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Meine politische Orientierung

Der geneigte Leser könnte den Eindruck gewinnen, mein Leben hätte in jenen Jahren nur aus Partys bestanden. Deshalb will ich rasch gegensteuern und anmerken, dass ich auch politisch interessiert war. Nach meiner Rückkehr aus Kanada abonnierte ich die Wochenzeitung »Die Zeit« und schrieb ab und zu sogar einen Leserbrief. Die berühmten 1968er-Krawalle gingen allerdings spurlos an mir vorbei, da ich erst im Oktober des Jahres zurückkehrte. Zu diesem Zeitpunkt war die heiße Phase der Studentenrevolte um Rudi Dutschke gegen das verstaubte Establishment in Deutschland schon abgeklungen.

In unserer Clique führten wir hitzige Debatten über politische Themen. Die meisten meiner Kumpels waren – als katholische Rheinländer – überzeugte CDU-Anhänger, ich entlarvte mich als der Außenseiter mit meinen Ansichten. Die rasch wachsende Umweltbewegung der Siebzigerjahre fand ich zum Beispiel nicht unsympathisch, während sie von den meisten anderen als linke Spinnerei bezeichnet wurde. Ich war schon damals der Meinung, dass aus dieser Gruppe einmal eine ökologische Partei mit neuen Ideen zum Umweltschutz und für den Atomausstieg entstehen könnte. So kam es schließlich auch. Im Jahr 1980 wurde in Karlsruhe die Partei »Die Grünen« gegründet.

Damals sympathisierte ich jedoch mit den Freien Demokraten. Die FDP hatte eine starke Basis im Remstal. Aus Schorndorf stammte der einzige FDP-Ministerpräsident, den es in der alten Bundesrepublik gab: Reinhold Maier. Das war gleich nach der Gründung der Bundesrepublik. Die Umstände seiner Wahl waren etwas dubios. Er überrumpelte die stärkste Partei, die CDU, in dem er schnell ein Bündnis mit der SPD und dem BHE schloss und sich zum Ministerpräsidenten wählen ließ. Allerdings war er auch die treibende Kraft, die zu dazu führte, dass Baden und Württemberg nach zwei Volksabstimmungen zu einem Bundesland vereint wurden.

Selten versäumten mein Freund Hans und ich das jährlich stattfindende Dreikönigstreffen der Liberalen im Stuttgarter Staatstheater. Die FDP hatte damals hervorragende Köpfe wie Karl Hermann Flach, Ralf Dahrendorf oder Hildegard Hamm-Brücher. Mit ihrem Grundsatzprogramm von 1971, den Freiburger Thesen, in dem der Begriff »Sozialer Liberalismus« geprägt wurde, konnte ich mich anfreunden. Auch von Hans-Dietrich Genscher hielt ich große Stücke, bis zum Spätsommer 1982, als er und seine Parteifreunde die Koalition mit Helmut Schmidts SPD aufkündigten und zur CDU Helmut Kohls wechselten. Für mich war das ein unverzeihlicher Verrat. Mit einer Partei, die ihr Fähnchen in den Wind hielt, wollte ich nichts zu tun haben. Die FDP bekam keine Stimme mehr von mir. Günther Verheugen und anderen aus der FDP rechnete ich es hoch an, dass sie sich von dieser Partei verabschiedeten. Auch Hildegard Hamm-Brücher war strikt gegen diesen Regierungswechsel.

Doch zurück in die frühen Siebziger: Der Besuch beim Dreikönigstreffen war auch deshalb stets etwas Besonderes, weil dort ein gewisser Helmut Palmer, der Remstal-Rebell, seinen großen Auftritt hatte. Schon vor der Tür hatte er sich mit Plakaten und Sprüchen positioniert, so dass ihn niemand übersehen konnte. Im Saal dann, wenn die hohen Herren ihre Reden schwangen, kamen Helmut Palmers lautstarke Zwischenrufe, mit Ausdrücken, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließen. Palmer war ein Weltverbesserer und ein Sturkopf, der sich gern die Beamtenschaft und überhaupt die Obrigkeit vorknöpfte. Er ließ sich von niemand etwas sagen. Unzählige Male kandidierte er bei Bürgermeister- und Oberbürgermeister-Wahlen sowie für ein Bundestags- oder Landtagsmandat. Es war immer vergeblich, und es kostete ihn ein kleines Vermögen, das er sich als Obsthändler durch großen Fleiß verdient hatte. (Sein Sohn Boris war später erfolgreicher: Er wurde Oberbürgermeister in Tübingen – und dabei mindestens so eigensinnig wie sein Vater.)

Vom überzeugten FDP-Wähler wurde ich zum Sympathisanten der SPD. Nachdem die Grünen sich inzwischen zu einer eher bürgerlichen Partei wandelten, kann es heutzutage sogar vorkommen, dass ich jetzt bei ihnen mein Kreuzchen mache.

Mein Vater wählte stets die CDU, meine Mutter machte es ihm nach. Politische Diskussionen mit meinem Vater waren in keiner Weise zielführend und endeten meist im Streit. Die »Sozis« zum Beispiel waren ihm ein Gräuel, obwohl er doch selbst als einfacher Arbeiter aus diesem Milieu kommt. Dagegen kam aus seinem Munde nie Kritik an den Verbrechen der Nationalsozialisten, obwohl er im Krieg und in der Gefangenschaft selbst viel erleiden musste. Im Elternhaus versuchte ich politische Themen möglichst zu meiden.

Bis heute bedrückt mich der Gedanke, dass in den Wochen und Monaten meiner Geburt, im Herbst 1943, die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen Juden und anderen Minderheiten in Auschwitz und den vielen anderen Vernichtungslagern ihrem grausamen Höhepunkt entgegensteuerte. Sicher kann man sagen: Ein großer Teil der Deutschen mag nichts gewusst haben von den Gräueltaten der Nazis. Sie trifft keine persönliche Schuld. Die allermeisten Zeitgenossen können sich auf die »Gnade der späten Geburt« (Helmut Kohl) berufen. Aber wir alle tragen eine Mitverantwortung dafür, dass sich solche Ungeheuerlichkeiten nie mehr wiederholen. Wenn man sich die politische Landschaft im Jahr 2020 betrachtet, kann einem angst und bange werden. Daher plädiere ich vehement dafür, dass wir uns gegen das braune Gedankengut von Höcke, Gauland und Genossen mit aller Energie und allen demokratischen Mitteln zur Wehr setzen.

Darum in die Ferne schweifen

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