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Die Schritte schurrten auf dem Steingrund des Weges, der am kahlen Berghang emporkletterte. Unten, schon von fern gesehen, loderte das Feuer, hörte man Geschrei und Musik, oben, wenn man den Kopf in den Nacken legte, waren Sterne. Der Mann, der neben ihr ging, hieß Reinhold Wilmer. Sie sah jetzt, mit nachtgewöhnten Augen, sein gutgeschnittenes Profil, die kühne Nase, das vorspringende Kinn. Den wohlgeformten Hals, den Schillerkragen. Er bückte sich zuweilen, hob Steinchen auf und warf sie mit Bewegungen eines Diskuswerfers sinnlos in die Nacht. Er blieb plötzlich stehen. Ein Käuzchen schrie und verstummte. Dann Stille. »Hörst du ... der Tau fällt schon.« Sie lauschte, aber sie konnte den Tau nicht fallen hören. Sie wußte aber, daß das, was er gesagt hatte, eine Liebeserklärung war. »Nein, ich kann ihn nicht hören«, sagte sie. Und sie dachte: Ich liebe doch Theo Grain. Ich kann diesen Reinhold nicht lieben. Er nahm ihre Hand. Er drückte sie in das Gras, das an der Bergseite des Weges wuchs. Er sagte lächelnd: »Spürst du jetzt den Tau?« Ihre Hand war feucht und kühl. Sie strich über seine Haare. »Ja – jetzt spüre ich es«, sagte sie.

Sie stiegen bergauf, unten das Sonnenwendfeuer wurde noch kleiner. Das Geschrei, die Rufe verebbten ganz, als der schmale Bergpfad um eine Ecke bog. Ein leiser Wind, der Frühwind vor der Morgendämmerung, wehte ihnen entgegen. Er roch nach Gräsern, Wildrosen und nach dem glühenden Sonnenschein des vergangenen, vergessenen Tages. Das eben war Sommer! Die Steine atmeten noch Sonne, kurz bevor die Sonne wieder aufging.

Einen Kranz von Wildrosenknospen trug Lucia Bernhöven, die Zwanzigjährige, ein langes, lindenblütenfarbenes Sommerkleid und goldene Schuhe, durch deren dünne Sohle der Kiesweg stach. Die halblangen Haare trug sie in dieser Nacht offen. Es ist schwer zu sagen, ob sie damals hübsch war oder rührend oder häßlich in ihrem seltsamen Gewand, mit dem lächerlichen Tandaradeikranz im Haar, in ihrer fast männlichen Eckigkeit, mit den viel zu großen Schritten, mit denen sie sich an die Schritte des Mannes anpaßte, mit den halb blinden, nein, mit den halb wachen Welpenaugen.

Die heutige Lucia, die beim Bauern Mowranke schreibende, unterdrückte die Neigung, über die unfertige, schlaksige Studentin Lucia zu lächeln. Sicherlich war sie auf jenem Nachtspaziergang schön gewesen. Denn sie liebte. Zum ersten Male liebte sie. Unbewußt noch und sich wehrend gegen die Überwältigung durch das Gefühl.

»Sie werden uns jetzt suchen«, sagte Wilmer. Er hatte also ihre Gedanken erraten. Sie hatte gerade gedacht, daß Theo Grain, der Maler, sie suchen würde, der lustige Maler mit den schwarzen Knopfaugen, mit dem braungelockten Kinnbart, mit dem süßen, leichten Tenor, der so zärtliche Volkslieder zur Laute singen konnte und bei dem sie Mittag für Mittag im Atelier oben an den Sonnenbergen hockte. Vier Wochen schon. Theo hatte ein recht hübsches Porträt Lucias gemalt, indem er lustig über ihre Seele schwätzte. Vier Wochen hielten sie eine reizende Kameradschaft. Theo Grain nannte es Liebe. Sie hatte ihm nicht widersprochen. Sie hatte es nicht besser gewußt.

Bis zu diesem Augenblick, in dem Reinhold Wilmer seine Jacke auszog, sie auf den Wegrand breitete, in dem sie sich hinsetzten und einander beide Hände reichten und in dem unzählige Braunellen und Meisen zirpend ihren Morgensang begannen, die Dämmerung die Sterne verblassen ließ und im Osten ein zager Lichtschein anhob.

»Gleich wird die Sonne kommen«, sagte Reinhold Wilmer. Und das hieß: »Ich liebe dich.« »Ich kann schon die Stadt sehen – wie weit sie ist«, antwortete sie. Und das hieß: »Ich liebe dich.«

Der Morgenwind knatterte in dem Pappelgebüsch über ihnen. Er führte Kühle mit, von den Feldern. »Frierst du?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf. Sie sahen sich an und lächelten. Er legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie rückte ein wenig beiseite, und er nahm den Arm wieder weg. Das hieß: Es ist nicht nötig, die Liebe auszudrücken. Es ist zu früh dazu oder zu spät. Keine Geste, keine Zärtlichkeit konnte ausschöpfen, was sie empfanden. Ein Rausch? Nein. Eine Leidenschaft? Nein. Glück? Ja. Glück. Weiter nichts.

»Wo kommst du eigentlich her?« fragte der Mann nach einer ganzen Weile. Sie wies lächelnd ins Tal, in dem jetzt die dämmerige Stadt sichtbar wurde, mit den schönen Türmen der Stadtkirche, dem nackten Hochhaus von Zeiß, den Villen, die an den Hängen emporkletterten und jetzt im ersten Licht des Morgenrots rosa aufschimmerten. »Nein, ich meine, wo du herstammst. Dein Vater ist sicher ein vornehmer Mann.« Sie zuckte die Achseln und lächelte: »Weiß nicht. Glaub’ nicht.« Er sagte heftig: »Mein Vater ist Arbeiter. Werkmeister. Da unten bei Zeiß.« Sie fragte harmlos: »Ist er nett?« Er spottete bitter: »Er liebt Vertikos, Plüschmöbel und ähnlichen bürgerlichen Unsinn.« Sie lachte: »Du bist Reinhold Wilmer, und ich bin Lucia Bernhöven. Alles andere ist einerlei.« Er murrte: »Das glaub’ ich nicht.« Sie schloß: »Die Sonne ist da. Wir wollen gehen.«

Sie stand auf, griff nach einem verblühten Löwenzahn, pustete den Samen fort, die kleinen silbergrauen Fallschirmchen. Der Wind hob sie auf und wirbelte sie weg. Sie griff in den langen blonden Schopf Reinholds. Sie bog seinen Kopf nach hinten. Sie sagte streng: »Ich muß es dir ja nun sagen. Ich liebe dich. Schade, daß ich es dir sagen muß.« Er sah zu ihr auf und flüsterte: »Du mußt es mir immer wieder sagen.« Sie antwortete nichts. Aber sie spürte einen feinen, stechenden Schmerz, den sie nicht benennen konnte. Sie wußte vielleicht schon, daß die Liebe, ihre erste Liebe, gekommen und aufgeblüht war und schon wieder verwehte, wie die Fallschirmsamen des Löwenzahns verweht waren. Nein – die hatte sie weggepustet. Hatte sie etwa die Vollkommenheit dieser schweigsamen Liebesstunde zerstört?

»Komm«, sagte sie heftig, »komm schnell.« Sie begann den Weg hinabzulaufen. Die Sonne war schon höher gestiegen und wärmte bereits. Sie lief sehr schnell und leicht. Sie hörte die verfolgenden Schritte des Mannes. Sie lief immer schneller. Er konnte sie nicht einholen. Sie lief bis zum Sonnenwendplatz. Dort riß er sie an sich, küßte sie. Sie ließ es sich gefallen.

Sie sah über seine Schulter hinweg auf die verkohlten Reste des Feuers, auf ein paar Flaschen, die man vergessen hatte zu vergraben, auf ein paar Papiere, die verweht waren, ein paar verwelkte Blumenkränze. Sie löste sich von dem Mann. Sie nahm ihren Wildrosenkranz ab. Ein paar Knospen hatten sich entfaltet. Ein paar Blüten waren schon abgefallen. Achtlos warf sie den Kranz zu den anderen welken Kränzen. Friedhof. Grab. Dachte sie. Nein, grablose Friedhofsecken. Abfallhaufen abseits der Toten. Was für ein Bild für eine Liebende!

Schweigend, Hand in Hand, stiegen sie ins Tal hinunter, in die Stadt. Die Sonne begleitete sie, kam mit ihnen gleichzeitig in die winkligen Gassen. Die Rolläden rasselten hinauf. Die Wasserwagen rumpelten, Feuchte verbreitend, über die Pflaster. Die Bäckereien öffneten. Bäckerjungen, Brötchentüten in den Körben, radelten durch die Straßen. Alles war, wie es immer gewesen war.

Sie zog sich um. Sie ging in die Universität, sie hörte aufmerksam und überwach ihre Vorlesungen, Mittelhochdeutsch, Geschichte, Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie schrieb eifrig und fleißig nach. Mitten in einem Satz über Gottfried Keller aber schrieb sie: »Ich liebe Reinhold Wilmer.« Sie starrte diesen Satz an. Strich ihn dick und kräftig wieder aus und schrieb weiter, was der Professor über Gottfried Keller berichtete.

Mittags stieg sie, wie immer, zu den Sonnenbergen hinauf. Es war ein heißer, heller Tag. In den Gärten blühten die Rosen, der letzte Jasmin, die ersten Rittersporne. Sie trat in das Atelier von Theo Grain. Aus der sengenden Hitze kam sie in die Kühle der Nordfenster. »Da ist ja der Ausreißer«, schrie Theo allzu vergnügt, »ein schönes Fest, nicht wahr? Sonnenwend, und es regnete nicht einmal! Ein wahres Wunder.«

Wie immer bereitete sie den Tee. Sie tranken zusammen. Sie schwätzten über das Fest, über Springmeier, den Philosophen, der sich wieder in ein ganz junges Mädchen verliebt hatte, über den spitzbärtigen Silen, den bedeutenden Verleger, der wie ein gütiger, antiker Gott das Fest gelenkt hatte. Sie setzte sich wieder in den geblümten Sessel. Sie hatte die blutrote Bluse an und den weißen Pikeerock, in dem er sie malte. Sie nahm die gewünschte Stellung ein, die rechte Hand gegen die Schläfe gestützt. Sie sah freundlich lächelnd zu Theo Grain hinüber, der, einen Pinsel im Mund, einen in der Hand, vor sich hinbrabbelte, abwechselnd über das Bild, über das Fest, über Lucia, die an jedem Tage eine andere sei und niemals einzufangen. Mitten in ein paar Ausrufe des Malers hinein sagte sie sehr ruhig: »Ich liebe dich nicht mehr, Theo.«

Theo nahm den Pinsel aus dem Mund, starrte sie prüfend an und kommandierte: »Etwas mehr rechts den Kopf. Noch mehr. So ist’s gut. Und mehr in die Weite geschaut. Ja, so ist es richtig.«

Zehn Minuten malte er weiter, indem er sich ab und zu mit Grunztönen beschimpfte oder belobte. Endlich legte er Pinsel und Palette weg. Er trat zu ihr, legte ihr lächelnd die Hand auf die Schulter und sagte: »Hab’s gar nicht geahnt, daß ich die Ehre hatte, von dir geliebt zu werden. Na ... zu spät ist immer noch besser als gar nicht, Undine.« Er zog sich einen kleinen Hocker heran, legte ihr die Hand auf den Arm und sagte: »Undine ... so hab’ ich dein Bild genannt, schon lange. Wasserwesen, Elementargeist ohne die unsterbliche Seele. Die kriegt Undine erst durch Vermählung mit einem irdischen Mann.« Und sehr zärtlich setzte er hinzu: »Es tut weh, Undinchen, glaub’s mir, wenn man eine unsterbliche Seele bekommt.« Er stand auf, setzte noch ein paar Pinselstriche auf das Bild, schüttelte den Kopf und sagte: »Es ist mir nicht gegeben, dir die Seele einzuhauchen. Fertig.« Er nahm das Bild von der Staffelei. Stellte es neben Lucia und sagte ernst: »Schenk’ ich dir als Andenken an dein nymphisches Leben.« Sie stand auf. Sie sagte: »Theo ... ich weiß es ja gar nicht. Kann sein, ich könnte dich doch lieben.«

Er nahm sie um die Schulter, führte sie zum Ausgang und sagte: »Könnte, könnte, Undinchen. Leb wohl!« Er drückte ihr das Bild in die Hand, und sie ging, es vorsichtig am Keilrahmen haltend, durch die Straßen, die noch heißer geworden waren. Die Menschen lächelten über das junge Mädchen, das sich selbst durch die Gassen trug. Sie merkte es nicht. Sie grübelte. Sie wußte nicht, ob sie etwas gewonnen oder verloren hatte. Verloren gewiß etwas. Den heiteren, zärtlich-zarten Theo Grain. Aber gewonnen? Die Liebe zu Reinhold Wilmer war ja auch schon vorbei.

Lucia Bernhöven

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