Читать книгу Raju und Barbara - Wilhelm Thöring - Страница 16
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ОглавлениеEs kommt immer öfter vor, dass Raju in der Stadt zu tun hat; so viele Gründe zwingen ihn, sich von Kali in Kolkatas Gewühl und Gestank, in Dreck und Dunst fahren zu lassen. Manchmal bleibt er den ganzen Tag weg; bevor er fährt, lässt er sich jedoch von Barbara sagen, was sie an diesem Tag von ihren Leuten, vom Koch, von der Haushilfe und dem Gärtner erwartet und was zu tun ist. Und das sagt er ihnen und droht Strafen an, wenn sie nicht tun, womit die Memsahib sie durch ihn beauftragt.
So ist Barbara jetzt manchen Tag mit der Schwiegermutter allein. Die alte Frau langweilt sich. Oft wandert sie durch den Garten; sie betrachtet die Blumen, schwatzt mit dem Gärtner oder liest die alten Zeitungen, die Raju für sie mitgebracht hat. Das Lesen jedoch strengt ihre Augen an, sie werden rot und tränen und scheinen zu schmerzen, denn sie reibt immer öfter mit dem Handrücken darüber; manchmal legt sie sogar Lappen mit lauwarmem Wasser darauf. Dann wieder sitzt sie auf der Terrasse und legt Patiencen, Stunde um Stunde. Hin und wieder steht Barbara hinter ihr und schaut zu, aber sie begreift nichts davon, und die alte Frau kann es ihr nicht erklären. Sie lächelt nur, tippt auf eine Karte und wiegt den Kopf, als läge da etwas Bedenkliches vor ihr auf dem Tisch. Dann hat sie vergessen, dass die Schwiegertochter sie nicht versteht, denn sie schwatzt munter drauflos, um es ihr zu erklären.
Seitdem Doktor Sharma tot ist, trägt die Schwiegermutter keine bunten Saris mehr, als Witwe geht sie nur noch in weiß. Raju hat zwei gleiche Fotografien seines Vaters rahmen lassen, die ihn als jungen und selbstbewussten Arzt in seiner Praxis oder in einem Krankenhaus zeigen. Eins der Fotos hat er auf den Fernseher gestellt, das andere steht oben bei der Mutter auf dem Tisch und der junge Doktor Sharma sieht ihr bei allem zu, was sie macht, ob sie nun isst oder ihren morgendlichen Tee trinkt, die Zeitung liest oder Patiencen legt – es ist für sie, als wäre er durch das Foto gegenwärtig. Dann kann es vorkommen, dass sie mit ihm spricht, ihn etwas fragt oder ihm ihr Herz ausschüttet, was sie zu Lebzeiten so gut wie überhaupt nicht gemacht hat, denn Doktor Sharma hat von ihren Sorgen nichts hören wollen.
Auch heute ist es wieder sehr heiß geworden. Der Himmel hängt wie ein blassblaues, dunstiges Tuch über dem Land; in der Nähe, vielleicht im Garten, schreit unablässig ein Vogel, den die alte Frau noch nie gehört zu haben glaubt. Sie ist mit ihrer Zeitung auf die Terrasse gegangen, aber die Hitze hat sie gleich wieder in ihre Wohnung zurückgetrieben. Um sich ein wenig zu erfrischen, hat Ninu ihr eine Schüssel mit Wasser zum Kühlen der Füße bereitstellen müssen. Die Hände über dem Bauch gefaltet, sitzt sie da und lauscht auf die Geräusche von unten. Die Schwiegertochter ist nicht zu hören, aber der Hund, dieser große, schwarze, wilde Teufel, den sie sich ins Haus geholt hat. Er muss sich in irgendetwas verbissen haben, denn er knurrt und kratzt und will keine Ruhe geben. Hätte sie nicht die Füße in der Wasserschüssel, sie würde sofort nach unten laufen und nachsehen. Plötzlich quiekt der Hund auf, dann ist er ruhig, dafür hört sie jetzt die Schwiegertochter, die leise und eindringlich mit jemandem redet; und als sie wenig später zur ihr geht, sitzt die auf der Couch; der große Hund hat beide Vorderpfoten und den Kopf auf ihren Schoß gelegt und beginnt zu knurren, als die alte Frau das Zimmer betritt. Ihn kraulend und leise auf ihn einredend und tröstend beugt sich Barbara über ihn, als wäre er ein trostbedürftiges Kind.
„Das fehlt dir“, sagt die alte Frau in ihrer Sprache. Sie weiß, dass die Schwiegertochter nichts davon versteht. „Du solltest endlich einen Sohn gebären, dann hätten wir jemanden, der die Familie meines jüngsten Sohnes fortsetzt. Und du brauchtest deine Liebe nicht diesem wilden, schwarzen Teufel zu schenken!“
Barbara nickt dazu, als hätte sie verstanden und wäre derselben Meinung. Sie schiebt den Hund beiseite und geht in die Küche, um für die Schwiegermutter Tee kochen zu lassen.
Es dauert nicht lange und Pran trägt den Tee herein, für die Memsabib und die alte Frau. Jede sitzt für sich, und während sie ihren Tee trinken, stumm und wie in sich gekehrt, beobachten sie einander, beinahe lauernd wie zwei Feindinnen.
Immer wieder hat die alte Frau beim Sohn und auch bei ihren Mann nach einem Enkel gefragt, und jedes Mal bekam sie zur Antwort, dass die Schwiegertochter über die Zeit, Kinder zu bekommen, längst hinaus wäre. Auch wenn sie jung und kräftig aussehe – die fruchtbaren Jahre wären vorüber. Aber das wollte sie nicht glauben. Nach einer alten Frau sähe die Schwiegertochter nicht aus, und im Westen sei so vieles möglich, das lese sie alle paar Wochen in der Zeitung.
Über ihre Teetasse hin sagt die alte Frau in ihrer Sprache: „Indische Frauen sind nicht so schnell aus der Zeit heraus! Ihr Europäerinnen fürchtet euch davor, schwanger zu werden. Ihr verliert den Reiz, das schreiben auch die Zeitungen. Dabei blüht eine Frau erst durch ihre Schwangerschaften auf! Schwiegertochter, dem Raju und auch uns hast du Kinder zu gebären! – Warum zürnen uns die Götter, dass sie dir versagen, wozu du geboren wurdest? Liegt es daran, dass du und Raju die Ehe nach euren deutschen Gebräuchen geschlossen habt? Ja, sie zürnen uns, die Götter, denn die Frauen meiner Söhne bekommen keine Kinder. Die eine wie die andere sind wie ein unnützer Acker ...“
Die alte Frau sagt das mit gleichmütigem Gesicht; Barbara hat den Eindruck, als wiederhole die Schwiegermutter etwas, was sie in der Zeitung gelesen hat. Alles, was die sich von der Seele redet, das bekräftigt Barbara durch Kopfnicken, so dass die alte Frau auffährt und ruft:
„Und warum änderst du es nicht? Warum? Bist du zu fein zum Kinderkriegen? Bevor ich sterbe, möchte ich einen Enkel auf dem Schoß haben, hörst du! Lass mich nicht noch länger warten! Rajus Vater ist darüber gestorben.“
Und wieder nickt Barbara dazu und lächelt die Schwiegermutter verständnisvoll an. Doch plötzlich springt sie auf und schaut aus dem Fenster, weil Ashim das große Eisentor öffnet. Es ist nicht Raju, der heimkommt – es ist eine fremde, eine europäische Frau, die mit dem Gärtner, spricht und sich zeigen lässt, wo sie die Herrschaft findet. Der deutet nach dem Haus, und die Fremde kommt eilig und resolut, als machte die Hitze ihr nichts aus, zur Terrasse, wo Barbara auf sie wartet.
„Sind Sie Frau Sharma“, fragt sie in reiner deutscher Aussprache.
„Ja, die bin ich.“ Barbara streckt ihr die Hand entgegen. „Wie wohltuend, einmal aus dem Mund eines Fremden meine Muttersprache zu hören!“
Beeindruckt und anerkennend bestaunt die Fremde das Haus, sie besieht den Garten, wo sich Ashim hinter einem Wald von fast mannshohem, rot blühendem indischen Blumenrohr versteckt, um herzu zu springen, wenn es nötig ist. Himbeere ist über den Besuch so aufgebracht, dass er sie anbinden muss. Aufmerksam, versteckt im Dunkel des Hauses, wacht der Riesenschnauzer Brombeere.
„Ach, was haben sie nur für ein prächtiges, feudales Haus“, staunt die Fremde. „Hier, so weit draußen von Kolkata, wo es fast schon wie im Dschungel aussieht, vermutet niemand, so etwas anzutreffen. – Bitte, entschuldigen Sie, ich vergaß, mich vorzustellen: Mein Name ist Sonnenberg, Ruth Sonnenberg. Ich bin Pastorin für die evangelischen Deutschen in Kolkata ...“
Sie drückt noch einmal Barbaras Hand, und das lockt den Riesenschnauzer hervor, der sich wachsam, beobachtend und drohend zwischen Barbara und die Pastorin drängt.
Im Wohnzimmer nimmt die Pastorin hinter dem Tisch auf der Couch platz, wo sie sich vor dem Hund sicher glaubt. Pran bringt Tee und von den dünnen Pfannkuchen Alu Paratha, die die alte Frau sich gewünscht hat. Die Pastorin bedankt sich bei Pran auf Bengali, der sich sehr freut, dass eine Ausländerin ihn in seiner Sprache anspricht. Abwartend bleibt er in der Tür stehen, aber mehr hat diese Frau ihm nicht zu sagen.
Eine Weile sitzen die beiden Frauen einander schweigend gegenüber, die Pastorin nippt vom Tee und kostet und lobt die Alu Paratha, dann beginnt sie, um die Hausfrau einschätzen zu können, Barbara behutsam zu befragen, wo sie in Deutschland zu Hause gewesen ist, in welchem Beruf sie gearbeitet und warum es sie jetzt, so spät, nach Indien verschlagen hat.
Und Barbara erzählt freimütig, wonach die Besucherin fragt. Kinder habe sie keine, fügt sie hinzu, die sie in Europa hätte zurücklassen müssen; so wären sie und ihr Mann übereingekommen, den Lebensabend hier in seiner Heimat zu verbringen.
Sie schweigt plötzlich, weil die Schwiegermutter lautlos nach unten gekommen ist. Sehr aufrecht und ein wenig von oben herab steht sie in der Tür und betrachtet den Gast. Die Pastorin hat sich erhoben, und so, wie sie mit dem Koch, gesprochen hat, spricht sie die alte Frau in ihrer Sprache an. Die lacht vor Freude laut auf und begrüßt die fremde Frau ehrerbietig. Unaufgefordert setzt sie sich zu den beiden Frauen und redet munter drauflos, sie ist wohl im Glauben, die fremde Frau wäre zu ihr gekommen. Die unterhält sich eine schickliche Zeit mit ihr, dann wendet sie sich wieder der Schwiegertochter zu und redet mit ihr in der Sprache, in der Barbara alles mit Raju bespricht, was sie oft misstrauisch werden lässt, wenn in ihrer Gegenwart diese Sprache gesprochen wird.
Eine Gesprächspause ist der alten Frau willkommen, selbst in das Gespräch einzugreifen und der Fremden, die so hervorragend ihre Sprache spricht, von ihrem Kummer zu erzählen, dass die jungen Leute nicht an Nachwuchs denken, für den Mann und Frau doch geschaffen wären. Und auch von der Fremden wird ihr erklärt, was sie von ihrem Mann gehört hat, dass für die Schwiegertochter die Zeit des Kinderkriegens lange vorüber wäre.
Dann müsse der Sohn mit einer anderen Frau Kinder bekommen, sagt sie, das wäre nicht ungewöhnlich.
Pastorin Sonnenberg lacht. Sohn und Schwiegertochter hätten in Deutschland geheiratet, da gehe es nicht, eine andere Frau zu nehmen und mit ihr Kinder zu bekommen.
Aber er hätte diese Frau geheiratet, sagt die Schwiegermutter, ohne den Vater oder den älteren Bruder um Erlaubnis zu bitten, und sie hätte auch erst von dieser Heirat erfahren, als die Zeremonie schon vorüber war.
Die Pastorin wendet sich wieder an Barbara, ohne ihr von dem zu erzählen, was die alte Frau so bedrückt. Sie rät ihr, bald die Landessprache zu lernen, dadurch würde für sie nicht nur der Alltag leichter, sie könne sich auch unabhängiger von ihrem Mann bewegen.
Die alte Frau will das Gespräch mit der Fremden nicht nur der Schwiegertochter überlassen und still daneben sitzen. Sie kommt immer wieder auf das zu sprechen, was sie bewegt und ihr Kummer bereitet, so dass die Pastorin Sonnenberg sich bald verabschiedet und Barbara einlädt, den Kreis der deutschen Damen zu besuchen, den sie betreue, und zu dem sich nicht nur die evangelischen Frauen träfen, sondern auch Mitglieder anderer christlicher Gemeinschaften, sogar Hindus und eine Muslima wären da. Beim Abschied holt sie eine Einladung aus ihrer Handtasche, auf der die Termine für das erste Halbjahr genannt werden.
„Ich würde mich freuen, wenn Sie einmal vorbeikämen“, sagt sie. „Ich denke, es wird Ihnen gut tun, von anderen zu hören, die in einer ähnlichen Situation leben.“
Ja, das werde sie, verspricht Barbara.
Wenn Raju halbe oder ganze Tage in der Stadt verbringt, dann kann ich gelegentlich auch einmal allein dahin fahren, denkt sie. Vor dem Haus wartet noch die gelbe Taxe, mit der die Pastorin hergekommen ist. Ja, sie nehme die Einladung an und werde sich in jenem Kreis sehen lassen, versichert sie noch einmal und verschließt das große Eisentor; sie geht nicht ins Haus zurück, wo die Schwiegermutter noch am Tisch wartet, sondern sie macht sich im Garten zu schaffen, spielt mit Himbeere, sieht nach dem Lager des Hundes und verbringt viel Zeit mit solchen Dingen.
Jetzt erst kann sie sich über den Besuch der Pastorin Sonnenberg so richtig freuen. Ja, sie ist fest entschlossen, sie in ihrem Kreis zu besuchen, bald schon.