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Die Pension, in der die Bernhöven wohnte, lag in einem ehemaligen Hinterhaus. Das Vorderhaus war von Bomben zerstört, und so sah man schon die Lichter blinken, während wir den von aufgestapelten Ziegeln begleiteten Weg gingen. Ein mit Mauerbrocken gefüllter Springbrunnen, über dem unverletzt eine fischschwänzige Seejungfrau thronte, erinnerte daran, daß hier mal ein hochherrschaftliches Haus nach dem Bürgergeschmack der neunziger Jahre gestanden haben mußte. »Nett ... nicht wahr?« lächelte die Bernhöven. »Diese Böcklinzeiten, in denen Fischleiber und Fischweiber die Gefährlichkeit der Natur symbolisierten. Möchten Sie da gelebt haben? Ich vielleicht.« Sie schloß das Haus auf, knipste die Treppenbeleuchtung an und lief wieselflink die Treppen hinauf. Dabei rief sie: »Sie dürfen langsam nachkommen. Ich mache nur einen Wettlauf mit dem Geiz des Hauswirtes. Dreißig Sekunden hat man nur für jede Treppe. Sonst steht man im Dunkeln.« Tatsächlich erlosch gerade das Licht, wurde gleich wieder angesteckt, und ich hörte die eiligen, schlanken Schritte schon wieder die nächsten Treppen hinauflaufen. So geschah es noch dreimal, bis ich die Atemlose oben im vierten Stock einholte. »Gesiegt«, pustete sie befriedigt und schwang ihr Schlüsselbund. »Schneller als der Geiz ist der Ehrgeiz.«

Drinnen wurden wir von der weißhaarigen Pensionsinhaberin freundlich begrüßt. Frau Bernhöven stellte sie als »Mammi« Trömner vor. Sie war eine zierlich-betuliche alte Dame, deren Humor in vielen kleinen Fältchen um die Augenwinkel nistete. »Nett von Ihnen, daß Sie meiner Lucia noch ein bißchen Gesellschaft leisten«, sagte sie zu mir, »ich werde Euch noch einen Kaffee kochen.«

Das Zimmer war ein ziemlich kleines, mit Möbeln vollgestelltes Viereck. Zwei häßliche Sessel standen drin, mit schäbigem Blumenmusterüberzug, ein zierlicher Biedermeierschrank mit halb abgeblättertem Furnier. Über dem Waschtisch hing ein Empirespiegel mit trübem, wassergrünem Glas. Ein pompöses Bett, sichtlich die Hälfte eines ehelichen Schlafzimmers aus der Gründerzeit, nahm ein Drittel des Zimmers ein. Schräg vor den Fenstern stand ein rohgezimmerter Tannentisch. Eine Vase darauf mit einem üppigen Strauß gelber Rosen, ein paar Bücher dazu, eine Schreibmappe und einige Fotografien in Standrähmchen. Das Ganze war ebenso geschmacklos wie gemütlich. Zudem bullerte und knackte in dem runden Kanonenofen neben der Tür ein lustiges Feuer.

Aus einer hochgestellten Kiste, die durch ein paar Fächer und einen bunten Vorhang zu einem Schränkchen befördert war, holte Lucia drei Gläser und eine fast volle Ginflasche heraus. Sie schenkte ein, schob mir Zigaretten zu – nein, sie selbst rauche nicht, das sei eine überwundene Jugendsünde, und das bißchen Stimme wolle auch geschont sein –, prostete mir zu, trank das Glas in einem Zuge leer, schenkte sich neu ein und trank es wieder aus. Sie lachte: »Keine Angst ... ich trinke schnell, aber wenig. Ich muß immer fix einen Vorhang ziehen zwischen unserem Keller ... na, und dem übrigen. Zehn Minuten Arbeit am Tag. Und davon kann man leben. Ulkig, nicht wahr?«

»Und was machen Sie mit den übrigen dreiundzwanzig Stunden und fünfzig Minuten?« fragte ich. Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück. Ein Schatten floh über ihr Gesicht, schnell, wie der Schatten einer Wolke über eine blumige, windbewegte Bergwiese streift. Ich sah, daß sie ein bewegtes, naturnahes Gesicht hatte, in dem sich wetterhaft und wetterwechselnd ihre Gefühle spiegelten und es ständig und jäh veränderten.

Sie hatte ziemlich lange geschwiegen. »Ja, die übrigen dreiundzwanzig Stunden«, sagte sie jetzt zögernd, »es sind übrigens nur zweiundzwanzig. Denn ich muß ja hin und her gehen, mich schminken und abschminken, ein bißchen proben, ein bißchen mit den Kollegen schwätzen. Und dann gehen vier oder fünf Stunden für den Schlaf ab ... nein, mehr nicht. Ich schlafe so rasend tief und so vollkommen bewußtlos, daß ich nicht mehr brauche. Mehr wäre schade. Und eine Stunde brauch’ ich zum Briefschreiben, eine halbe zum Essen ... bleiben ... haben Sie mitgerechnet? ... fünfzehneinhalb Stunden zu beliebiger Verwendung.«

Ich proteste ihr zu. Sie verneigte sich anmutig. Aber sie trank nicht mehr. »Schenken Sie mir fünf von Ihren überflüssigen Stunden«, sagte ich, »ich könnte sie verdammt gut brauchen, und für die übrigen Stunden würden sich auch noch genug Bedürftige finden.« Sie wiegte den schönen Kopf bedauernd: »Sie enttäuschen mich. Ich hab’ mal was von Ihnen gelesen, so was Trocken-Weises, daß ein anständiger Mensch für alle schönen Dinge des Lebens Zeit haben müsse. War also Theorie, wie alle Weisheiten, und Sie gehören zu den Überarbeiteten und Überlasteten, die aus der Hetze so ’ne Art neue Moral machen. Und außerdem sich vom vollgeschriebenen Terminkalender die Entschuldigungszettel abreißen für ihre Herzenssünden.«

»Hübsch gesagt«, lachte ich. Und sie erwiderte recht ärgerlich: »Hübsch gesagt. Nett formuliert, nicht wahr? Ich will aber gar nichts Hübsches sagen. Ich will die Wahrheit sagen, daß Sie es nur wissen. Das, was wirklich ist. Nicht mehr, nicht weniger.« »Da haben Sie sich allerhand vorgenommen«, spottete ich, »das möchten wir nämlich alle. Mindestens jeder, der schreibt. Aber wir kriegen es nicht raus, was wirklich ist.«

»Warum nicht?« fragte sie heftig und trommelte mit den Fäusten auf die alten Sessellehnen, daß der Staub von vielen Jahren herausstob. »Warum denn nicht? Wir sind bloß feige.«

In diesem Augenblick kam Mammi Trömner herein. Sie kam, ohne anzuklopfen, indem sie einfach mit dem Ellenbogen die Türklinke herunterdrückte und die Tür dann mit dem Absatz krachend zustieß. Sie trug das Tablett mit dem Kaffeegeschirr, mit einem Bleikristallschälchen, in dem Kekse lagen, mit einem Käsebrot, das, wie sie streng sagte, nur und allein für »unsere« Lucia bestimmt und unteilbar sei. Sie kramte mit kleinen heiteren Bemerkungen über die Freuden und die Sorgen, die ihr Lucia bereitete, das Geschirr auf den Tisch, zwei Tassen nur. Sie selbst wolle keinen Kaffee, weil sie sonst Herzklopfen kriegen würde. Herzklopfen sei nur für junge Leute ein Genuß, für alte lediglich ein »unbehagliches Gelärme«. Aber einen Gin nahm sie gern. Sie setzte sich, das Glas in der Hand, auf das Bett und schlürfte den Schnaps mit kleinen, genießerischen Schlucken. Dabei schwätzte sie etwas monoton, aber mit dem Charme, den manche alte Damen besitzen, die wenig erlebt, aber viel gelesen haben und begeisterte Zuschauer des Lebenstheaters geworden sind. »Ist sie nicht eine große Künstlerin, unsere Lucia?« rief sie, »was sie da aus diesem Lied macht. Herrlich! Und gedichtet hat sie es auch. Aber sie müßte natürlich ganz was anderes tun.«

»Kochen zum Beispiel«, warf Lucia ein, »da bin ich wirklich begabt. Eine große Kochkünstlerin ... leider im Moment bei der Kartennahrung ein Maler ohne Hände.«

»Ja, kochen zum Beispiel«, kicherte Mammi Trömner und goß sich einen zweiten Schnaps ein, »oder meinetwegen auch heiraten. Eine Ehe führen. Das ist ja heutzutage das Schwierigste. Aber das würde sie auch schaffen. Verstehen Sie die Männer? Daß dieses Juwel, unsere Lucia, nicht verheiratet ist!«

Lucia lachte wieder ihr helles, klingendes Lachen: »Ich bin ja noch verheiratet.« Und die Trömner: »Beinahe geschieden, und da stehen noch nicht zehn Männer an, um dieses Juwel – jawohl, ich wiederhole das – heimzutragen?« Und Lucia friedlich: »Würden Sie einen der Männer heiraten, die heute noch frei rumlaufen?« Frau Trömner hob beide Hände zum Himmel, schüttete dabei etwas Schnaps auf die Decke und versuchte unter Bedauernsrufen den Fleck wegzuwischen: »Um Himmels willen – nein, ich bin froh, daß ich im vorigen Jahrhundert geheiratet habe und rechtzeitig Witwe wurde. Mit den heutigen Männern ... das wäre Selbstmord.«

»Und mir muten Sie den Selbstmord zu, Mammi«, seufzte Lucia. »Das nennen Sie Liebe.«

»Nun, meinetwegen«, sagte die alte Dame, »dann gehen Sie eben wieder zum Film und werden dieses Mal berühmt, sammeln Millionen und ziehen sich auf ein Schloß zurück.«

»Und was mach’ ich dann auf dem Schloß ... außer durch die Zimmer wallen und die Dienerschaft befehligen, Hunde dressieren und Jagden reiten?« fragte Lucia schelmisch.

»Abends schreiben Sie dann«, sagte Frau Trömner. Und zu mir gewandt: »Sie schreibt nämlich. Was ... das weiß ich nicht. Sie zeigt es niemandem. Vielleicht, wenn Sie sie bitten ...« Damit trank sie ihren Schnaps aus und ging formlos, grußlos hinaus.

»So, Sie schreiben?« fragte ich mehr aus Höflichkeit als aus Neugierde. Denn aus bösen Erfahrungen habe ich eine panische Angst vor Manuskripten, die irgendwelche Anfänger in ihren Schubladen bergen und einem zur Unzeit ins Haus schicken.

»Ich habe Sie ganz ohne Nebenabsichten hergelockt«, antwortete Lucia, »das können Sie mir glauben. Ich wollte nur nicht allein sein, weil ... nun, es ist einerlei, warum. Aber jetzt scheint es mir, daß ich Sie wirklich hierhergebeten habe, um mit Ihnen darüber zu sprechen. Übers Schreiben. Sie verstehen doch was davon. Gelesen habe ich nur hier und da was von Ihnen.«

»Theoretisches über das Leben und über die Frauen und über die Ehe«, sagte ich. »Ja, so ungefähr«, nickte sie, »aber das macht nichts. Ich wollte nicht über Sie sprechen, sondern über mich. Dazu geben Sie mir bitte noch einen Schnaps.«

Ich schenkte ein und spottete: »Gehört soviel Mut dazu?«

Sie kippte den Schnaps schnell hinunter und sagte dabei: »Ja ... ’ne ganze Menge Mut.«

Lucia Bernhöven

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