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Zwischenbericht I

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Ende 1946

Wie es zu gehen pflegt: Ich hatte das Jenaer Kapitel in meinem Frankfurter Hotelzimmer zu lesen begonnen. Auf der Rückreise war es unmöglich, weiterzulesen. Ich hockte im D-Zug-Gang, zwischen Kartoffelsäcke eingepreßt, auf meinem Koffer. Draußen schlackerte ein grobflockiger Schnee herab und verklebte die Fensterscheiben. Drinnen im Zug dampfte Übellaunigkeit, Erschöpfung, Neid aus den Menschen. Die Inhaber der kleineren Kartoffelsäcke beneideten die Inhaber der größeren, und wer gar keinen hatte, schimpfte, wenn er im Storchengang über die Säcke zu dem schmutzigen WC klettern mußte, aus dem immer erst ein paar Menschen zu vertreiben waren, die sich dort häßlich-häuslich eingerichtet hatten. Es war keine Szenerie, in der man über die zarte, fünfundzwanzig Jahre zurückliegende Liebesgeschichte einer Studentin nachdenken konnte. Die triste, schlechtriechende Gegenwart, in der einer des anderen Feind war, schon deshalb, weil er das bißchen Lebensluft des Nächsten verbrauchte und verstänkerte, diese triste Gegenwart verstellte jeden Rückblick und Ausblick. Man hatte nur den einen Wunsch, daß die Fahrt mal ein Ende nehmen möge. Ich vergaß also die Begegnung mit Lucia Bernhöven, ihren Gesang, ihre Darstellungskraft, ihr Zimmer bei Mammi Trömner und ihr Manuskript.

Zu Hause stellte ich die Mappe irgendwo ab. Der Winter war kalt und hart. Wir lebten sehr eng in dem einen Zimmer, das man heizen konnte. Die Bücher stapelten sich dort. Die Briefe, die Manuskripte. Alles wurde übereinandergeschichtet, und was einmal nach unten geraten war, das blieb auch unten liegen.

Erst als der Frühling kam, ein ziemlich früher, nach all den Nöten und Engen herzlich begrüßter Frühling, konnte man Ordnung machen. Fast zufällig fand ich das Manuskript Lucia Bernhövens wieder und las es zu Ende. Ich begriff nicht gleich, warum Lucia ihre jetzige Existenz durch das Fernglas der Erinnerungen anschaute, oder vielmehr die Erinnerungen durch das umgedrehte Fernglas der Gegenwart. Jetzt weiß ich, daß man am ehesten ein plastisches Bild des Lebens bekommt, wenn man gleichzeitig das Vergangene und das Gegenwärtige empfindet und betrachtet. Das ist von der Seele her gesehen verständlich. Denn die Seele lebt nie allein in der kahlen Dimension der Gegenwart, sondern mindestens gleichzeitig in der Vergangenheit, und bei vielen auch in der Zukunft, im Futurum. Und wie es gewisse Pflanzen gibt, die sich nach der Sonne drehen und die man deshalb heliotrop nennt, so sind in jedem Menschen Elemente, die man vergangenheitszugewendet oder zukunftszugewendet, futurotrop, nennen könnte.

In dem Bericht Lucias spürte ich besonders stark dieses Zukunftszugewendete, das heißt, das Grundgefühl, daß sie mit ihren sechsundvierzig Jahren noch ganz und gar unfertig war und ihre eigene Gestalt erst werde finden müssen.

Ich schrieb meinen Eindruck in einem langen Brief an Lucia nieder. Dann fiel mir erst ein, daß ich ihre Adresse gar nicht hatte. Ich erkundigte mich bei meinem Freund Rabner in Frankfurt, der uns ja zusammengebracht hatte. Er antwortete kurz und überheblich, die Bernhöven sei zuletzt in Stuttgart aufgetreten und habe es gegen seinen, Rabners, Rat mit lyrischen Liedern, mit der Herzlichkeit also, versucht. Damit konnte sie natürlich keinen Erfolg haben. Ihre Anhänger, die Härte und Witz von ihr verlangten, habe sie befremdet, und neue Freunde habe sie sich damit nicht gewonnen. Jetzt sei sie übrigens – wahrscheinlich von ihrem Mißerfolg beeindruckt – in der Versenkung verschwunden. Er, Rabner, glaube nicht, daß sie noch eine Karriere machen würde. Solche Überraschungserfolge wie der Lucias seien nun mal ausnahmslos Eintagserfolge, durch die Nachkriegswirren verständlich, und vergänglich wie die Jahreszeiten. Rechtens vergänglich: denn eine Künstlerin sei Lucia nie gewesen.

Ich mußte über diese Kritik Rabners lachen. Er hatte mir Lucia Bernhöven ein halbes Jahr zuvor als seine große Entdeckung gepriesen, als den klaren Beweis, daß das Dilettantische richtiger und wirkungsvoller sei als die »sogenannte« Kunst (ein Blödsinn, der alle Jahrzehnte einmal neu aufgetischt wird).

Nun: jedenfalls konnte ich nicht erfahren, wo Lucia war. Sie meldete sich aber im Spätherbst 1946 mit einem erstaunlich vergnügten Brief. Sie habe in der Zwischenzeit eine kleine Erbschaft gemacht, die in der Hauptsache aus allerlei häßlichem, aber kostbarem Schmuck bestand (von einer uralten, längst vergessenen, höchst verschrobenen Tante, der Schwester und dem Widerbild ihrer Mutter). Diese Erbschaft sei ein wahres Himmelsgeschenk, da sie sich von ihrem zweiten Mann, Herrn von Tweeren, getrennt habe, vor allem aber, weil die Rückkehr ihres Sohnes erster Ehe, Bernd Grödinger, aus amerikanischer Gefangenschaft bevorstehe. Für diesen Jungen wolle sie nun eine Heimat, ein Retiro, eine Zukunft schaffen. Sie habe sich in dem Harzdorf Braunlage ein Grundstück gekauft und den Grundstein zu einem kleinen Häuschen gelegt, das im Frühjahr fertig werden würde. Jetzt sei sie im Aufbruch nach München, wohin man sie seltsamerweise für zwei Monate verpflichtet habe. Freilich werde sie wohl die alten Lieder singen (»wenn es so weitergeht, dann geht’s nicht weiter«) und das Herz aus rubinrotem Glase tragen müssen, das die Zuschauer als eine Art Symbol nähmen. Für was ein Symbol ... das wisse sie leider nicht.

Ich schickte ihr sofort das Manuskript des Jenaer Kapitels mit meiner Kritik. Beinahe mit wendender Post schrieb sie mir zurück, sie habe gerade viel Zeit, und deshalb wolle sie die Beschreibung ihres vergangenen, abgeschlossenen Lebens recht bald beenden, möglichst, bevor Bernd, ihr Sohn, zurückgekehrt sei. Denn dann würde ein neues Leben beginnen. (Fragen Sie mich nicht, was für ein Leben. Das weiß ich nämlich nicht. Aber ein schönes!) Sie schickte mir ein weiteres Kapitel. Es war ein älteres, das heißt schon früher verfaßtes. Sie hatte es Ostern 1943 geschrieben, damals, als Berlin noch beinahe unverletzt war, ein halbes Jahr also, bevor sie nach Pommern fliehen mußte, in das Haus des Bauern Mowranke, das am Plüggensee gelegen war. Sie hatte das Kapitel »Berliner Karneval« genannt, und sie schrieb: »Ich schicke Ihnen gerade dieses Kapitel. Denn es beschreibt die seltsame Zeit der Inflation 1923, und es ist ganz nützlich zu sehen, wodurch sich die Inflation des Jahres 1946 von der damaligen unterscheidet. Unsere Not jetzt ist weitaus schlimmer. Aber die Veränderungen damals waren doch wohl größer und tiefgreifender. Was meinen Sie? In der Erinnerung jedenfalls scheint mir die damalige Situation ein geistiger Umbruch gewesen zu sein und eine tiefgründige Veränderung alles geistigen Lebens, »bei vielem vordergründigem und gleichgültigem Humbug. Und jetzt? Nun ... wahrscheinlich kann man’s erst wissen, wenn die Not zu Ende ist. Dann erst zeigt sich, ob der Geist etwas geschaffen hat und die Seele ein neues Lebensbild hervorbrachte.« Nach dieser Einleitung war ich neugierig auf ihre Schilderung und begann gleich zu lesen.

Lucia Bernhöven

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