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Dieses letzte hatte Lucia von Tweeren, 44 Jahre alt, im Hause des Bauern Mowranke im Angesicht des Sees, der der Plüggen genannt wurde, geschrieben. Die Sonne war weggerückt. Bettine, die Achtjährige, war gekommen, hatte eifrig plappernd zu Mittag gegessen und war wieder mit klappernden Schlittschuhen davongestürmt, um mit Christel Mowranke und Gerd Ulrich Welz, den gleichaltrigen Schlittschuhmatadoren, Eislauf zu üben. Lucia hatte sich gegen vier Uhr die Stiefel angezogen, die der Schuster Neugebauer aus Gnade und Barmherzigkeit (und für sechshundert Mark) angefertigt hatte, den kurzen Schottenrock, den geretteten uralten, der über den Hüften spannte, die Windjacke, die hellblaue Strickmütze. So marschierte sie durch den knöcheltiefen Schnee den Dumpel entlang, den verwachsenen Pfad zwischen den Seen, zwischen Weidengebüsch, in dem Scharen hungriger Meisen aufschwärmten und aufzwitscherten. Verhundertfacht, vertausendfacht die Meisen von Jena, die Meisen jenes Sonnenwendmorgens am Berghang. Hatte sich etwa auch die Liebesfülle jener Meisenminuten verhundertfacht, vertausendfacht? Sie roch wieder die Gerüche jenes Morgens, betautes Getreide, Gras, warme Felswand, ja – der Gerüche erinnerte sie sich genau, und an das Gesicht Reinholds? Höchst ungenau. An seine Stimme? Kaum. An seine Worte? Nun, ein paar waren jetzt niedergeschrieben, mühsam dem Vergessen entrissen. Er selbst war 1925 nach Rußland ausgewandert. Vielleicht hatte er dort die Verwirklichung seiner politischen Träume erlebt. Wahrscheinlich hatte er eine schwere Enttäuschung und einen einsamen Tod gefunden. Wer wußte das? Auch in ihrem Herzen lebte er nicht mehr. Gestorben. Verschwunden. Verschollen.

Sie war einen Hügel hinaufgestapft. Junge schäbige Kiefern wuchsen dort. So weit sie blicken konnte: Schnee, der wäscheweiß zu ihren Füßen lag, grau-weiß den Hügel hinan und bläulich auf den anderen Hügeln. Sie stand lange und sah zu, wie die Sonne nach unten rückte, den Himmel rötete und den Schnee dann rosa überspann. Daneben, wohin die Sonne nicht hinabreichte, lagen violette Schlagschatten.

Sie stand eine halbe Stunde regungslos. Hier war Einsamkeit, die sie immer ersehnt hatte. Tat sie wohl, tat sie weh? Schwer zu sagen. Sie dachte an Rüdiger von Tweeren, ihren Mann, der auch in Rußland war. Aber nicht freiwillig, sondern kommandiert als Soldat. Sie dachte an ihn ohne Schmerzen und ohne Liebe. Wenn er nun nicht zurückkehrte? Oh – er sollte zurückkehren! Sie wünschte es von ganzem Herzen. Ihm wünschte sie es, damit er weiter so herzlich lachen, weiter so viele Frauen lieben konnte, weiter Geschäfte machen und weiter das Leben durstig trinken. Aber sich ... sich wünschte sie es nicht. Sie wollte nicht weiter mit ihm zusammenleben. »Eine herrliche Ehe«, sagten die Freunde immer, »sie ist so gescheit, so tolerant. Er so hinreißend charmant. Die lieben sich wahrhaft. Sie verzeiht ihm alle Abirrungen. Er hat es wahrhaft gut.« Ja, er hatte es gut. Und sie hatte ihn lange, lange geliebt oder geschätzt oder sehr gern gemocht. Aber mit jeder seiner Liebeleien hatte er doch ein Stück der Liebe aus dem Hause getragen, und nun war nichts mehr da.

Sie warf sich befreit in den Schnee. Sie streckte sich lang aus und stand wieder auf. Sie betrachtete lächelnd den Abdruck ihres Körpers im Schnee. Soviel ... so wenig wie der Abdruck im Schnee war ihre Liebe zu Rüdiger von Dauer. Noch konnte man den Abdruck sehen im vergänglichen Schnee, im kältenden. Der Schnee aber würde verwehen, würde verschmelzen. Ein neuer Frühling kam. Die Erde, die fruchtbare Erde würde wieder da sein und ... ja, irgendwo mußte man wurzeln. Mußte man? Im Schnee gab’s keine Wurzeln.

Zurück vom Spaziergang. Abendessen. Holzholen. Den erkalteten Ofen anheizen. Bettine eine Geschichte erzählen. Sie waschen, sie kämmen. Beten mit ihr. Muß man mit Kindern beten, wenn man selbst nicht glaubt? Wahrscheinlich glaubte sie doch ein wenig. Sie betete gern, sie faltete die Hände und flüsterte innig:

Nimm mich in Deinen Schutz hinein

Und laß mich stets Dein Kindlein sein.

Und hatte ER sie denn nicht beschützt, sie nicht geführt, ihren Untergang verhindert und die Fluten der Verzweiflung immer wieder ablaufen lassen?

Nimm mich in Deinen Schutz hinein

Und laß mich stets Dein Kindlein sein.

Tellerabwaschen. Einen Brief an Rüdiger schreiben. »Meine Gedanken sind um Dich, und meine Wünsche wünschen Dir alles, was Du Dir wünschst.« Endlich, endlich wieder das Manuskript.

Sie schrieb langsam, zäh, nachdenklich: Es ist nichts mehr zu berichten. Das erste Feuer, durch das ich hindurchblickte, brennt von neuem. Es ist der Ofen neben mir. Gebe das Schicksal, daß immer genug Holz da ist, diesen Ofen zu heizen! Das zweite Feuer aber, das Feuer in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943, ist verloschen. Andere Feuer brennen in Berlin und fressen die Stadt. Und das dritte Feuer ist auch verkohlt, verascht, vergangen wie der welkende Wildrosenkranz. Und hinter ihm, nein, durch ihn eingerahmt, taucht das Gesicht Geisbergs auf, mit dem sich eine lange Freundschaft durch viele Jahre erhalten hat, eine »schriftliche« Freundschaft, aus Briefen und Notizen bestehend, von denen manche in seinen letzten, kaum mehr bekannten Büchern stehen.

Es ist Zeit, schlafen zu gehen, schrieb sie, mich neben das Körperchen Bettines zu legen, das heiße Leben des Kindes zu spüren, dem ich das Leben gegeben habe. Nicht freiwillig, sondern unter tausend Bedenken, weil das Leben eben doch ein bißchen zu schwer ist.

Sie schrieb. Sie grübelte. Nach vorne sehen und nicht rückwärts! Das war so ein banaler Mutspruch ihres Vaters, des Obristen, gewesen, und er schmetterte ihn hinaus wie einen Weisheitsspruch und strich sich das Bärtchen dazu. Nach vorne sehen – und nicht rückwärts! Das war es auch, was Lots Weib befohlen wurde, als Gomorrah brannte, und sie erstarrte zur Salzsäule. (War’s etwa eine Säule aus dem Salz der Tränen, weil sie über den verlorenen Besitz flennte?) Aber kann man denn nach vorne blicken, ohne wenigstens zu spüren, woher man kommt, und daß man durch den Lebensweg eben so geworden ist, wie man ist, und daß man immer gleichzeitig das ist, was man ist, und das, was man war, und es ist nicht ganz klar, was man ablegen kann?

Der Versuch, ein paar Jahre meines Lebens abzulegen – so schloß sie jetzt ein wenig eilig, weil die Kerze hinter dem Pappschirm schon ungeduldig im Vergehen aufflackerte –, ist hier in diesen Seiten gemacht. Bin gespannt, ob es dadurch lebendiger wird oder vergänglicher.

Lucia Bernhöven

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