Читать книгу Raju und Barbara - Wilhelm Thöring - Страница 6
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ОглавлениеRaju hat das Fahren mit dem Auto auf seine, auf Art eines reichen Inders gelöst – er hat einen Chauffeur angeworben: Kali, einen Mann von etwa dreißig Jahren, dessen Sippe aus Südindien stammen muss, denn er ist viel dunkler als die meisten Inder, denen Barbara bisher begegnet ist; Kali ist beinahe schwarz wie ein Afrikaner. Er wirkt ruhig und immer etwas langsam, wenn er sich bewegt; doch hinter dem Steuer zeigt er Courage, und er fährt ebenso schneidig wie die meisten Taxifahrer, die sich vor nichts zu fürchten scheinen. Auch er kann das Hupen an den roten Ampeln nicht lassen, denn hier hupen alle. Und im dichten, bedrohlichen Verkehr kurbelt er das Seitenfenster herunter und streckt seinen Arm nach draußen, um andere Autofahrer auf Abstand zu halten. Wenn Raju sich beunruhigt oder erschreckt zeigt, dann wird er mit einem leisen, doch strengen: „Sir!“ an die Kontenance gemahnt, die ein Mann seines Standes zu wahren hat. Dieses ‚Sir’ ist wohl das einzige englische Wort, das Kali kennt. Das wenige, das er zu sagen oder zu fragen hat, das sagt er auf Bengali. Bei einer Fahrt aufs Land erzählt er Raju, dass er vorher Chauffeur für die Frau eines steinreichen Juwelenhändlers gewesen wäre. Viele Jahre hätte die Lady ihren Wagen allein gefahren, ein großes und luxuriöses amerikanisches Modell wäre das gewesen. Eines Tages, die Lady fuhr gegen die tiefstehende Sonne, sei es zu einem Unfall gekommen: Etwas flotter als erlaubt, hätte sie vor einer Kreuzung einen Ochsenkarren überholt. Auf der Kreuzung stand ein Polizist, der den Verkehr regelte, den die Lady nicht gesehen haben will. Sie hätte warten müssen. Um nicht in den Querverkehr zu fahren und den Polizisten zu gefährden, wäre es zu einer Vollbremsung gekommen. Ihr Wagen hätte sich quer gestellt, und in die Fahrerseite habe sich die lange Deichsel des Ochsengespanns gebohrt und die Lady verletzt. Als sie sich wieder auf die Straße und in ein Auto wagte, habe der Juwelier ihn zum Fahren seiner Frau angeworben. Ja, und vor einiger Zeit wäre die Lady gestorben, vielleicht an den Folgen des Unfalls – Kali weiß es nicht.
Mit dieser Begebenheit hat Kali so viel erzählt, dass es für die nächsten Wochen reichen musste.
Wenn Barbara ihr Grundstück verlässt, und das kommt selten vor, dann ist Raju an ihrer Seite. Eine weiße Frau geht nicht ohne ihren Mann aus, sagte er gleich in den ersten Tagen, als sie in Indien angekommen war. Sie hält das für Angst oder Eifersucht und bleibt hinter der weißen Mauer, denn bis jetzt verspürte sie kein Verlangen, allein durch das öde Land zu spazieren. Zudem kommen ihr manche Männer unheimlich vor, so dass sie sich vor ihnen fürchten würde, wenn sie ihnen an einem entlegenen Ort begegnen würde. Aber jetzt, da sie den Wagen und Kali haben, fahren sie alle paar Tage in die Stadt hinein, um einzukaufen, zu bummeln, in einen Restaurant zu sitzen, dem Treiben auf der Straße zuzusehen und es sich gut gehen zu lassen. Hin und wieder sind sie auch zum niederländischen Hundezüchter gefahren, um ihren Hund zu begutachten, um zu sehen, wie er heranwächst und sich zwischen seinen quirligen Geschwistern behauptet. Und vorgestern war es so weit, dass sie ihren Hund abholen konnten. Während der Heimfahrt musste Kali doch hin und wieder an seine Aufgabe erinnert werden: Er hatte die Augen mehr hinten beim Hund, den Barbara auf dem Schoß hielt, als beim Verkehr. Verwundert zeigte er sich auch darüber, dass der Hund ins Haus, dass er frei herumlaufen und sich in einen Sessel oder auf die Couch legen durfte. Hunde würden mit einem Strick an einen Baum oder an den Türpfosten gebunden, sagte er zu Raju, dieser jedoch lebe im Haus wie ein Kind.
Raju lachte darüber, aber er fand auch, dass Barbara mit beiden Tieren beinahe wie mit kleinen Kindern umging; dem kleinen Schnauzer gab sie den Namen Brombeere.
„Ich finde, er sieht aus wie eine überreife Brombeere“, sagte sie. „So schwarz und hier und da mit steifen Borsten...“
Und damit hatte sie auch gleich einen Namen für den verletzten, zugelaufenen Hund: er wurde Himbeere gerufen. Brombeere will sie zu einem Schutzhund abrichten, erklärt sie Raju, damit sie, wenn sie einmal das Grundstück verlassen muss, um beim Fisch- oder Gemüsehändler einzukaufen, an verlassenen und stillen Stellen dahin sicher sein kann.
Ob sie denn hier draußen mit einem Hund gehen wolle?
Ja, denn auch dafür hätten sie ihn. Er soll das Grundstück bewachen und er soll sie beschützen.
In den ersten Tagen, da Brombeere im Hause war, musste er in den Garten, wenn Ninu kam, und die Türen wurden zugesperrt. Sie fürchtete sich vor ihm und kreischte, wenn er an ihr hochsprang; sie ist sogar auf einen Stuhl geflüchtet und wäre auf den Tisch gestiegen, wenn Barbara nicht dazugekommen wäre.
An ihren Bruder in Deutschland hat Barbara eine Liste geschickt, welche Blumen sie gerne in ihrem Garten hätte, und er schrieb zurück, dass er alles, was sich auf eine so weite und lange Reise schicken ließe, besorgen, würde.
Raju meinte, da Bärbel jetzt im Ruhestand lebe, sollte es auch in jeder Form ein Ruhestand sein: Keine schwere, körperliche Arbeit, keine Unruhe und Aufregung mehr, keine täglichen Verpflichtungen, und wenn sie auch noch so unbedeutend sind wie Kochen und das Reinhalten der Wäsche und der Wohnung – dafür gäbe es in Indien reichlich Leute, die dankbar für den hier üblichen Lohn wären.
„Und dieser Lohn, Bärbel, wird uns nicht zu Einschränkungen zwingen“, das sagte er mit seinem Lächeln, das seine Wirkung noch nie auf sie verfehlt hat. „Du hast deinem Bruder geschrieben, dass er dir Knollen und Samen schickt. Gut. Aber so etwas muss in die Erde, es muss täglich gepflegt werden, es muss gegossen, muss gedüngt und aufgebunden werden – und das, Bärbel, ist grobe und anstrengende Gartenarbeit. Die kann ein anderer machen!“
Daraufhin sind der Koch Pran und Ashim als Gärtner ins Haus gekommen. Mit Ashim ist vereinbart worden, vorerst nur zu kommen, wenn es nötig ist und er gerufen wird. Wie die Memsabib sich den Garten dachte, das begriff Ashim sehr schnell. Er entwickelte sogar den Ehrgeiz, voraus zudenken, wie sie sich dieses oder jenes vorstellt, wo ein Kübel mit einer Blume mit dieser oder jener Farbe stehen könnte – Ashim tat es von sich aus, weil Barbara daran ihre Freude hatte und ihn durch Raju loben ließ. Dagegen verkroch sich Pran in der Küche. Er zeigte an nichts anderem als an der Küche Interesse, nicht an den anderen Räumen, nicht an den Hunden, nicht einmal am Auto. Auch er gab sich Mühe, doch anfangs weigerte er sich, Speisen zu kochen die er nicht kannte; und es dauerte lange, bis er dazu bereit war und damit zurande kam. Er hatte eine Abneigung gegen Gerichte, die Barbara und auch Raju gelegentlich auf dem Tisch sehen wollten. Wenn deutsch gekocht werden sollte, dann standen die Hausfrau als Köchin und Raju als Dolmetscher in der Küche; schließlich konnte Pran sich überwinden und er versuchte, sich alles zu merken, was der Sahib, sein Herr, ihm sagte und erklärte.
Pran ist arm und hat sich deswegen nicht verheiraten können. Zudem lebt keiner mehr aus seiner Familie, durch den ihm eine Frau hätte vermittelt werden können. In seiner vorherigen Kochstelle, es soll bei einem Beamten der Bezirksregierung gewesen sein, hätte er sein Essen und eine Schlafmöglichkeit in einem schmalen Raum gehabt, in dem die Herrschaften alle möglichen Gerätschaften abstellten. Gelegentlich hätte er ein paar Rupien bekommen, um ausgehen zu können. Raju hat ihm einen festen Lohn versprochen, wenn er zu ihm käme und der Memsabib in der Küche helfen würde. Später würde er mit ihm die Mahlzeiten absprechen, dann würde ihm auch das Reich in der Küche überlassen. Erst hatte Pran Zweifel, schließlich willigte er ein. Und jetzt kauft er statt Raju ein: er läuft zu Shaha, dem Fischhändler, oder zum Gemüsehändler Dutta, die beide etwas weiter oben in der Straße ihren Stand haben. Hinterher rechnet er mit Raju ab. Es zeigt sich, dass Pran ehrlich ist.
Der Einzug von Rajus Eltern in Barbaras und Rajus neues schönes Haus hatte hinausgeschoben werden müssen. Und wie es schien, war es dem alten Vater nur recht gewesen. Ihm hat es überhaupt nicht gefallen, seine gewohnte Umgebung und die Menschen zu verlassen, die ihn hin und wieder um ärztlichen Rat fragten. Aber jetzt ist im prächtigen Haus hinter der weißen Mauer alles soweit geordnet, wie Raju und Barbara es sich vorgestellt und gewünscht haben, und nun können sie daran denken, die alten Eltern zu holen. Deren Zimmer in der oberen Etage sind eingerichtet. Barbara hat Ashim am Morgen angewiesen, ein paar schöne Blüten zu schneiden, die sie zur Begrüßung der Schwiegereltern in Schalen legen will. Und die beiden Hunde soll er, wenn die alten Herrschaften kommen, im Garten anbinden, denn der alte Sahib kann es nicht ertragen, beleckt oder angesprungen zu werden.
Vor dem großen Tor wartet Kali neben dem glänzenden Wagen. Gestern Nachmittag hat er ihn noch gewaschen, dann sofort in die Garage gefahren, damit er für heute, dem großen Tag, blitzsauber ist. Am Tor haben sich alle versammelt: Die Ninu, der Gärtner Ashim und Pran, der Koch. Als der Wagen im Staub verschwunden ist, meint Pran zur Ninu und dem Ashim, es würde Zeit, dass durch die beiden Alten dieses Haus zu einem echten indischen Haus werde.
Es ist dunkel geworden, als Rajus Wagen vor dem Eisentor hält. Himbeere, der wachsame Hund, hat ihn zuerst gehört und gleich zu bellen angefangen. Daraufhin hat Ashim das Tor weit geöffnet, dass die Herrschaft bis ans Haus fahren konnte. Barbara hilft der alten Mutter aussteigen. Der Vater lehnt ihre Hilfe ab. In allen Fenstern brennt Licht, und das sieht der alte Mann mit Unbehagen. Barbara eilt voraus auf die erste Stufe der Terrasse, um ihre Schwiegereltern in aller Form vor dem Haus willkommen zu heißen. Mit aneinander gelegten Händen und einem leisen: „Welcome, Abba, welcome, Maloos.“ (Sei willkommen, Vater/Mutter) beugt sie sich vor der Mutter, die als erste an der Terrasse ist, um deren Füße zu berühren, wie es die Sitte den Höherstehenden und älteren Menschen gegenüber verlangt.
Die Mutter ist darüber erschreckt; sie zieht Barbara in die Höhe, murmelt etwas zu Raju hin und nimmt das Gesicht der Schwiegertochter in ihre knöchernen Hände und sagt mehrmals eindringlich: „Jeeti raho, beti ...“
Immer noch Barbaras Gesicht haltend, flüstert sie: „Toba, beti ...“
„Was sagt sie“, wendet Barbara sich an Raju.
„Gott segne dich, Tochter“, antwortet er. „Und: dass du das nicht wieder machst. Du bist eine Europäerin, die kennt diesen Brauch nicht.“
Doktor Sharma weiß es zu verhindern, dass Barbara sich auch ihm ehrerbietig nähert; er beachtet weder seine Frau noch die Schwiegertochter, sondern betrachtet stumm und interessiert das Haus, in dem er fortan leben soll. Einmal geht sein Blick voller Abscheu dahin, wo die angebundenen Hunde bellen und winseln und an den Seilen zerren. Die Luft durch seine Zähne pressend, zischt er etwas gegen Ashim und die Hunde hin, so laut, dass alle es hören können, worauf die alte Frau den Schleier über das Gesicht zieht und sich abwendet.
Wenn sie alleine sind, will Barbara Raju fragen, was ihn so erzürnt hat, aber da hat sie es längst vergessen.