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2. Kapitel

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»Herzlichen Glückwunsch, Helen!«

Sarah strahlte, als sie der erschöpften, verschwitzten Mutter den kräftig schreienden Säugling, den sie gerade notdürftig gesäubert hatte, in die Arme legte.

»Du hast einen wunderschönen, gesunden Jungen!«

Es war keine leichte Geburt gewesen - das Kind hatte verkehrt herum gelegen, Sarah hatte in die Mutter greifen und es drehen müssen. Sie selbst war blutverschmiert bis an die Ellenbogen und erhob sich, um sich zu waschen und mit der mitgebrachten Phenollösung zu desinfizieren. Das machte längst noch nicht jeder Arzt, aber Andrew O’Leary schwor darauf.

»Ist es jetzt vorbei?«

James streckte vorsichtig den Kopf aus der Küche ins Schlafzimmer. Er war ein wenig blass, hatte Sarah aber sehr gut unterstützt, indem er immer wieder frisches heißes Wasser und saubere Tücher gebracht hatte. Sie lächelte ihm zu.

»Ja, mein fleißiger Helfer. Komm ruhig herein und schau dir dein kleines Brüderchen an!«

Der Junge kam eifrig heran und setzte sich staunend neben seine Mutter aufs Bett. Helen hielt ihr Baby bereits im Arm und ließ es an der Brust saugen. Sie schluchzte leise.

Sarah runzelte die Stirn.

»Helen, das sind aber keine Freudentränen, oder?«

»Doch …«, schniefte die Frau mit den langen schwarzen Haaren, schüttelte dann jedoch betrübt den Kopf.

»Nein … nicht nur. Ach Miss Sarah, ich weiß nicht, wie ich das machen soll mit zwei Kindern. Ich weiß nicht, wie ich sie ernähren soll. Ich habe die ganze Zeit an den Docks Fische ausgeweidet und James hat mitgeholfen, aber den Kleinen kann ich dorthin nicht mitnehmen.«

Sarah presste die Lippen zusammen, packte ihre Sachen in die Tasche und erwiderte dann:

»Ich kann dir nichts versprechen, Helen, aber ich werde meinen Vater fragen, ob du bei uns im Haus arbeiten kannst … zumindest eine Zeitlang.«

Helens Kopf schnellte in Sarahs Richtung.

»Wirklich? Miss Sarah, das würden Sie für mich tun?«

Die Rothaarige nickte.

»Wir haben ja nichts zu verlieren! Aber jetzt muss ich nach Hause. Die Blutung hat aufgehört, es geht dir und dem Kleinen gut«, und mit einem Blick auf James fügte sie hinzu: »Und Unterstützung hast du ja.«

Sie strich dem tapferen Jungen über den Kopf.

»Morgen komme ich vorbei und sehe nach euch. Bis dann weiss ich auch sicher, ob wir Arbeit für dich haben.«

»Danke, Miss Sarah! Vielen Dank!«

Die strahlenden Augen ihrer Patientin versetzten Sarah noch in Zufriedenheit, als sie vor dem schäbigen Haus in den Tower Hamlets zu Albert in die Kutsche stieg. Wenn sie in den ärmeren Viertel Londons unterwegs war, bestand Andrew darauf, dass sie nicht alleine ging, und Sarah hatte nie protestiert. In den Arbeitervierteln, besonders so nah an den Docklands, war es gefährlich. Menschen wurden praktisch im Minutentakt überfallen und ausgeraubt, oft sogar ermordet, und meist scherte sich niemand darum.

Es war mittlerweile völlig dunkel geworden, nur noch die Gaslaternen erhellten die Straßen und wieder einmal hing schwerer Nebel zwischen den Häusern.

Die Anspannung in Sarah ließ nach, als die Kutsche über die Themsebrücke in Richtung Greenwich rumpelte und sie nickte ein. Erst als die Kutsche mit einem Ruck vor dem heimischen Stall zum Stehen kam, schreckte sie wieder auf.

»Wir sind da, Miss Sarah!«

Albert grinste sie an.

»Brauchen Sie mich heute noch, oder kann ich Feierabend machen, wenn ich das Pferd versorgt habe?«

Schmunzelnd sprang Sarah von der Kutsche.

»Du kannst ruhig in den Pub gehen, Albert, mein Vater ist jetzt sicherlich zu Hause. Wenn noch etwas sein sollte, werden wir gemeinsam gehen.«

»Danke, Miss Sarah!«

Albert verbeugte sich und zog höflich seinen Hut.

»Ich wünsche eine gute Nacht.«

»Dir auch, Albert!«

Noch beschwingt von der erfolgreichen Entbindung ging Sarah ins Haus und lief durch die Eingangshalle. Sie wollte gleich ihrem Vater alles berichten und ihn um eine Anstellung für Helen bitten.

Auf halbem Wege hörte sie schon seine Stimme aus der Praxis im hinteren Teil des Hauses - und noch eine Zweite. Dass so spät noch ein Patient im Haus war, war ungewöhnlich. Notfälle waren selten in der Lage, noch hierher zu kommen. Doch es war eindeutig jemand bei Andrew … und die Stimme kam ihr bekannt vor. Neugierig hielt Sarah den Atem an. Hatte sie sich getäuscht? Oder war ihr Verlobter bereits zurück? Ihr Herz begann so laut zu schlagen, dass sie glaubte, ihr Vater und sein Besucher müssten es hören können. Lautlos schlich sie näher und sperrte die Ohren auf. Sie wollte nicht kopflos ins Zimmer stürzen, um dann festzustellen, dass die Stimme nur der ihres Geliebten ähnelte.

Noch konnte sie nicht verstehen, was gesagt wurde, hörte nur Gemurmel und vermutete, dass ihr Vater Anweisungen zur Untersuchung gab. Jetzt jedoch erkannte sie ganz deutlich die Stimme von Francis Gordon.

Gerade wollte Sarah freudestrahlend die Tür öffnen und ihrem lange vermissten Verlobten um den Hals fallen, als sie die Stimme ihres Vaters hörte und auch verstand, was er sagte:

»Junger Mann. Sie haben die Syphilis.«

Sarah stand zur Salzsäule erstarrt. Hatte sie richtig gehört? Syphilis! Das war beinahe so schlimm wie die Pest! Eigentlich genauso schlimm, genauso ansteckend, nur lebten die Erkrankten sehr viel länger und niemand konnte sagen, wie sich die Krankheit letzten Endes äußern würde.

Sie hatte Menschen gesehen, die seit Jahrzehnten infiziert waren und nur gelegentlich einen widerlichen nässenden und entstellenden Ausschlag bekamen, während anderen das komplette Gesicht von den Geschwüren zerfressen worden war. Klaffende Löcher, wo einst Nasen, Augen und Lippen gewesen waren.

Ganz schlimm wurde es, wenn die Krankheit das Gehirn erreichte. Die Betroffenen wurden wahnsinnig, inkontinent, erblindeten, wurden gelähmt. Eine wirklich wirksame Behandlung gab es nicht, obwohl viele Mediziner fieberhaft danach suchten. Noch war die gängige Methode, die Patienten großflächig mit Quecksilber einzustreichen. Ob es wirklich half, konnte keiner so recht sagen - am Ende war es egal, ob die Patienten an der Syphilis oder an einer Quecksilbervergiftung starben. Sicher war nur eins - Sarah konnte ihre Pläne mit Francis begraben.

»Sie wissen, was das bedeutet, richtig?«

Die Stimme ihres Vaters riss Sarah aus ihrer Erstarrung, und sie schlich näher an den Türspalt, um besser zu hören. Wie in aller Welt konnte er sich angesteckt haben? Hatte er einem infizierten Kameraden geholfen?

»Sie werden meine Tochter auf keinen Fall heiraten können. Sie würden sie sofort mit dieser Seuche anstecken und eure Kinder würden damit geboren! Ich übernehme gern Ihre Behandlung, aber Sarah ist ab sofort für Sie tabu! Wie haben Sie sich dieses Übel zugezogen? Will ich es überhaupt wissen?«

Sarah wollte ins Zimmer stürzen und aufbegehren, versichern, dass man bestimmt eine Heilung finden könne und dass sie trotzdem Francis‹ Frau sein wollte, als sie seine Antwort hörte.

»Es widerstrebt mir, es zuzugeben … ich schäme mich vor mir selbst, vor Ihnen, und ganz besonders vor meiner Verlobten … aber Sie wissen vielleicht, wie das Leben auf See ist! Ich habe ein Hurenhaus besucht. Dort muss ich es mir zugezogen haben.«

Von einer Sekunde auf die andere lag Sarahs ganze Welt in Scherben. Ein Hurenhaus! Ihr Verlobter hatte sie betrogen! Niemals, niemals hatte sie mit so etwas gerechnet! Es tat körperlich weh. Sarah musste sich zusammenreißen, um nicht auf die Knie zu sinken. Nach Luft schnappend taumelte sie in die Halle zurück und zog sich mit Mühe am Geländer die Treppen hinauf. Sie war gerade außer Sicht, als sie die Schritte und Unterhaltung ihres Vaters und Verlobten - wenn man ihn noch so nennen konnte! - in der Halle hörte.

»Waren Sie schon bei Ihrem Vater?«, wollte Andrew O’Leary wissen. »Weiß er Bescheid?«

»Nein,« hörte Sarah die betrübte Stimme Francis‹. »Ich bin sofort, nachdem wir anlegten, hierher gekommen.«

Sie hörte leises Rumoren, dann wieder ihren Vater.

»Gut, dann fahren wir jetzt gemeinsam zu Ihnen nach Hause und klären diese Angelegenheit.«

Die Eingangstür fiel mit einem dumpfen Schlag ins Schloss und Sarah stand mutterseelenallein auf dem dunklen Treppenabsatz. Schluchzend sank sie auf den Boden, umklammerte mit beiden Händen das Geländer und weinte herzzerreißend. Alles war aus! Alles vorbei! Sie konnte ihre große Liebe nicht heiraten! Vielleicht würde Francis sogar bald sterben. Es brach Sarah das Herz. So sehr hatte sie sich auf seine Rückkehr gefreut, und jetzt war er unerreichbarer für sie, als er es je in Australien gewesen war.

Das Klingeln der Türglocke ließ die junge Frau zusammenfahren, und sie stand reflexartig sofort auf und ging wie in Trance die Treppen hinunter. Ihr erster Gedanke war, dass doch noch etwas bei Helen Sherman nicht in Ordnung war, und in diesem Fall musste sie sich zusammenreißen. Als sie jedoch die Tür öffnete, war es nicht James Sherman, der dort stand, sondern Susan Birch. Sie gehörte zu den Patienten aus Whitechapel, die regelmäßig zu Sarah kamen. Nur war sie noch nie hier gewesen!

»Susan,« entfuhr es Sarah überrascht, »was machst du denn hier? Wie hast du überhaupt hergefunden?«

»Hab mich durchgefragt … guten Abend, Miss Sarah!«

Susan grinste schief und eine Wolke aus Alkohol schlug Sarah entgegen, sodass sie unwillkürlich zurückweichen musste. Dank Susans Äußerem, vor allem ihren gelblichen Augäpfel, war Sarah immer klar gewesen, dass sie trank - abgesehen davon gab es in Whitechapel kaum jemanden, der das nicht tat -, aber bisher war sie bei ihren Besuchen immer nüchtern gewesen. Die Arzttochter trat zur Seite.

»Komm erstmal rein … ist etwas passiert, hast du Schmerzen? Du bist doch noch nie hierher gekommen!«

»Hab auch noch nie was so Scheußliches gehabt …«, brummte sie.

Susan wankte lallend an Sarah vorbei, pfiff anerkennend, als sie sich in der Eingangshalle umsah.

»Mein lieber Schwan, das Zimmer hier is ja größer als meine ganze Behausung!«

Sarah legte eine Hand auf die Schulter der anderen Frau, die in ihrem Alter war, aber durch mangelnde Ernährung und ständige Krankheiten zwanzig Jahre älter aussah, und schob sie behutsam in Richtung Praxis.

»Komm, wir gehen ins Arztzimmer. Was hast du denn, ich schaue es mir mal an.«

In der Eile hatte ihr Vater die Lampen in der Praxis nicht gelöscht, was Sarah erleichtert registrierte. Susan blieb mitten im Raum stehen, noch immer leicht schwankend, und dann zog sie ihren Rock hoch.

»Es juckt und ist offen, ich brauche unbedingt eine Salbe!«

Sarah starrte den mageren, schmutzigen Körper an. Scharlachrote, knotige kleine Geschwüre zogen sich am Unterleib und Bauch hinauf. Es war die Syphilis. Sarah hatte nie gefragt, wie Susan Birch ihren Lebensunterhalt verdiente, woher sie das Geld bekam, das sie abends versoff, weil es für sie keine Rolle gespielt hatte. Aber in diesem Moment war es völlig klar. Susan war eine Hure. Frauen wie Susan waren dafür verantwortlich, dass Sarahs Leben völlig ruiniert, dass ihr Glück zerstört war!

Gespannt sah Susan Sarah an.

»Nun? Hast du was dagegen?«

Sarah nickte mechanisch.

»Ich kann dir eine Salbe gegen das Jucken und Nässen geben. Aber die Krankheit selber, die geht wohl nicht mehr weg. Das kommt immer wieder. Und es ist sehr ansteckend! Susan, du darfst nicht mehr mit Männern schlafen für Geld, hörst du? Du wirst sie auch krankmachen.«

Susan stieß ein verächtliches Lachen aus.

»Miss Sarah, mach keine Witze. Soll ich vielleicht verhungern, weil irgendein alter geiler Bock, den seine Frau nicht mehr drauflässt, den Schwanz nicht in der Hose behalten kann? Die haben es doch verdient, dass sie krank werden. Ich seh so schon seit gestern abend aus, und fünf Kerle hat’s nicht gestört. Die haben nicht mal hingeschaut! Gibst du mir jetzt was gegen das Jucken?«

»Ja, ich gebe dir etwas gegen das Jucken …«

Am Morgen hatte Andrew ein Bild von sich und seiner Tochter, das vor ein paar Tagen aufgenommen worden war, in seiner Praxis aufgehängt. Der Hammer lag noch auf dem Schreibtisch.

Als Sarah ihre Umgebung wieder bewusst wahrnahm, lag Susan Birch regungslos vor ihr auf dem Boden. Ein großes, blutiges Loch klaffte in ihrer Schläfe. Verblüfft starrte Sarah auf den Hammer in ihrer Hand. Haare und Blut klebten daran. Wann hatte sie damit zugeschlagen!?

Mit einem Laut des Entsetzens wich die Arzttochter zurück und das Werkzeug fiel mit einem lauten Poltern zu Boden.

Ich habe einen Menschen umgebracht, dachte Sarah entsetzt, ich wollte immer nur helfen, und jetzt habe ich einen Menschen getötet!

Gerade wollte sie in Panik geraten, davonstürzen und ihren Vater zu Hilfe holen, als ein neuer Gedanke, kühl und distanziert, sie davon abhielt.

Was glaubst du eigentlich, wie vielen Menschen du geholfen hast, indem du diese eine dreckige Hure von ihrem Elend erlöst hast?

Sarah hatte sich schon zur Tür gedreht, aber nun hielt sie inne und wandte sich wieder zu der Toten um. Susans Gesichtsausdruck wirkte ganz friedlich, entspannt, beinahe glücklich. Sie hatte den Hammer nicht kommen sehen, hatte keine Sekunde gewusst, dass sie gleich sterben würde. Sie hatte ein erbärmliches, würdeloses Leben in Whitechapel gelebt. Eigentlich war es eine Gnade, ein Dienst der Barmherzigkeit gewesen, sie von ihrer jämmerlichen Existenz zu befreien.

Die Krankheit wäre schnell fortgeschritten unter ihren Lebensumständen, hätte sie entstellt, vielleicht unter unsäglichen Schmerzen getötet. Und in der Zwischenzeit hätte sie immer mehr und mehr Menschen angesteckt, wie ein Rattenfloh!

Alleine heute hatte sie fünf Männer auf dem Gewissen!

»Es war wahrscheinlich das Beste so«, murmelte Sarah vor sich hin.

Einen Augenblick noch wurde sie nervös, lauschte unruhig, ob jemand im Haus aufmerksam geworden war, aber es war alles still. Die Mägde schliefen schon, Margret war zum Bridge gegangen und ihr Vater wäre sicherlich noch eine Weile bei den Gordons. Sie hatte Zeit, aber nicht unendlich viel.

Sarah griff nach der Tasche mit den Operationsinstrumenten ihres Vaters. Dann bückte sie sich und griff die Tote bei den Füßen, zerrte sie aus der Praxis. Im Gerätehaus des Gärtners würde sie niemand suchen. Und außerdem gab es dort eine Säge.

Die O´Leary Saga: Engelsklinge

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