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Waren es wirklich nur vier Wochen, die der zwanzigjährigen Studentin Lucia Bernhöven für den Jenaer Sommer blieben? Es können kaum mehr gewesen sein. Im Höchstfall sechs Wochen. Denn Anfang August mußte sie nach Hause. Sie hatte sehr wenig Geld. Der Vater war nun pensionierter Oberst. Die Inflation war im Anmarsch. Man sagte: »Der Dollar steigt« oder »Die Preise klettern rapide.« Schon deshalb mußte sie nach Hause. Es waren tatsächlich nur vier oder sechs Wochen. Es gibt eben prall gefüllte Lebenszeiten. Wendepunkte, um die sich die Lebenstür dreht. Eine neue Welt erschloß sich ihr. Nein – Welten, immer neue Welten.

Sie war die Geliebte Reinhold Wilmers geworden. Das Wort trifft es genau. Die Geliebte, ein passives Wesen, das leidenschaftlich, ja ingrimmig geliebt wurde. Sie hatte seinen wütenden Werbungen nachgegeben. Viel zu früh – das wußte sie jetzt aus der Erfahrung eines langen Lebens. Im Grunde wußte sie es auch damals schon. Nur konnte sie damals noch nicht sagen: »Ich habe ihn drei Minuten am Sonnenwendfest geliebt. Oben am Berg, als der Morgenwind kam, und habe die Liebe schon zehn Minuten später abgetan, als ich den verwelkten Kranz zu den anderen Kränzen warf.« Das konnte sie nicht wissen. Denn Reinhold hüllte sie in seine stürmische Liebe ein. Sie staunte über die Glut, mit der er sie verehrte, umwarb, bewachte, mit der er sie bezwang.

Nein – sie brauchte »das« nicht. Es war ihr alles sehr fremd. Mit Seufzen, mit Zögern ergab sie sich. Es war nicht sehr schlimm. Aber unnötig. Schrecklich unnötig, so zärtlich er war, so liebevoll in Augenblicken der Besinnung. Aber wenn der Sturmwind über sie wegging, lag sie in einer Mulde. Geschützt und unerreichbar für den Sturm. Sie erinnerte sich, daß sie als Kind einmal durch eine geöffnete Tür dem Geschwätz der Damen des Kaffeekränzchens zugehört hatte und Frau Amtsrichter Dellinger, eine robuste Vierzigerin, die bekannt war für ihre »freien Anschauungen«, hatte seufzen hören über die ehelichen Pflichten, die die Frauen auf sich nehmen müßten, weil die Männer nun mal so seien. Ähnliches von Pflicht oder »die Männer sind so« empfand sie wohl damals, wenn sie die Nächte mit Reinhold in dem Schrebergartenhäuschen des alten Wilmer verbrachte, in dem dumpfen Zimmerchen mit den Holzwänden und dem Pappdach, in dem eine Pritsche stand, ein Drahtgeflecht mit einer nach dumpfem Heu riechenden Matratze. Dann war noch ein Holztisch da, Gartengeräte, Saatkästen. Von draußen, durch das kleine längliche Fenster, blickten Herden von Sonnenblumen herein, milchig-golden im Mondlicht, und man hörte die ersten wurmstichigen Äpfel von den Bäumen fallen. Das waren die ersten Nächte. Später regnete es oft. Das Wasser zischelte an den Holzwänden herab. Reinhold schlief, und sie lauschte in den Regen hinaus.

Schöner, viel schöner war es, wenn sie etwa auf der Lattenbank vor dem Hause saßen und friedlich vom Hang ins Tal blickten. Schön, wenn Reinhold seine weltzertrümmernden politischen Ideen entwickelte. Daß die Welt ungerecht eingerichtet sei und man die Gerechtigkeit herstellen müsse. Daß die Reichen gepraßt und die Armen gehungert hätten, und das müsse aufhören. Daß der Mensch des Menschen Wolf gewesen sei, und es müsse endlich Frieden über die Welt kommen (»Über die Welt kommen«, sagte er. Der Frieden als Raubtier, das die Welt verschlang!). Sie hatte niemals über die soziale Ungerechtigkeit nachgedacht. Zu Hause hatte sie nur von den »ballonmützigen Roten« gehört, die schon immer gegen Kaiser und Reich waren und 1918 den Sieg verspielt hatten. Finstere Gesellen, die die Welt in die Luft sprengen wollten, und denen das eines Tages gelingen könnte. Das stimmte also nicht. Denn hier saß Reinhold Wilmer neben ihr. Ein feuriger junger Mensch, der nichts wollte als den Frieden und die Gerechtigkeit für jeden Menschen. Daß jeder die Früchte seiner Arbeit ernte und keiner den anderen ausbeuten dürfe. Eine schöne Welt, obwohl ihr die jetzige Welt mit all ihren Nöten auch nicht besonders schlecht erschien. Unten in ihrem jungen Herzen keimte ein kleines, ein unüberwindbares Mißtrauen. Reinhold – es ist nicht ganz gewiß, daß sie damals schon so klar dachte, aber es ist sicher, daß sie es spürte –, Reinhold, der Kämpfer gegen die Unterdrückung und Ausbeutung, er, er sah nicht, daß er sie ausbeutete und unterdrückte mit seiner Liebe, die nicht ihre Liebe war. Merkwürdig.

Merkwürdig übrigens auch, daß sie nicht etwa Reue empfand, so etwa nach der Richtung: »Dem Vater unter die Augen treten«, der sie hinausgeworfen hätte. »Kommunistenliebchen ...«, das hätte er sicher geschrien. Aber er würde es nicht erfahren. Hoffentlich. Nein, sicher. Und die zarte Mutter, die etwas ängstliche, die schon soviel Sorgen hatte ... nein, der konnte sie es auch nicht antun, daß sie die Wahrheit erfuhr. Sie konnte das ganz bestimmt nicht begreifen. Sie vor allem mußte Lucia vor der Wahrheit schützen. Die Wahrheit war ja auch unschilderbar. Die Geliebte wider Willen, die doch liebte, die gerne zärtlich und Hand in Hand mit Reinhold durch die Wälder ging und über die Gerechtigkeit sprach, die sich mit seiner Hilfe der Welt bemächtigen würde.

Kurzum, es war alles falsch, was sie damals tat und erlebte, und sie empfand doch nicht die Spur einer Reue. Es mußte wohl getan werden. Sicher: es hätte anders sein können, lieblicher, tiefer, eine wahre Übereinstimmung. Aber das gab’s eben nicht, und stets – auch in ihrem späteren Leben – nahm sie mit Gleichmut hin, was sie tat und was sie verfehlte. Die Liebe konnte sie freilich auf diesem Wege nicht erfahren. Aber wer weiß denn, ob es diese Liebe überhaupt gibt. Damals im Banne Rilkes, den sie von allen Dichtern am meisten verehrte, mit dessen Büchern sie oft ihre Nächte verbrachte, leise und mit Gefühl die herrlichen Verse flüsternd, damals mochte sie sich zuweilen nach einer rilkeschen Liebe sehnen. Aber die war wohl nicht von dieser Welt und jedenfalls nicht in der Welt Reinholds beheimatet, mit dem sie doch lebte.

Lucia Bernhöven

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