in die Tiefe fallen ließ, ich sie anmutig ins Wasser tauchen sah, war ich bezaubert.
Sie tauchte ein und schwamm im Kreis, und immer wenn sie lächelnd den Kopf hob, war mir, als täte sie das nur für mich. Weiß und lieblich zeichneten sich ihre Brüste unterm Wasser ab und ihr Haar floß überm Wasser wie ein Schleier. Nie würde ich sie vergessen können, und in jener Nacht noch und in den Nächten die folgten, glitt Annabella, die Seejungfer aus dem Zirkus in Köln, durch meine Träume.