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Besuch in der DDR

Ich war schon in etliche Länder gereist, doch das am nächsten liegende blieb lange Zeit für mich unerreichbar. Ohne verwandtschaftliche Beziehungen gab es so gut wie keine Möglichkeit, in die DDR zu reisen. Jetzt, Mitte der Siebzigerjahre, kam mir ein Zufall zu Hilfe. Mit Margret besuchte ich eines Tages meine Patentante Loni, eine Schwester meiner Mutter, in Arzberg im Fichtelgebirge. Auf dem Heimweg machten wir auch eine Visite in Ansbach bei Lissy und Kurt Bergmann, von denen schon die Rede war. Lissys Cousine Dorle, eine Rentnerin aus Dresden, war gerade zu Besuch. Offenkundig löcherte ich sie mit Fragen über das Leben in der uns fremden DDR, denn sie schlug vor, sie doch zu besuchen. Bei unserem Einreiseantrag sollten wir sie einfach als »Tante Dorle« angeben. Gesagt, getan: Es klappte, und so fuhren wir im Sommer 1975 das erste Mal ins Arbeiter- und Bauernparadies.

Dresden war schon damals eine der wenigen Städte, die für DDR-Verhältnisse herausgeputzt war und sich ordentlich präsentierte, im Gegensatz beispielsweise zu Plauen, an dem wir auf der Autobahn vorbeifuhren. Dort waren die Gebäude grau oder sogar schwarz und ungepflegt. »Tante« Dorle wohnte am Stadtrand von Dresden in der Rhönstraße in einem typischen Arbeiterwohnblock aus den Dreißigerjahren. In ihrer Zwei-Zimmerwohnung bot sie uns sofort ihr Schlafzimmer für die Nächte an, während sie selbst auf dem Sofa schlief. Sie war ungemein gastfreundlich. Es fühlte sich an, als ob wir uns schon immer nahegestanden wären. Die Tage waren ausgefüllt mit Besichtigungen von Zwinger, Semperoper, dem Blauen Gewölbe mit seinen fantastischen Schätzen darin, in der überwiegenden Mehrzahl angehäuft von August dem Starken. Außerdem führte uns Dorle ins hochinteressante Hygiene-Museum, wo sie oft mit ihrem Enkel hingegangen war. Sie war trotz Rentenalter ein Energiebündel und erinnerte mich an die Beschreibungen Erich Kästners über seine Dresdener Mutter. Dorles herrliches Sächsisch passte haargenau zu ihrem etwas korpulenten Erscheinungsbild und ihren rosafarbenen Wangen. Sie hatte übrigens während ihrer beruflichen Tätigkeit eine wichtige Stelle bei der Deutschen Reichsbahn inne: Sie war unter anderem für das Depot für Reinigungsgerätschaften zuständig gewesen. Es war köstlich zuzuhören, wenn sie uns erzählte, wie die Tauschgeschäfte so verliefen. Von Kollegen, die öfter nach Berlin fuhren, erhielt sie gegen ein paar Rollen Toilettenpapier oder einer Flasche Desinfektionsmittel schon mal ein feines Rindersteak aus Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik.

Dorles Familie, sie hatte zwei Söhne, zwei Schwiegertöchter und einen Enkel, wohnte in Hoyerswerda. Der Ältere, Hans, hatte es bis zum Personalleiter der Schwarzen Pumpe, einem großen Betrieb im Braunkohleabbau, gebracht und war damit »Geheimnisträger«. Ihm war Westkontakt absolut untersagt. Wir trafen ihn und seine Frau Erika auf »neutralem Boden«, also im Freien beim Stadtbummel in Dresden. Der Jüngere, Thomas, war das genaue Gegenstück, er arbeitete als Vorarbeiter im gleichen Betrieb und schimpfte mächtig über seine Regierung und das ganze sozialistische System – im Beisein seines Bruders. Glücklicherweise erwies sich die Bruderliebe stärker als die Loyalität seiner Partei und seiner Deutschen Demokratischen Republik gegenüber. Thomas wollte schon immer abhauen und »nach drüben machen«, doch irgendwie verpasste er den richtigen Zeitpunkt. Er beneidete Lissy und Kurt, die es geschafft hatten.

Wenn Dorle während unseres Besuchs einkaufen ging, flüsterte sie dem Ladenbesitzer zu: »Ich habe Westbesuch.«

Das half offenbar, das Beste vom wenigen Vorhandenen zu bekommen. Einmal lud sie uns in ein Varieté-Theater ein. Als »Westbesucher« durften wir in der ersten Reihe sitzen. Doch es gab auch negative Erlebnisse. Der Mercedes-Stern auf der Kühlerhaube wurde schon in der zweiten Nacht abgeschraubt. Was hätte ich anderes erwarten sollen? Ein so seltenes Souvenir war einfach zu verlockend! Weniger verständlich war der Messerstich in einen der Autoreifen. Dorle war es furchtbar peinlich. Ein tüchtiger Handwerker brachte das Malheur rasch in Ordnung und freute sich sichtlich über den Verdienst in Westmark.

Die Propaganda der regierenden SED war unübersehbar. Auf riesigen Plakaten wurden die Errungenschaften des Sozialismus gepriesen oder Lobgesänge auf den großen Bruder gesungen. Ein Spruch blieb mir besonders in Erinnerung: »Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen.«

Genauso unübersehbar waren die Warteschlangen vor Gaststätten und besonders vor Ladengeschäften. In Hoyerswerda sah ich eine besonders lange. Ich fragte einen der Anstehenden, was es da Besonders gibt. »Raufasertapeten«, war seine kurze Antwort. Eines Abends verfolgte ich mit großem Interesse die Fernsehsendung »Der schwarze Kanal« von Eduard von Schnitzler. Tante Dorle konnte es kaum fassen, dass wir diesen schlimmen Agitator sehen wollten. Tatsächlich war es schon »starker Tobak«, was er seinen Zuschauern wöchentlich an Lügengeschichten über die kapitalistische BRD und ihre ausbeuterische Regierung auftischte.

Als Gastgeberin war unsere neue Tante perfekt. Thomas und Ursula luden uns in ihre Datsche ein, es gab Gegrilltes und viel Bier. Wir schlossen sie alle ins Herz. Zurückhaltender waren verständlicherweise Hans und seine Frau Erika, von Beruf Lehrerin. Für sie war es heikel, mit uns zusammen zu sein. Auch die Leute auf der Straße verhielten sich seltsam zurückhaltend uns gegenüber. Schon an der Kleidung waren wir als Leute aus der »BRD« erkennbar. Trotzdem sollte dieser Ausflug in eine andere Welt nicht der letzte gewesen sein.

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