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7. Kapitel

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Zur selben Zeit hatte Francis sich seine Uniform angezogen. Er hatte am Vortag eine Mitteilung erhalten, dass er vor dem Marinegericht zu erscheinen habe, wo über seinen Fall verhandelt werden würde.

Er ging gemessenen Schrittes zu dem Gebäude, welches sich am Ende der Naval Academy befand. Dort wurde er zunächst in den Flur gesetzt, bis man ihn aufrief.

An einem langen Tisch thronten mehrere Admiräle, welche schon lange aus dem aktiven Dienst zur See ausgeschieden waren. Sie sahen ihn ernst an.

Zur Linken saß ein Schreiber, der jedes Wort, das gesprochen wurde, notierte.

Francis hatte auf einen Rechtsbeistand verzichtet, er wusste, auch dieser würde nicht viel ändern können. Er bewahrte mit Mühe Haltung. Doch in seinem Inneren tobte ein Sturm.

Man forderte ihn auf zu erzählen, was geschehen war. Francis wiederholte, was er bereits mehrmals erzählt hatte. Er wäre mit einigen Kameraden nach dem Genuss von reichlich Rum in einem Bordell gelandet, wo er sich bei einer Prostituieren die Lustseuche geholt hätte.

Man entließ ihn aus dem Saal.

»Bitte halten Sie sich in Bereitschaft, wir lassen Sie rufen.«

Es dauerte nicht lange und ein hochgewachsener Offizier bedeutete ihm, wieder einzutreten. Sein erster Blick ging zum Tisch. Er wusste, auf diesem Tisch würde ein Degen liegen. Zeigte der Griff auf ihn, würde er als unschuldig erachtet. Zeigte jedoch die Spitze auf ihn, so musste er mit einem Urteil rechnen.

Wie er es erwartet hatte, zeigte die Degenspitze auf ihn. Er nahm Haltung an, die Admirale standen auf.

»Sub - Lieutenant Gordon, das Gericht der Royal Navy hat Ihren Fall sorgfältig geprüft und ist zu folgendem Urteil gelangt: Sie haben sich der vorsätzlichen und willentlichen Schädigung des Ansehens der königlichen Marine schuldig gemacht. Sie haben sich selber durch Ihr Verhalten einen körperlichen Schaden zugefügt, der es Ihnen auf Dauer unmöglich macht, Ihre Pflichten gegenüber Ihrer Majestät, Ihrem Land und der Navy zu erfüllen. Sie haben sich äußerst undiszipliniert verhalten und sind damit ein schlechtes Vorbild für jeden Matrosen in der Navy. Aus diesem Grunde werden Sie mit sofortiger Wirkung aus der Navy ausgeschlossen. Sie sind weder befugt, Ihren Rang weiter zu führen noch dazu, diese Akademie oder eines der Schiffe Ihrer Majestät zu betreten.«

Der Admiral schluckte.

»Junge, was haben Sie sich nur gedacht? Sie sind eine Schande für die Navy und Ihre Familie.«

Francis gab keine Antwort. Zwei Petty Officer traten neben ihn und nahmen ihm die Rangabzeichen ab.

»Ihren Degen, Sir«, bat einer.

Mit zitternden Händen schnallte Francis ihn ab und reichte ihn der wartenden Hand. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand. Zu Hause würde er die Uniform ausziehen und sie nie mehr tragen, das wusste er.

Als er durch den Hof schritt, sah er, wie sich Gesichter an Fenster drückten. Sein Fall war Gesprächsstoff an der ganzen Akademie. Doch er schwor sich, er würde etwas anderes finden, um sich selber zu bestätigen.

Eilig, bevor Margret sie noch einmal zurückhalten konnte, schlüpfte Sarah durch die Eingangstür, vor der Horatio gerade wieder die Hand nach dem Glockenzug ausstreckte, und schloss lautlos die Tür hinter sich. Der junge Mann öffnete gerade den Mund, um die Rothaarige zu grüßen, da packte sie ihn schon am Arm und zerrte ihn die fünf Stufen hinunter, die zu dem Portal aus dunklem Holz führten.

»Schnell weg, bevor meine Tante uns doch noch zurückhält«, zischte sie und eilte schon den Weg entlang, der zum Zaun führte.

Verblüfft stolperte Horatio neben ihr her und musste grinsen. Wieder trug sie schlichte, unauffällige Kleidung und er musste sie insgeheim für ihre Voraussicht bewundern. Über eine Schulter trug sie eine lederne Tasche, die ihr bei jedem Schritt an den Oberschenkel schlug.

»Wenn du erlaubst, trage ich die Tasche für dich«, bot Horatio an.

Sarah warf ihm einen zögernden Seitenblick zu und überließ ihm dann die Tasche, die überraschend schwer war. Sie gab ihre Sachen nur ungern aus der Hand, aber der Weg nach Whitechapel war recht weit und sie hatte sich gegen die Benutzung einer Kutsche entschieden. In den engen Straßen kam man nur schwer vorwärts, außerdem verhieß eine Kutsche Reichtum und hätte gewisse Leute dazu verleiten können, sie zu überfallen.

Sie sprachen nicht viel, als sie nebeneinander her an den großzügigen Villengrundstücken von Greenwich vorbeigingen, grüßten nur gelegentlich Passanten, die ihnen entgegen kamen und ihnen erstaunte Blicke zuwarfen. Es war allgemein bekannt, dass Sarah O’Leary mit Francis Gordon verlobt war. Sie mit seinem Bruder zu sehen, würde die Gerüchteküche wahrscheinlich schnell in Gang setzen.

Hin und wieder warf Sarah ihrem Begleiter einen verstohlenen Seitenblick zu. Wie sie hatte er einfache, zerschlissene Kleidung gewählt und sich nicht rasiert, der ihr schon bekannte Drei-Tage-Bart bedeckte Kinn und Wangen. Er war so anders als sein Bruder! Wenn sie ihm in der Dämmerung begegnet wäre, hätte sie sich gefürchtet.

Was Sarah nicht wusste, war, dass Horatio die ganze letzte Nacht nicht geschlafen hatte. Seit ihn Inspector Abberline hatte rufen lassen, war er die ganze Nacht durch Whitechapel gestreift.

Als der Bote ihn beim Kartenspiel in einem Hinterzimmer gefunden hatte, da hatte Horatio sich zuerst drücken wollen, aber der Bote hatte ihm die Nachricht überbracht, dass jede Zusage durch den Inspector nur von seiner eigenen Bereitschaft abhängig war, ihm zu helfen, wann immer er es verlange.

Horatio hatte geflucht. Er hatte gerade ein Gewinnerblatt auf der Hand gehabt, aber er fügte sich. Der Inspector hatte ihn vor einiger Zeit erwischt, als er beim Whist betrogen hatte. Spielbetrug war etwas, was durchaus böse enden konnte. Noch dazu, wenn man Horatio Gordon hieß und nicht gerade ein Unbekannter bei der Polizei war.

Es war einiges zusammengekommen. Er hatte gefälschte Anleihen für die neue Brücke verkauft, Geld gefälscht und auch den ein oder anderen Diebstahl begangen.

Jetzt musste er seine Schulden zurückzahlen. Der Inspector hatte ihm den Torso gezeigt, der gefunden worden war. Die Aufgabe war gewesen, herauszufinden, ob irgendwo in Whitechapel eine Nutte vermisst würde. Abberline hatte nur die vage Vermutung, dass es sich um eine solche handeln könnte. Und er musste alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. So hatte er Horatio losgeschickt, aber der hatte bis zum Morgen nichts herausgefunden.

Während er neben Sarah herging, dachte er nach. Zum Glück schwieg sie. Schließlich erreichten sie die Brücke über die Themse und verließen Greenwich. Auf der anderen Seite des Flusses war das Bild ein so gänzlich anderes, dass man das Gefühl haben konnte, die Themse sei das Tor zu einer anderen Welt. Statt grünen Parks und großen, vornehmen, einzeln stehenden Häusern drängten sich hier schmutzige Lagerhallen neben mehrstöckigen, von Ruß dunkel gefärbten Arbeiterblocks, deren Fenster windschief in den Angeln hingen und so schmutzig waren, dass es keine Vorhänge brauchte, um den Blick ins Innere zu verhindern. Die Straßen lagen voller Unrat und die Menschen waren nicht weniger schmutzig als die Umgebung.

In den Docks war schon zu dieser frühen Stunde eine Menge los, Menschen und Pferde liefen einander in die Füße, zerrten Karren über löchrige Straßen und schrien einander an, wenn sie sich gegenseitig die Wege blockierten. Schon hier war es ungemütlich, aber Horatio wusste, dass diese Gegend, verglichen mit Whitechapel, noch vornehm war. Er beobachtete Sarah und wunderte sich, dass der Dreck und der Lärm sie nicht zu stören schienen. Den Rock mit einer Hand gerafft, um ihn nicht im ärgsten Schlamm schleifen zu lassen, schlängelte sie sich graziös wie eine Tänzerin zwischen den vielen Menschen hindurch und hielt geradewegs auf einen Stand zu, an dem frisch gefangener Fisch verkauft wurde.

Verwundert folgte der junge Gordon ihr. Warum in aller Welt wollte sie Fisch nach Whitechapel mitnehmen? Als sie jedoch angekommen waren und er hörte, wie Sarah zwei Dutzend Fischblasen verlangte, ging ihm ein Licht auf – und nicht nur ihm!

Der fette Fischverkäufer, der mit seiner fahlweißen Gesichtsfarbe und den hervorquellenden Augen selbst aussah wie ein Karpfen, grinste Sarah mit faulenden Zähnen an.

»Wie viel soll denn die halbe Stunde kosten, Rotfuchs?«

In einer Mischung aus Ekel und Empörung starrte Sarah den Mann an.

»Sehe ich etwa wie eine Hure aus? Und selbst wenn ich eine wäre, könntest DU doch sowieso keine halbe Stunde durchhalten!«

Die Umstehenden brachen in schallendes Gelächter aus, und der Fischverkäufer wurde zornrot.

Horatio grinste. Es war ihm schon klar, dass Sarah nicht auf den Kopf und schon gar nicht auf den Mund gefallen war. Aber es erstaunte ihn, dass die ›eiserne Jungfrau‹, wie er sie in Gedanken nannte, doch nicht so prüde war, wie er es befürchtet hatte. Sie schien mehr über dieses Thema zu wissen, als er vermutet hatte.

»Jedenfalls weiss ich, dass man Fischblasen nicht in der Suppe kocht«, knurrte der bleiche Verkäufer. »Die besseren Huren benutzen sie, damit ihnen niemand ein Balg anhängt. Wenn du also zwei Dutzend haben willst, scheinst du ziemlich umtriebig zu sein!«

»Wie umtriebig ich bin, mit wem und warum, das geht dich einen feuchten Dreck an«, zischte Sarah mit wachsender Ungeduld. »Bekomme ich jetzt die Blasen oder muss ich mir einen anderen suchen? Du bist nicht der Einzige an der Themse, der Fische verkauft!«

Murrend packte der Mann das Gewünschte ein, und als Sarah bezahlte, erlaubte er sich die nächste Frechheit.

»Eigentlich schade, so hübsch und so ein Besen. Vielleicht sollte ich mir dich wirklich mal ordentlich vornehmen, damit du ein wenig zufriedener wirst.«

Diesmal gingen die Lacher auf Sarahs Kosten. Sie schien jedoch gar nicht darauf einzugehen, deutete auf eine große Forelle.

»Diesen Fisch nehme ich noch. Was kostet er?«

»Einen Shilling.«

Sarah legte die Münze auf den Stand, und dann, zum Erstaunen aller Zuschauer, nahm sie den Fisch mit festem Griff am Schwanz. Noch bevor irgendjemand begriff, was sie vorhatte, hatte sie dem Fischhändler seine eigene Ware rechts und links um die Ohren gehauen. Dann ließ sie die Forelle einfach liegen, drehte sich kommentarlos um und ging in Richtung Whitechapel davon.

Horatio sah sich allerdings noch einige Male um. Beim nächsten Besuch hier, sofern es einen geben sollte, würden sie besser diesen Stand meiden. Die Fischer hier waren äußerst nachtragend. Er fasste Sarah am Arm.

»Das war zwar erheiternd, aber auch sehr dumm von dir. Wenn du öfter hier durch willst, dann solltest du nicht so auffallen. Denn jetzt wirst du das Gesprächsthema Nummer eins sein.«

Er hoffte, dass niemand auf die Idee kam, ihnen Schwierigkeiten zu machen. Er verfluchte sich, dass er seinen Schlagstock zu Hause gelassen hatte.

Schließlich erreichten Sie Whitechapel.

»So, da wären wir. Wo willst du anfangen?«

»Im ›The Ten Bells‹, dort hinten!«, antwortete Sarah zielstrebig. Sie hatte sich offensichtlich Gedanken gemacht.

Horatio starrte sie an.

»Das ist doch nicht dein ernst, oder? In den schlimmsten Laden von ganz London?«

Doch ein Blick aus ihren grünen Augen ließ ihn verstummen. Im Stillen verfluchte er sich schon jetzt selber. Doch er hatte ihr Hilfe versprochen. Und die würde er ihr nun nicht mehr entziehen.

Der zwielichtige Pub lag zwar nicht direkt in Whitechapel, aber ganz in der Nähe im Stadtteil Spitalfields und er war für die armen Leute des East Ends das, was für die reichen Londoner das Theater, der Hyde-Park oder die Rennbahn Ascot waren. Ein Ort, um zu sehen und gesehen zu werden, um den neusten Tratsch auszutauschen und sämtliche Neuigkeiten zu erfahren. Oder aber auch um sich in einer dunklen Ecke volllaufen zu lassen, um das tägliche Elend zu vergessen, ohne dass jemand Fragen stellte.

Wie es schien, kannte Sarah sich in der Gegend besser aus, als Horatio erwartet hatte. Sie hatte für ihr Vorhaben fraglos den besten Ort im ganzen East End ausgesucht. Man konnte ohnehin davon ausgehen, dass mindestens die Hälfte des dort verkehrenden Publikums an der Syphilis litt, und jene Erkrankten, die nicht in den Pub gingen, würden die Nachricht eher früher als später von jemandem zugetragen bekommen, der es tat.

Horatio beobachtete die Menschen. Die meisten waren keine Gefahr, doch einige äußerst zwielichtige Gestalten trieben sich auch schon am Morgen hier herum.

»Warum habe ich meinen Schlagstock nicht mitgenommen«, dachte er erneut. Aber wo sollte er jetzt einen hernehmen? Und auch noch so, dass Sarah nichts davon mitbekam. Sie würde nicht sehr begeistert sein, wenn er ein solches Instrument mit sich herumtrug. Das war ihm klar.

Schon von Weitem konnten sie sehen, dass bereits zu dieser frühen Stunde einiges im ›Ten Bells‹ los war - ständig öffnete sich die Tür des vierstöckigen Eckhauses und jemand kam oder ging. Der Pub war nicht nur für seine günstigen Preise bekannt, sondern auch für eine Küche, in der es nicht vor Ratten nur so wimmelte. Darum mangelte es zu keiner Tages- oder Nachtzeit an Gästen.

Als Sarah und Horatio eintraten, schlugen ihnen lautes Stimmengewirr und ein wenig angenehmer Geruch nach Rauch, Bier und ungewaschenen Körpern entgegen. Alle Tische waren besetzt, viele von Arbeitern, die von der Nachtschicht heimkamen oder noch frühstückten, aber auch viele, die so früh am Morgen schon betrunken waren. Die obligatorischen Huren fehlten ebenfalls nicht, waren leicht zu erkennen an ihrem übertrieben lauten Lachen, das die Aufmerksamkeit möglichst vieler Männer auf sie ziehen sollte.

Horatio ließ seinen Blick durch den Pub schweifen. Am Tresen sah er einige Männer, die nach Ärger rochen. Die musste er im Auge behalten. Es waren Kerle, die ihre eigene Mutter für ein Bier und eine halbe Stunde mit einer Hure verkauft oder erschlagen hätten. Er knirschte mit den Zähnen.

»Miss Sarah!«

Horatio sah sich um. Wer hatte da gerufen?

Ein kleines Mädchen, dessen große blaue Augen aus einem schmutzverschmierten Gesicht leuchteten, lief auf die Arzttochter zu und schlang die dünnen Ärmchen um ihre Taille.

»Rosie!«

Erfreut strich Sarah dem Kind über das dünne braune Haar und ging in die Hocke, griff es bei den Schultern.

»Na, lass dich mal ansehen. Was macht dein Husten?«

»Ist viel besser, fast ganz weg!« Die Kleine strahlte. »Dank deiner Hilfe!«

Sarah lächelte.

»Ich freue mich doch, wenn ich helfen kann.« Suchend sah sie sich um. »Ist deine Mutter nicht da?«

Rosie errötete leicht.

»Sie ist … draußen.«

Missbilligend presste Sarah die Lippen zusammen. Rosie und Ida Evans gehörten zu den Leuten in Whitechapel, die regelmäßig zu den O’Learys zur Behandlung kamen, wenn sie dort ihre Dienste umsonst anboten. Idas Mann war schon lange verschwunden, war einfach eines Tages von der Arbeit nicht mehr nach Hause gekommen. Nicht, dass sie seine Schläge sehr vermisst hätte, aber ohne sein Einkommen musste die Frau, die natürlich keinen Beruf hatte, selbst für sich und ihre Tochter sorgen. Das tat sie, indem sie jede Arbeit annahm, die ihr angeboten wurde. Und fast jede arme Frau im East End von London wurde früher oder später einmal zur Gelegenheitshure. Da bildete Ida Evans keine Ausnahme.

Wenigstens streunte Rosie währenddessen nicht auf der Straße herum, sondern wartete im Pub auf ihre Mutter, wo der Wirt Freddie zumindest hin und wieder ein wachsames Auge auf sie werfen konnte.

Sarah griff in ihre Tasche und holte ein paar Münzen heraus, drückte sie Rosie in die Hand.

»Hier. Kauf dir etwas zu essen und ein Glas Milch … du bist ja nur Haut und Knochen! Bevor ich wieder gehe, schaue ich dich nochmal an. Und falls ich deine Mutter verpasse, sag ihr, dass ich sie auch noch sehen will, machst du das?«

Horatio schluckte. Er war nicht aus Stein. Das, was Sarah da eben gemacht hatte, das war fast mehr, als er ertragen konnte. Doch sie konnte nicht jedem helfen, das musste er ihr klar machen.

Rosie nickte und bedankte sich überschwänglich, wieselte dann durch die Menschen davon in Richtung Küche. Sarah und Horatio brauchten zweimal so lange, um sich durch das Gedränge zu schieben, aber endlich hatten sie den Tresen erreicht.

Freddie Bell, der Inhaber des ›Ten Bells‹, sah sie erstaunt an.

»Nanu, Sarah … heute ist doch gar nicht der dritte Freitag im Monat.«

Diesen Tag hatten sie und ihr Vater für ihre Aktionen der Nächstenliebe gewählt. Sonst ließen sie sich hier nicht sehen. Sarah lächelte den Wirt an.

»Ich weiß, Freddie. Ich habe auch etwas anderes im Sinn. Könntest du dafür sorgen, dass hier kurz Ruhe herrscht und ich etwas sagen kann?«

Über dem Tresen hing eine alte Schiffsglocke. Freddie griff danach und ließ sie läuten, was in dem engen Raum ohrenbetäubend laut war und alle zusammenzucken ließ. Aber die Aufmerksamkeit der Anwesenden war ihnen nun sicher.

Freddie schob Horatio ein Bier zu. Der sah ihm in die Augen, nahm beide Hände und hielt sie etwa zwei Handbreit auseinander. Der Wirt nickte und schob ihm einen Schlagstock zu, den Horatio schnell in seiner Jacke verschwinden ließ. Nun war ihm bedeutend wohler.

Sarah stieg auf einen Stuhl und rief laut:

»Hört mal her … Ich brauche eure Hilfe. Viel zu lange schon geht eine Seuche um, die viel zu viele von uns foltert, leiden lässt, dem Wahnsinn anheimfallen lässt und uns über Jahre hinweg tötet. Ihr kennt sie …«

Gerade in diesem Augenblick fiel Sarahs Blick auf einen Mann - zumindest nahm sie anhand seiner Haare an, dass es ein Mann war, denn seine Gesichtszüge waren zu zerfressen, um es mit Sicherheit sagen zu können -, der anstelle von Nase und Mund ein einziges, klaffendes Loch hatte, aus dem ein paar Zähne ragten. Die Betroffenheit in ihrer Stimme, als sie den Satz beendete, war echt.

»Die Syphilis …«

Ein Raunen ging durch den Raum, halb aus Bestürzung, halb aus Scham. Die wenigsten sprachen je von der Lustseuche.

Sarahs Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an.

»Ich habe es mir zum Ziel gesetzt, sie zu besiegen. Vielleicht kann ich sie nicht völlig heilen, aber zumindest aufhalten oder die Symptome lindern. Aber dazu brauche ich Hilfe, eure Hilfe!«

Das vereinzelte Gemurmel, das noch durch den Raum gegeistert war, verstummte. Sarah war bereit zu wetten, dass jeder in diesem Raum mindestens eine Person kannte, die betroffen war, wenn nicht sogar selbst erkrankt.

»Ich habe von vielen Methoden der Behandlung gehört, aus verschiedenen Kulturen, aber ich weiß nicht, wie viel Wahrheit daran ist, was wirklich hilft. Daher brauche ich mutige Mitstreiter an meiner Seite, die bereit sind, mit mir Experimente zu machen, die bereit sind, verschiedene Behandlungen an sich ausprobieren zu lassen.«

»Und warum sollten wir uns auf so etwas einlassen?«, rief ein hagerer Mann aus einer Nische. »Das könnte unser Tod sein!«

»Wenn dich kein Arzt umbringt, Walther, dann wird es der Alkohol bald sowieso erledigen«, hielt Freddie Bell dagegen, und alle lachten. Sarah hob die Hände und schnell wurde es wieder ruhig. Horatio entspannte sich wieder. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl gehabt, die Situation würde sich dahingehend entwickeln, dass Ärger drohte, aber die Bemerkung des Wirtes hatte sie wieder entspannt.

»Wie Freddie schon sagte … ohne Behandlung sterbt ihr sowieso. Ich werde euch sehr genau beobachten und sofort abbrechen, wenn ich das Gefühl habe, dass es euch schlechter geht. Und ich weiß, dass die meisten sich nur deshalb nicht behandeln lassen, weil sie es sich ohnehin nicht leisten können. Darum braucht ihr euch bei mir keine Sorgen zu machen. Nicht nur meine Behandlung wird umsonst sein, nein, ich werde euch sogar einen Wochenlohn zahlen.«

Das war das Stichwort. Sofort redeten alle aufgeregt durcheinander, reckten die Köpfe, aber beruhigten sich sehr schnell wieder, um Sarah ausreden zu lassen. Sie blieb völlig ruhig und souverän.

»Ich zahle jedem, der an meiner Forschung teilnimmt, fünf Shilling die Woche. Aber ihr müsst euch ganz genau an meine Anweisungen halten, sonst funktioniert es nicht. Und ich brauche auch ein paar Leute, die sich nicht behandeln lassen möchten, damit ich den Verlauf der Krankheit dokumentieren kann. Ich gehe jetzt hinauf ins Behandlungszimmer. Ihr könnt einer nach dem anderen zu mir kommen, und ich werde euch mir ansehen. Jeder mit der Syphilis ist mir willkommen, ich brauche wirklich so viele wie möglich. Erzählt es weiter. Ich will nicht nur forschen, sondern auch helfen. Jeder Gerettete ist ein Erfolg.«

Horatio verschluckte sich fast an seinem Bier. Fünf Shilling? Er schüttelte den Kopf, wollte etwas zu Sarah sagen.

Doch sie drehte sich um und stieg die Treppen in den ersten Stock hinauf, wo Freddie Bell Zimmer vermietete und eines für die monatlichen Untersuchungen freihielt.

Sie hörte, wie hinter ihr in der Wirtsstube ein regelrechtes Chaos ausbrach, als alle über ihr Angebot diskutierten.

Als Sarah die Tür des ihr zugedachten Zimmers schließen wolle, hätte sie Horatio beinahe die Hand eingeklemmt. Erschrocken zuckte sie zusammen:

»Oh … ja … du bist ja auch da!«

»Ja, verdammt! Ich bin auch da. Sag mal, bist du vollkommen wahnsinnig? Jetzt sag mir bloß nicht, du hast Geld dabei, um die Ersten direkt zu bezahlen? Schreib doch direkt ein Schild auf dem steht: Ich trage Geld bei mir! Vergewaltigt, beraubt und tötet mich! Und dann hängst du es dir um und gehst durch die Straßen.«

Horatio war bleich vor Wut. Aber auch aus Wut über sich selber. Daran hätte er denken müssen.

Sarah sah ihn an. Und sie erkannte, Horatio war nicht Francis. Sie hatte gehofft, er wäre ihm ähnlicher. Francis hätte sie niemals so angegangen. Sie holte tief Luft.

Die O´Leary Saga: Engelsklinge

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