Читать книгу „MENSCH BLEIBEN“ bis ans Lebensende - Wiebke Wanning - Страница 5
Einleitung
ОглавлениеAls mein Vater vor vielen Jahren an einem irreparablen Gehirntumor erkrankte, kam er direkt nach der Diagnose in ein Krankenhaus.
Dort wurde er an diverse Apparate angeschlossen, funktional lebenserhaltend und der Kontrolle der inneren Organe dienend.
Trotz sedierender und schmerzstillender Medikamente, er befand sich somit in einem komatösen Zustand, schaffte es mein Vater sich in der Nacht die Schläuche aus dem Körper zu reißen und aus dem Bett zu fallen. (Viele Jahre später erst begriff ich, dass dies wohlmöglich sein unterbewusster Wille war, nicht an Apparate angeschlossen zu sein, der ihn antrieb.)
Am nächsten Tag legte meine Mutter die Patientenverfügung vor, in welcher mein Vater seinerzeit Zeit klar und deutlich und mit notarieller Unterschrift beglaubigen lies, dass er keinen lebenserhaltenden Maßnahmen zustimmen würde.
Er wurde also seinem Wunsch entsprechend sofort in ein Sterbehospiz an seinem Heimatort verlegt.
Dort verbrachte er sehr liebevoll umsorgte und durch eine sehr gut eingestellte Schmerztherapie schmerzfreie letzte 10 Lebenswochen.
Ich war sehr dankbar für die Fürsorge die mein Vater von vielen Menschen wie Ärzten, Palliativmedizinern und Sterbebegleitern, Pflegenden und Betreuungskräften erfahren hat, da wir alle 3 erwachsenen Kinder nicht vor Ort wohnten und familiär- und berufsbedingt leider nur die Wochenenden mit ihm verbringen konnten.
Durch dieses Erlebnis ging ich seinerzeit „völlig naiv“, davon aus, dass wir in Deutschland ein Gesundheitssystem haben, welches jedem Menschen eine sichere und menschenwürdige Versorgung bis zum Lebensende garantieren würde.
Dass dem nicht immer so ist, habe ich in den Jahren meiner Arbeit in der Altenpflege erlebt, Geschehnisse die ich kaum fassen konnte und die auch kaum zu glauben sind.
Richtig heftige „Vorfälle“, die ich angezeigt habe, da es für mich keine Möglichkeit des Ignorierens bzw. Wegschauens mehr gab (aus Sicht mancher Kollegen „gepetzt“ habe), zeige ich hier nicht auf, zum Schutz der total korrekt arbeitenden Kollegen. Die Meldung haben personelle Konsequenzen für die Täter nach sich gezogen und sie arbeiten meines Wissens nicht mehr in der Pflege.
Auch dient dieses Buch absolut nicht dazu, ketzerisch über Pflegeberufe oder die dort arbeitenden Menschen herzuziehen, nein auf gar keinen Fall, auch wenn es an manchen Stellen so wirken mag.
Vielmehr möchte ich aufmerksam machen auf die Missstände und zwar nicht auf die schon bekannten, wie z.B. evtl. schlechtes Essen in Einrichtungen, oder fehlendes Pflegematerial usw.
Ich möchte den in Pflegeberufen beteiligten Menschen ihre Verantwortung an ihrem eigenen Verhalten aufzeigen und glaube fest daran, dass jeder Mensch sich verändern kann, um in Folge glücklicher und zufriedener durchs Leben zu gehen.
Für mich ist die Altenpflege immer noch einer der wundervollsten Berufe, in denen ich bislang gearbeitet habe. Und alle an der Betreuung und Pflege beteiligten Berufsgruppen haben einen so großen Anteil an dem letzten zu gestaltenden Lebensabschnitt der Senioren/innen, dessen müssen sie sich immer bewusst sein. Und .... sollten Sie es richtig machen, dann ist dieser Beruf ein großes Geschenk für alle teilhabenden Menschen.
Mit diesem Glauben habe ich mich 2016 entschieden, von der Rezeption eines Altenheimes in die Altenpflege zu wechseln, obwohl mir die Arbeit an der Rezeption auch sehr viel Spaß gemacht hatte.
Doch auch damals habe ich schon gemerkt, dass viele Dinge sich innerbetrieblich und interpersonell nicht richtig anfühlten und ich wollte dem auf den Grund gehen.
Also machte ich an einem freien Wochenende eine Art Schnupper-Praktikum in der Pflege, um herauszufinden, warum die Abteilungen sich untereinander nicht verstanden und woher diese Problematik kommt.
Ich stellte fest, wie wohl ich mich am „Menschen“ fühlte und dass ich dort auf der Station sehr viel mehr geben konnte als an der Rezeption. Dank der Unterstützung der Heimleiterin war dieser Wechsel ein Leichtes.
Zeitgleich erkrankte meine Mutter an Demenz und wieder gab es das Problem der Versorgung aus der Ferne.
Natürlich sollte sie so lange wie möglich in ihrem gewohnten Umfeld bleiben, also in ihrer schönen Wohnung und dem ihr vertrauten Ort.
Wir Kinder suchten einen Pflegedienst, der sie nach unseren Vorstellungen betreuen sollte, liebevoll, fachgerecht und das Wichtigste für uns war, dass unsere Mutter mit ihrer dementiellen Erkrankung ernst genommen wurde.
Sie sollte nicht als Kind, sondern als erwachsene alte Dame behandelt und betreut werden.
Wir 3 Geschwister waren abhängig von Menschen, die wir nicht kannten und nach dem beurteilen mussten, was wir während unserer kurzen Aufenthalte bei unserer Mutter erlebten. Diese Abhängigkeit aus der Ferne von einem ambulanten Dienst, mit allen Vor- und Nachteilen, lastete schwer auf uns.
Wir waren gezwungen „Vertrauen“ zu haben zu fremden Menschen, zu einer fremden Firma, und das war wirklich zu Beginn nicht einfach.
Nicht einfach für uns und durch unser ab und an doch argwöhnisches Verhalten mit Sicherheit auch nicht für den ambulanten Pflegedienst.
Zu unserem Glück waren zu der Zeit die Wartezeiten noch recht kurz und so konnte unsere Mutter von einem ortsansässigen Pflegedienst betreut werden.
Viele der Pflegenden kannten meine Mutter noch von früher und so eben auch eine Frau, die sich für unsere Mutter und auch für uns Kinder später als regelrechter Gutmensch herausstellen sollte.
Unsere Mutter erkannte die Dame nicht mehr, aber sie spürte instinktiv, dass diese (Geschäfts-) Beziehung sich richtig anfühlte.
Sie konnte unsere Mutter duschen (dies war sehr problematisch, es durfte auf gar keinen Fall ein männlicher Pfleger sein und auch keine Pflegerin, die sie nicht mochte).
Sie aß mit ihr zusammen Mittagessen und Abendbrot (die Mahlzeiten hätte meine Mutter vergessen) und sorgte dafür, dass das soziale Umfeld in Form von arrangierten Besuchen und Spieleabenden mit alten Freundinnen noch relativ lange bestehen blieb.
Arztbesuche, die meine Mutter Zeit ihres Lebens umgangen hat, wurden von ihr begleitet und abends, nach ihrer Schicht, verbrachte sie die Zeit mit ihr, bis unsere Mutter ins Bett ging.
Es schien als wurden beide durch dieses Arrangement beschenkt und sie waren sich sehr vertraut, auch wenn dies auf dem Papier natürlich eine Geschäftsbeziehung war.
Meine Mutter fühlte sich bei ihr bzw. dem Gutmensch geborgen und geliebt wie ein Kind und die Folge war, dass sie diese Frau unter ihrer Demenz „Mama“ nannte. (Dies war umso schöner, da meine Mutter ihre eigene sehr, sehr früh verloren hatte.)
An der Seite dieser Frau durfte sie mit ihren dementiellen Veränderungen leben und somit eine sehr liebevolle Lebens-Restzeit haben. Wir Geschwister sind heute noch in Kontakt mit dieser tollen Frau und so unendlich dankbar für ihre Liebe und Hingabe unserer Mutter gegenüber, die wir aus unterschiedlichen Gründen nie hätten leisten können.
(Warum nenne ich diese Frau nicht Pflegeengel? Seit Corona hört man sehr oft diese Bezeichnung für Menschen in Pflegeberufen. Engel sind jedoch eine Gattungsbezeichnung für himmlische Wesen und nicht für Menschen, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen!)
Und Engel treten leise
aus den blauen Augen der Liebenden,
die sanfter leiden.
Georg Trak
Alle Geschichten die ich hier erzähle, entsprechen allein „meiner“ eigenen Wahrnehmung.
Mein Empfinden resultiert natürlich aus meiner Lebenserfahrung und eigenen Lebensgeschichte aber ich schildere sie genau so, wie ich sie erlebt und empfunden habe.
Personen, Orte und Betriebe sind aus Datenschutzgründen unbenannt.
Sollte sich hier eine Person, sprich ein Leser, wiederfinden oder eine Institution vergleichbare Situationen erlebt haben, so darf gerne geschmunzelt, darüber nachgedacht oder vielleicht sogar eine Veränderung herbeigeführt werden.
Für ein beim Leser evtl. auslösendes, subjektives Gefühl betrachte ich mich in keiner Weise für verantwortlich.
In meinen Erzählungen springe ich zwischen den Geschlechtern hin und her, ich meine natürlich immer alle drei Geschlechter, wie m/w/d.
Auch vermische ich die Geschichten der 3 Wohnheime und der 2 Fachseminare in denen ich gearbeitet habe, aus Respekt vor den Einrichtungen und damit sich niemand auf den „Schlips“ getreten fühlt!
Und sehr, sehr wichtig ist mir, dass ich natürlich unheimlich viele, wundervolle Erfahrungen gemacht habe, speziell an meinem ersten Arbeitsplatz.
Auf allen Ebenen gab es dort Menschen, die sehr sozial, korrekt, engagiert und einfach super lieb waren, dass ich unendlich dankbar bin, diese Menschen kennengelernt zu haben und ein Stück des Weges mit Ihnen gehen durfte.
Aus diesem Grund möchte ich mich im Vorfeld unbedingt für die ganzen zauberhaften, rührenden und beeindruckenden Begegnungen mit eben diesen bedanken.
Ich durfte auf dieser Reise in der Altenpflege so wahnsinnig tolle Menschen kennenlernen, ob es in der Pflege selbst – zweifellos sehr gut ausgebildete Fachkräfte mit enormem Fachwissen – , tolle, höchst emphatische Pflegehelferinnen, Reinigungskräfte mit einem Herz aus Gold und auch Küchenpersonal, welches extrem bemüht war, die Bewohner zufrieden zu stellen.
Menschen vom sozialen Dienst die ihre Arbeit mit Leidenschaft und Herzenswärme gemacht haben, und super liebe, zufriedene und verständnisvolle Angehörige. Auch bin ich einer Heimleiterin begegnet, die mit so viel Kraft, Herzblut und Liebe ihr Haus führt, dass sich jeder Bewohner und jeder Angestellte täglich umarmt gefühlt hat, trotz der Alltagsprobleme, die eine große Firma mit sich bringt.
Ohne all diese Menschen würde es noch schlechter in der Pflege aussehen.
Diesen Menschen gilt mein größter Respekt!
Danke für Eure tolle Arbeit und dass ihr mir einen Einblick in die wundervolle Arbeitswelt von euch gegeben habt.
Jedoch würde ich so sehr gerne die „anderen“, die noch nicht verstanden haben, um was es im Leben geht zum Nachdenken über ihr eigenes Verhalten anregen. Denn in der Pflege gibt es zu viel „anders denkende“ Menschen, und diesen sind die Pflegeempfänger und ihre Kollegen machtlos ausgeliefert.
Und darum geht es in diesem Buch!
Besondere Menschen sind meist nicht die,
die sich dafür halten, sondern eher die,
die gar nicht wissen, wie einzigartig sie sind!
Autor unbekannt
„Nach einem Bericht des Ärzteblattes 2017, sei es besorgniserregend, wie viele Beschäftigte in Pflegeberufen aufgrund ihrer Arbeitsbedingungen in einem schlechten Gesundheitszustand seien.
Sie hätten nachweislich durchschnittlich 8 Krankheitstage mehr als Arbeitnehmer aus anderen Bereichen und doppelt so viele seelische Erkrankungen.“
Der ständige zeitliche Stress, die körperliche Beanspruchung, der Schichtdienst (12 Tage durcharbeiten ist keine Seltenheit) und auch manches unsoziale Verhalten von Kollegen/innen, interpersonelle Probleme bis hin zum Mobbing macht auf Dauer etwas mit allen Betroffenen. Es macht schwach, angreifbar und in der Folge krank.
Ebenso der permanente Umgang mit dem Thema Lebenszeit bzw. Lebensende kann auf Dauer ein Gefühl der Machtlosigkeit hervorrufen und dies trägt auch nicht zu einer gesunden Verfassung bei.
Natürlich ist mir bewusst, dass jedes Erlebnis viele Betrachtungsmöglichkeiten hat.
Die Sicht der Heimleitung ist eine andere, als ich es habe und auch die Wahrnehmung einer Kollegin, muss sich nicht mit meiner decken.
Aber es wäre wünschenswert, dass die Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, sich öfter und intensiver weiterbilden. Ein wichtiges Thema sollte zudem die Persönlichkeitsentwicklung sein.
Sich auf die alten Menschen/ Bewohner/ Patienten einstellen, dass der Pflegeempfänger in seiner Individualität wahrgenommen wird und dass die in diesem Bereich arbeitenden Angestellten sich nicht jedem Druck unterwerfen, auch nicht dem Druck durch Kollegen. Nur als Maschinen durchs Arbeitsleben „rennen“ und ihren Frust an den Kollegen und eigenen Familien auslassen und ... in der Folge vielleicht sogar erkranken.
Die jungen Menschen, die in der Altenpflege arbeiten möchten, sollten schon mit Beginn der Ausbildung viel mehr mental gestärkt und gecoacht werden.
Ihre Persönlichkeitsentwicklung muss unterstützt werden, erst dann verstehen sie auch die „Leitbilder“ der Einrichtungen und können diese mittragen.
Ich habe in den Schulen umwerfende, tolle junge Leute erleben dürfen, große Potentiale mit „richtig Bock und Freude“ auf diese Arbeit, sehr wissbegierig, neugierig und fleißig.
Aber schon von ihrem 1. Arbeitseinsatz berichteten sie, wie enttäuscht sie sind, weil sie regelrecht ausgebeutet wurden.
Der Satz: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ ist uralt und sollte für die Pflege, bei der es um Verantwortung für hilfsbedürftige Menschen geht, nicht mehr angewendet werden.
Gerade in dieser Branche mit enorm hohen emotionalen und psychisch belastenden Bereichen, muss für die Ausbildung ein neues Konzept erarbeitet werden und ein Umdenken erfolgen.
Natürlich müssen manche unangenehmen Arbeiten erledigt werden, aber welchen Grund gibt es, dies ausschließlich junge Leute im 1. und 2. Lehrjahr erledigen zu lassen.
Ein Auszubildender im 1. Lehrjahr sollte generell nicht alleine am Pflegeempfänger arbeiten. Das gäbe ihm Sicherheit und die Folge wäre, ein respektvoller Umgang mit dem alten Menschen und eine mit Glück richtig gute Ausbildung.
In der Ausbildungsverordnung ist dies auch so vorgesehen, aber ich habe kein Haus und keine Einrichtung erlebt, die sich zu 100 % an die Ausbildungsverordnung gehalten hat bzw. es aus personellen Gründen gar nicht konnte.
Die dafür zuständigen Praxisanleiter, die sich selbst für diese Zusatzausbildung entschieden haben, müssen dieses Engagement in ihren Berufsalltag mit einfließen lassen können. Dies war in keinem Haus in dem ich gearbeitet habe zu 100 % gegeben. Es standen Praxisanleiter-Tage im Dienstplan und dieser hätte somit von seinem normalen Dienst befreit werden müssen, um die Auszubildenden zu neuen Themenfeldern anzuleiten.
Diese Tage sind aber in den meisten Häusern absolut nichts wert, da die Anleiter unter großem Stress stehen und sich während der Arbeit nicht um ihre Azubis kümmern können.
Und hinzu kommt außerdem: Wie soll ein Mensch, egal welchen Alters, Verantwortung für (oftmals schwierige) Menschen übernehmen, wenn er selbst noch nicht in seiner Mitte steht.
Ich habe Auszubildende kennen gelernt, die große Defizite im Umgang mit sich selbst, ihren Mitmenschen oder sogar rassistische Züge hatten.
All diese Problematiken müssen während der Ausbildung aus dem Weg geräumt werden. Natürlich kann man jetzt behaupten, die Azubis sind junge Erwachsene, die müssten reif genug sein! Nein, die meisten waren es nicht und speziell die sozialen Defizite müssen geschult werden!
Dies darf nicht sein und funktioniert auch nicht, wie an meinen Erlebnissen zu lesen ist.
Ich versuche für alle diese Geschehnisse eine Möglichkeit der Veränderung dieser Zustände anzuregen und die Möglichkeit deren Umsetzung.
Es gab sehr viele Erlebnisse, die mich schwer erschrocken haben und da die Anzahl dieser von der Pflege abhängigen Menschen in den kommenden Jahren stark anwachsen wird, muss sich jetzt etwas ändern.
„Artikel 1 des Grundgesetzes besagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Auch im Pflegebereich herrscht Einigkeit darüber, dass die Würde älterer Menschen ganz besonders zu achten und zu schützen ist.
Auf Initiative des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend und des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung fand in den Jahren 2003 – 2005 der „Runde Tisch Pflege“ statt. Von über 200 Experten wurde die Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen zu stärken und ihre Lebenssituation zu verbessern erarbeitet.