Читать книгу Raju und Barbara - Wilhelm Thöring - Страница 22

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Vor dem Tor wird Barbara von Ashim erwartet. Um nicht untätig herumzustehen, hat er eine Hacke genommen und angefangen, das Unkraut, das hier und da hüfthoch an der Mauer steht, wegzuhacken. Im Spalt des Tores, die Schnauze auf den Vorderpfoten, lauert Himbeere, die sich beim Herannahen des Autos nur unlustig erhebt, ein wenig mit dem Schwanz wedelt und sich in den Hof zurückzieht. Ashim öffnet das Tor, dass Kali die Memsabib in den Hof fahren kann.

Von der Treppe kommt Ninu gelaufen. Barbara kommt es vor, als wäre etwas Unerfreuliches eingetreten und alle warteten auf ihr Kommen. Ninu raunt ihr etwas zu und gibt ihr immerzu Zeichen, die sie nicht versteht.

Das erste, was sie von der Terrasse aus sieht ist, dass Raju betrunken über dem Esstisch hängt, den Kopf auf beiden Armen. Er sieht kurz zu ihr auf und stöhnt, um ihn sogleich wieder dumpf auf die Platte fallen zu lassen. Mitten auf dem Tisch steht die Whiskyflasche, halbleer.

Auf der Couch liegt Rahul, der kaum die Treppen steigen konnte, auch er ist betrunken, und vor ihm auf dem Boden hockt Savita, ihren Kopf auf den Knien, als wäre sie eingeschlafen oder als erwarte sie Schläge; eine Hand hat sie unter Rahuls Gesicht geschoben. Savita rührt sich nicht. Sie erinnert Barbara an die Bettelweiber in den Straßen Kolkatas; die sitzen ebenfalls wie ein Tier auf dem Boden, still und ergeben, dass man mit ihnen machen kann, was einem in den Kopf kommt. Schweigend betrachtet sie die Schwägerin, dann wendet sie sich ab.

Nebenan in der Küche winselt Brombeere, der ausgesperrt wurde, weil er nicht verbergen kann, was er für Rahul und Savita empfindet.

„Gib Ruhe, gleich lasse ich dich frei“, knurrt Barbara und gießt sich einen Whisky in Rajus Glas.

Oben auf der Treppe erscheint für einen Augenblick die alte Mutter, die, als sie Barbara sieht, sogleich wieder in ihre Zimmer verschwindet.

Barbara berührt Raju an der Schulter. „Was ist los, Raju?“

Der spricht etwas gegen die Tischplatte. Er spricht in Bengali, so dass Barbara ihn nicht verstehen kann.

„Wie kommt Savita hierher? Was will sie? Wo hat sie die ganze Zeit gesteckt?“

Raju zuckt mit der Schulter.

Heute ist aus Raju nichts herauszubekommen, sie muss bis zum nächsten Morgen warten, um zu erfahren, wie alles gekommen ist und was sich zugetragen hat.

In der Nacht hat sie aufstehen und Aspirin nehmen müssen, weil sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde auseinander gerissen. Vor ihrem Bett schlief Raju auf dem Fußboden, wie einer ihrer Hunde, neben sich einen halbvollen Wassereimer.

Im Zimmer der alten Mutter war es dunkel, aber sie hörte Flüstern, eindringlich und erregt. Rahul und seine Frau waren nicht mehr im Wohnzimmer. Sie sind wohl zur alten Mutter schlafen gegangen. Barfuß, leise schlich Barbara nach unten in die Küche, wo Pran neben dem Herd in seine Decke gewickelt schlief; Brombeere drückte sich fest an ihn und hob nicht einmal den Kopf, als sie eintrat. Sie schluckte die Tablette und schlich wieder nach oben, und da sah sie einen Lichtstreif unter der Tür der alten Frau. Und immer noch war ihr, als würde aufgeregt geflüstert ...

Barbara stieg wieder in ihr Bett, und jetzt wurde Raju wach. Er ging ins Bad, und als er sich wieder auf den Boden legen wollte, schlug Barbara das Moskitonetz zurück.

„Komm ins Bett.“

Raju zögerte, dann legte er sich an ihre Seite, ohne sie zu berühren. Lange lagen sie nebeneinander, hellwach, alle beide, und horchten auf den Atem des anderen. Barbara, die den Schlaf herbeisehnte, konnte vor Anspannung und Unruhe nicht müde werden; sie wartete und horchte, ob Raju sich bewegte, ob der Muezzin nicht bald rufen würde, ob im Hof sich der Hund hören ließ.

Im Osten hellte sich der Himmel auf.

„Du hast ein Recht, böse zu sein“, hörte sie neben sich Raju sagen. Er lag so dicht, dass sie seinen Atem spürte.

Barbara ließ sich Zeit, ihm zu antworten. Dann flüsterte sie, und ihre Stimme klang, als müsste sie an der Frage ersticken:

„Wie kommt Savita hierher? Sag, hattest du deine Finger dabei im Spiel?“

„Ich weiß nicht, ob Savita noch mit meinem Bruder zusammenlebt. Wenn sie glaubt, bei uns eine Bleibe für längere Zeit zu finden, dann irrt sie; sie muss in ihre Familie zurückgehen. Sie ist selbst der Mutter zuviel!“

„Hat sie denn vor, hier zu bleiben?“

„Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Plötzlich klopfte es ans Tor – und als Ashim öffnete, da stand sie da.“

Immer noch wirr und unzusammenhängend erzählte Raju ihr, woran er sich erinnerte, und es dauerte nicht lange, da wurden aus Sätzen Wortfetzen, Silben ... Raju war wieder eingeschlafen.

An diesem Morgen bleiben Raju und Barbara allein beim Frühstück. Weder die Mutter noch Rahul und seine Frau sind herunter gekommen. Pran hat der alten Frau und den Gästen zur gewohnten Zeit den Tee nach oben getragen; jetzt werkelt er in der Küche, und die Tür hat er zugezogen, als wollte er es der Herrschaft erleichtern, sich auszusprechen.

Still, mit hängenden Köpfen sitzen beide einander gegenüber. Hin und wieder schielt Raju zu seiner Frau auf, aber er meint, dass sie ihren Kopf nur noch tiefer hängen lässt. Sie muss doch einsehen, dass er nichts dafür kann, dass Savita hier aufgetaucht ist. Wenn sie enttäuscht, gekränkt oder gar verärgert ist, dann deswegen, weil er wieder zur Whiskyflasche gegriffen hat. Er hätte Rahul nicht nachgeben sollen. Aber der stichelte ohne Ende, nannte ihn willenlos, einen Weichling, der sich vor seiner westlichen Frau klein mache und kein indischer Mann mehr wäre. Wenn sie sich in Kolkata vergnüge, dann dürfe doch ihr Mann in seinem Haus einen Whisky trinken. Rahul gab keine Ruhe, bis Raju schließlich den Whisky aus seinem Versteck holte.

Kann er das seiner Frau erklären?

Vorsichtig schiebt sich seine große, fleischige Hand über den Tisch zu ihr hin. Und als er sie berührt, lässt sie ihren Löffel fallen und beginnt leise zu weinen.

„Bärbel ...“

Eine kurze Zeit erträgt sie seine Berührung, dann schlägt sie plötzlich beide Hände vor ihr Gesicht, schiebt den Stuhl vom Tisch und weint so heftig, dass der ganze Körper geschüttelt wird.

Raju ist hilflos. Wie soll er sie trösten? Wie sie beruhigen? Er weiß keine Worte. Kann er ihr sagen, wie sehr Rahul ihm zugesetzt, wie er ihn als willensschwach und nachgiebig verhöhnt hat?

Nein, dann könnte ihre Abneigung gegen den Bruder in offenen Hass umschlagen.

Ohne es richtig gewollt zu haben, ist er um den Tisch gegangen, um sie in die Arme zu nehmen. Wie bei einem zu tröstenden Kind bewegt er sich hin und her, und dabei lässt er einen tiefen, kaum hörbaren Ton hören, einen in der Brust vibrierenden Ton, den Barbara mehr spürt als hört.

Als sie oben die Stimmen der Schwiegermutter und des Schwagers hört, macht sie sich aus Rajus Umarmung frei, mit dem Handrücken wischt sie die Tränen ab, lächelt zu ihm auf und läuft zu Pran in die Küche, um ihn wissen zu lassen, dass er abräumen kann.

Barbara macht sich im Garten an den Blumen zu schaffen. Bei der Garage beschneidet Ashim Büsche, die die Wege versperren. Schwanzwedelnd kommt Himbeere zu ihr und lässt sich schnaufend in den Schatten fallen.

Es ärgert sie, dass sie sich nicht beherrschen konnte und dem Drang zu weinen nachgegeben hat. Ja, hier in Indien, das sagt sie sich, bricht sie selbst bei Nichtigkeiten in Tränen aus, obwohl das, womit sie gestern überrascht worden ist, keine Lappalie war. Sie möchte mit klaren Gedanken diese Sache ansehen können – wird das noch möglich sein?

Barbara erschrickt, als vor ihr Rajus Schatten auftaucht – verlegen lächelnd sieht er auf sie herunter, sieht zu, wie sie alles Verblühte von den Zweigen dreht. Schwer atmend, ihre Hand festhaltend, kniet er sich neben sie.

„Es tut mir leid, Bärbel, so leid ... Vergib mir.“

„Vergeben? Ich habe Angst, Raju, Angst um dich. Wenn Rahul trinkt, der bei uns wohnt ... Raju, er sieht in dir nur den jüngeren Bruder, über den er sich erheben kann. Immer wieder wird er versuchen, dich zu verführen, weil er weiß, dass er mich damit treffen kann. Ach, Raju, es wird erst Ruhe sein, wenn er ...“

Barbara schüttelt den Kopf, als hätte sie zu viel gesagt.

„Ich will es nicht mehr zulassen“, sagt Raju. „Es darf nicht sein, dass durch andere Unfriede, dass Streitereien zwischen uns hervorgerufen werden. – Ja, er ist der ältere, aber er lebt nicht in seinem Haus, sondern in unserem, in deinem Haus, Bärbel ...“

„Ja, das hast du schon einmal gesagt, Raju. Was bin ich für ihn? Nichts weiter als nur eine Frau, eine Frau, die nicht in dieses Land gehört.“

„Ich habe heute Morgen den restlichen Whisky weg gegossen. Es kommt keiner mehr ins Haus, versprochen!“

Mit zwei Fingern streichelt Raju ihr Gesicht, und er spürt, wie sie sich dagegenlehnt. Drüben jedoch klappert Ashim mit der Heckenschere, so dass Barbara ganz schnell von ihm abrückt. Raju hockt auf den Fersen, beide Arme um die Knie geschlungen.

„Du, ich habe eine Idee“, sagt er so hin.

„Sag’s mir.“

Raju schüttelt den Kopf. So mag er es: Wenn er eine freudige und gute Überraschung für sie hat, dann spannt er sie gerne auf die Folter. Früher konnte er sie betteln lassen wie ein Kind, bis sie es ließ und nicht mehr fragte und so tat, als hätte sie es vergessen. Er möchte sie auch jetzt noch eine Weile hinhalten, doch er besinnt sich und sagt:

„Ich möchte mit dir einen Ausflug machen, Bärbel. Nur mit dir, ohne die Mutter, ohne die beiden anderen. Einen längeren Ausflug, von, sagen wir: einen Ausflug von vielen Tagen, wie man in Deutschland Urlaub mache ...“

Wieder schiebt er seine Unterlippe vor, und er sieht sie an, als sähe er sie zum ersten Male, mit staunenden Augen und voller Begehren. Raju sagt:

„Wir haben einen neuen Lebensabschnitt begonnen – es könnte etwas Ähnliches wie eine Hochzeitsreise sein. Ja, eine Hochzeitsreise, Barbara, weil wir sie damals nicht machen konnten!“

Barbara weiß, dass Raju versucht, etwas gut zu machen. Sie schaut ihn lange und mit großen Augen an, so dass er unsicher wird, ihren Blick nicht mehr aushalten kann und sich abwendet, ein Blatt vom Strauch rupft und darauf kaut. Weil sie stumm bleibt, fragt er:

„Du sagst nichts. Magst du nicht? Ich dachte, dass wir für ein paar Tage Kurzurlaub machen und ein Tierreservat besuchen. Könnte dir das gefallen? Seitdem wir hier wohnen, hat es immer wieder Aufregungen gegeben. Ich denke, eine Reise, die könnte uns beiden gut tun.“

Sie lässt alles, was sie festgehalten hat fallen: Gartenhandschuhe und zusammengedrückte, verwelkte Blüten. Beide Hände ihm entgegenstreckend ruft sie, und wieder röten sich ihre Augen etwas:

„Ja, ich mag, Raju. Ich mag es sehr Eine Reise, Raju, aber keine Hochzeitsreise, für so etwas sind wir beide zu alt, wir haben den Zeitpunkt verpasst. – Aber so lange vom Haus fort sein ... Und an welches Reservat hast du gedacht?“

„Weit, weit, du kleine Gazelle, an ein Reservat in den Bergen, bis nach Nepal, nach Bhutan hinauf.“

„Raju! So weit?“ Vor Schreck hält sie sich den Mund zu. „Mit dem Auto?“

„Ja, mit dem Auto. Bequem ist es nicht, aber wir sind frei. Im Zug nach Varanasi war es ja auch nicht überwältigend, oder? Die vielen Menschen, ihr Gestank, das ewige Palavern, die plärrenden Kinder ... Nein, wir fahren mit dem Auto, und, Bärbel, alles, was für den Besuch des Tierreservats nötig ist, das habe ich schon übers Fremdenverkehrsamt besorgt.“

Barbara sieht ihn mit offenem Mund an, sie weiß nichts darauf zu sagen. Und wieder langt er nach ihrer Hand, und obwohl Ashim ganz in der Nähe steht und zusieht, wie die beiden einander gegenüberhocken und die Memsabib aussieht, als hätten sie alles um sich herum vergessen, drückt Raju seine vollen und weichen, seine warmen Lippen auf ihre Hand. Erleichtert und wie ein übermütiger Junge springt er in die Höhe, um dem Chauffeur Anweisungen zu geben, dass er das Auto für eine längere Reise herrichtet.

„Raju, und wann soll es losgehen?“

Barbara richtet sich auf, sie stemmt eine Hand in den steif gewordenen Rücken.

„Anfang der nächsten Woche, ja, bald schon, ich denke in sechs Tagen“, ruft Raju zurück. „Das müsste möglich sein. Es gibt nichts, was uns daran hindert!“

Sein Vorschlag hat Barbara so überrascht, dass sie ratlos da steht und nichts mehr zu sagen weiß. Sie malt sich aus, wie es in diesem Haus zugehen wird, wenn keine ordnende Hand da ist. Kann sie es der alten Schwiegermutter, kann sie es Rajus Bruder und seiner Frau überlassen?

Wenn Raju meint, dass es möglich ist, ja, dann will sie es versuchen und mit ihm für ein paar Tage in die Berge fahren.

Raju und Barbara

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