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Die Welt weitete sich. Von der politischen Welt sah sie schon die Umrisse, falsche Umrisse. Aber doch Umrisse. Sie las angestrengt die Schriften von Marx, die ihr Reinhold gab. Das neue Evangelium. Manches schien ihr richtig. Manches unbegreiflich primitiv und verhängnisvoll unwahr. Sie kannte z. B. die Bürger besser. Das waren meist keine Ausbeuter, sondern sehr brave, sehr ordentliche Menschen. Und Vater Wilmer, ein verbürgerlichter, unentschiedener Sozialist, ein »Klein-Ausbeuter«, wenn man Reinhold glauben wollte, war ein liebenswerter, fleißiger, pflichttreuer, friedfertiger Mann, ein Zahlabendleiter in der Ortsgruppe Jena-West der Sozialdemokratischen Partei, ein sehr geschickter Handwerker bei Zeiß, ein bescheidener Schrebergärtner, der Frieden ausstrahlte, wenn er, die Pfeife unter dem breiten Schnurrbart, Schweißperlen auf der flachen Stirn, das Wasser vom Brunnen heraufschleppte, um die Tomaten, die Zwiebeln, die Möhren, den stets verkümmerten Blumenkohl sowie die wildwuchernden, armlangen Gurken zu gießen. Sicherlich war er kein Revolutionär, obwohl er unter Wilhelm II. zweimal gesessen hatte. Aber er lebte ein volles, ein rundes, ein fast sorgloses, ein liebenswertes, ein niemanden bedrängendes, ein jedem Tüchtigen erreichbares Leben an der Seite seiner lustig sächselnden runden Frau, die wortlos und gedankenlos ihr Tagewerk verrichtete und ihren Emil, so hieß der Alte, in die Zucht und die Ordnung zurückholte, wenn er mal zu tief in die jenaschen Bierkrüge hineingeschaut hatte. »Was ist an deinen Eltern auszusetzen?« fragte sie Reinhold immer wieder. »Sie fügen sich und begnügen sich«, antwortete er wütend. Sich fügen und begnügen war in Reinholds Augen ein Verbrechen.

Sich fügen und begnügen. Das wollte sie auch nicht. Das schien ihr damals schon schrecklich. Oder hatte sie erst von Reinhold gelernt, daß Fügen und Begnügen die Menschen klein macht? War’s deshalb, daß sie mit ihm zusammenkommen mußte, um zu erfahren, daß sie sich niemals begnügen dürfe, niemals behaglich im Erreichten verharren, immer auf der Wanderschaft bleiben müsse? Eine Nomadin, stets bereit, die Zelte abzubrechen, wenn die Nahrung fürs Vieh abgegrast war, das heißt, wenn die Wünsche, die Gedanken, die Forderungen das spärliche Weidegras der Gefühle abgeäst hatten. Eine Nomadin schon damals, lange bevor die seßhaften Deutschen in Bewegung gerieten und auf die Wanderschaft getrieben wurden. Nur: niemals war sie freiwillig gewandert. Immer hatte sie das frauliche Verlangen nach Seßhaftigkeit, nach Ewigkeit der Gefühle gehabt, und dennoch war sie nirgends seßhaft geworden. Übrigens irrte sich Reinhold gewaltig, wenn er glaubte, daß seine Eltern sich fügten und begnügten. Sie waren bereit, das zu verteidigen, was sie besaßen. Das Häuschen, das erhungerte und erarbeitete, den Schrebergarten, die Pensionsberechtigung bei Zeiß und ihren Jungen, den Reinhold, den sie unter Opfern studieren ließen, und der nun, statt nach oben zu wollen und ein Studienrat zu werden, sich auf die Seite der Unterdrückten schlug, der das ganze Wirtschaftsgebäude zertrümmern wollte, in dem es sich doch ganz behaglich leben ließ. Ach – die endelosen Steitgespräche zwischen Vater und Sohn über den wahren Sozialismus, der für den Vater in den Zeißwerken schon verwirklicht war, während der Sohn die Stiftungen Abbes als lächerliche Almosen eines verwirrten Idealisten bezeichnete. Die breithüftige Mutter aber, die schweigsame, hörte bei den Gesprächen gutmütig lächelnd zu. Für die Kleinen, so meinte sie höchstens, sei es einerlei, wer oben regiere.

Sie beobachtete aber voller Sorgen das Verhältnis zwischen Lucia und Reinhold, und eines Tages begann sie zu reden: »Sie sind es besser gewöhnt, Fräulein«, sagte sie beinahe drohend. »Das, was Sie vom Leben verlangen dürfen, kann mein Junge Ihnen nicht geben.« Sie ließ sich nicht davon überzeugen, daß die Tochter eines pensionierten Oberstleutnants sich weniger leisten konnte als der Sohn eines Zeißarbeiters.

Ein andermal, als sie zusammen in dem Schrebergartenzimmer den sonntäglichen Kartoffelsalat fertigmachten – »nicht zu viel Zwiebeln, nicht zu viel Essig und ordentlich Öl, damit die Scheibchen glatt und glibbrig werden«, sagte sie im flach singenden Thüringisch –, hielt sie Lucia eine richtige Standpauke: »Ist ja alles ganz schön, und unsereiner hat auch nicht auf den Pfarrer gewartet. Ja, ich geb’s zu: Gunda, unsere Älteste, hätt’ uns zu Fuß begleiten können, als wir zum Rathaus gingen und uns aushängen ließen. Aber ich wußte doch: den halt’ ich mir fest. Der ist soweit ordentlich, vom Bier abgesehen, und da gibt’s eben wöchentlich zehn Glas und Schluß und mal sonntags ’ne Flasche extra, in den Brunnen gelegt, damit es kühl bleibt. Aber Sie? Was wollen Sie von dem Jungen? Na ja, es schläft sich nicht gut allein, wenn man schon zwanzig ist. Aber was wollen Sie hier? Anstellig sind Sie ja. Gutwillig auch, und schneidet Kartoffeln und braucht’s gar nicht. Könnte in einem Automobil fahren, wenn sie sich den Richtigen nimmt. Warum tun Sie das nicht? Und plötzlich kommt ein Kind? Und dann? Haben Sie daran schon gedacht? Ich tät’s mir überlegen.«

Sie konnte nichts Vernünftiges antworten. Denn Frau Wilmer hatte recht, obwohl alle ihre Gründe falsch waren, bis auf »das Kind«. Nicht nur wegen Zuhause, wegen des Vaters, der Mutter. Nein, viel zu jung war sie. Das wußte sie genau. Aber es Frau Wîlmer erklären, wie es zur Freundschaft mit Reinhold gekommen war, das war nicht möglich. Es gab keine zureichenden Gründe.

Dennoch, als sie an jenem Juliabend zu viert als friedliche, freundliche Familie im Abendsonnenschein des Gärtchens den Kartoffelsalat verzehrten, genauer noch, während sie in ein Würstchen hineinbiß, wußte sie, daß sie am Ende des Semesters sich von Reinhold trennen würde. Und warum nicht gleich? Warum nicht aufstehen, adieu sagen, den Berg hinunterlaufen, in das Zimmerchen hinein, das sie bei der Regierungsrätin Preller bewohnte, das kleine blitzsaubere Zimmerchen mit den Büchern, und allein sein, ganz allein, die Sonne untergehen sehen, den Sternhimmel heraufziehen, die warme Luft in die Fenster fluten spüren. Glücklich in der Einsamkeit! Warum nicht? Feigheit? Angst, weh zu tun? Auch das. Aber im Grunde war sie ein Spätling der Entschlüsse, ein Jemand, der nicht aus einem plötzlichen Impuls handeln konnte. Sie hatte nicht nur den Treppenwitz, der einem erst einfällt, wenn man vier Treppen hinuntergestiegen ist, sondern geradezu Treppengefühle. Rüdiger von Tweeren, ihr zweiter Mann, hatte es später einmal so ausgedrückt: »Man schießt auf dich ... und vier Wochen später, wenn man gar nicht mehr weiß, daß man geschossen hat, schreist du ›au‹.«

An jenem Sommerabend beim Kartoffelsalat also trennte sie sich »in Wirklichkeit« von Reinhold Wilmer. Aber die Trennung vollzog sich erst sehr viel später. Sie verbrachte diese Nacht sogar wieder in dem Schreberhäuschen. Es war eine entsetzliche Nacht. Es tat ihr weh, daß Reinhold nicht den Spürsinn hatte, zu fühlen, daß sie einander um so fremder wurden, je näher sie sich waren. Aber welcher Mann hat diesen Spürsinn schon? Wenn er nur liebt ... was fragt er nach der Liebe seiner Frau?

Lucia Bernhöven

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